Die Businesselite legt das politische Leben lahm
Es war US-Präsident Roosevelt, der im Jahr 1933 die Tradition der sogenannten 100-Tage-Frist begründete, einer Art Schonfrist bis zur ersten Bilanz nach Amtsantritt. Der marokkanische Premierminister Aziz Akhannouch beschloss, es Roosevelt gleich zu tun und an eine Tradition anzuknüpfen, die sich in der marokkanischen Politik inzwischen etabliert hat: Über die öffentlichen Medienkanäle wandte sich Marokkos neuer Premier an die Marokkanerinnen und Marokkaner, um die Ergebnisse seiner ersten drei Monate Regierungsarbeit vorzustellen.
Wer seinen Auftritt verfolgt hat, wartete vergeblich darauf, in Akhannouchs Worten Hinweise darauf zu finden, seine Partei Unabhängige Nationalversammlung (Rassemblement National des Indépendants, RNI) hätte Wahlversprechen nicht eingehalten. Diese waren nicht nur mit Blick auf das Wahlprogramm anderer Parteien vergleichsweise ambitioniert, sondern auch wenn man sich anschaut, was das neue Regierungsbündnis aus RNI, der Partei für Authentizität und Modernität (PAM) und der „Istiqlal“-Partei bislang davon umgesetzt hat.
Dabei herrschen innerhalb der Parteienkoalition ein für marokkanische Regierungen bisher ungekanntes Maß an Einvernehmen und Konsens. Doch mit keinem Wort ging Premier Aziz Akhannouch im Interview auf seine Wahlversprechen ein. Er wirkte selbst nicht wirklich überzeugt von seinen Worten - wie soll man so die Marokkanerinnen und Marokkaner davon überzeugen, dass die Regierung auf dem richtigen Kurs ist?
Die Welt der Wachstumsraten und Prozentsätze
Geschäftsmann Akhannouch sprach vor allem über die Wirtschaft und eine Wachstumsrate von 3,2 Prozent - statt der im Wahlprogramm angekündigten 4 Prozent. Selbstredend fällt auch die Zahl der Arbeitsplätze dadurch geringer aus als ursprünglich versprochen.
Akhannouch sprach über soziale Themen und unterstrich die Pläne des Königshauses, den marokkanischen Sozialstaat weiter auszubauen. Er signalisierte die Zustimmung der Regierung zu diesem Vorhaben, das elf Millionen Marokkanerinnen und Marokkanern mit einer Kranken- und Rentenversicherung versorgen soll.
Bei der Beschäftigungspolitik hat die Regierung in kurzer Zeit das Programm "Awrach“ weiter ausgebaut, das mit einer finanziellen Ausstattung von 2,25 Milliarden Dirham 250.000 Arbeitsplätze jährlich schaffen soll.
Während der Premierminister aus der Oberschicht mit Zahlen um sich zu wirft und sich mit Prozentsätzen schmückt, ist es ihm nicht gelungen, der Politik seiner aktuellen „liberalen“ Regierung und dem Geist seiner Partei RNI neues Leben einzuhauchen. Monate nach seiner Amtsübernahme im September 2021 herrscht immer noch Stillstand auf der politischen Bühne des Landes. Dieser Stillstand steht in scharfem Kontrast zum schillernd-dynamischen Auftreten der Partei im Wahlkampf und davor, als noch die Vorgängerregierung, die konservativ-islamistische Partei PJD an der Macht war.
Selbst Aziz Akhannouchs offizieller Auftritt in den sozialen Medien hat deutlich an der Aktivität, Reaktionsfreudigkeit und Schlagkraft eingebüßt, die er in seinen Tagen als Minister unter der Vorgängerregierung noch an den Tag zu legen pflegte.
Und so scheint sich die Frage der Kommunikation zur ersten großen Hürde, ja vielleicht zu einer Sackgasse für diese Regierung zu entwickeln: Die groß angelegte Kampagne in den sozialen Netzwerken, die mediale Wahlkampfstrategie - was einst als das Erfolgsgeheimnis der Partei galt, stellt sich für die Regierung nun als Ballast heraus, einem verworrenen Knoten gleich, den zu entwirren man noch nicht in der Lage war.
Tatsächlich ist die öffentliche Debatte wenig inspirierend, abgesehen von ein paar verbalen Fauxpas und Verwaltungsfehlern des einen oder anderen Ministers, die in den sozialen Medien einiges an Spott ernteten. So etwa ging es dem Regierungssprecher für seine Äußerungen in der Debatte um die gesetzliche Zeitumstellung und in der Causa "angestellte Lehrer“ oder dem Justizminister, der seine königliche Hoheit nachdrücklich um die Begnadigung der noch inhaftierten Anhänger der Hirak-Bewegung ersuchte, die aus den Protesten im Rif-Gebirge entstanden war.
So schnell gab es noch nie Proteste gegen eine neue Regierung
Eines zeigt sich inzwischen klar: Der Milliardär Aziz Akhannouch, der nun die Geschicke des Landes führt, tut dies mit der Mentalität eines Geschäftsmanns. In seiner Welt kommt es mehr auf Handeln und Leistung denn auf Rhetorik und Kommunikation an - es geht darum, Renditen einzufahren und Gewinne zu erwirtschaften.
Dies wurde in mehr als einer Entscheidung seiner Regierung deutlich. So beispielsweise in dem kurzfristig gefassten Beschluss, dass öffentliche Einrichtungen nur noch mit Impfnachweis betreten werden dürfen, obwohl es bis heute in Marokko keine allgemeine Impfpflicht gibt.
Breite Proteste formierten sich daraufhin, auch seitens ganzer Berufsgruppen, so regte sich beispielsweise Widerstand unter Anwälten. So wurde Akhannouchs Regierung als erste marokkanische Regierung bereits nach ein paar Wochen im Amt mit Demonstrationen auf den Straßen konfrontiert.
Mit Unmut wurde auch die Entscheidung des Bildungsministers aufgenommen, die Altersgrenze für den Berufseinstieg als Lehrerin oder Lehrer auf 30 Jahre zu senken. Vorher lag sie bei 40 bis 45 Jahren. Das ist eine historisch beispiellose Entscheidung in der Geschichte Marokkos. Dennoch machte der Minister keinerlei Anstalten, seine für das Bildungswesen zentrale Entscheidung zu rechtfertigen. Gerade das Bildungswesen stellt seit jeher für viele sozial Benachteiligte das Tor zum sozialen Aufstieg dar - in kaum einem anderen Bereich haben Regierungsbeschlüsse derart weitreichende Auswirkungen. In dieser Entscheidung zeigt sich, dass wesentliche Bereiche des Staates unter Missmanagement leiden, ganz zu schweigen davon, dass die Partei des Premierministers etliche ihrer Versprechen von vor der Wahl – etwa zur Erhöhung der Lehrergehälter - gebrochen hat.
Zu den besonders brisanten Fragen gehört auch die Debatte um das Anstellungsverhältnis von angestellten Lehrern, die nicht verbeamtet sind, sondern auf Vertragsbasis angestellt werden. Sie sind finanziell schlechter gestellt als die verbeamteten Lehrer. Das unrealistische Wahlversprechen von einer Anhebung der Gehälter dieses Bildungspersonals auf 7500 Dirham im Monat, also um ein Drittel, hat sich in Rauch aufgelöst.
Den Marokkanerinnen und Marokkanern wurde Großes versprochen, doch nichts passiert: Sie hören von den ehrgeizigen Vorhaben einer Regierung, die sich aus Vertretern der großbürgerlichen Elite, nicht aus klassischen Politikern, zusammensetzt. Nicht einmal die Bezeichnung "Technokraten“ ist wirklich zutreffend, denn das sind Entscheidungsträger, die aufgrund ihrer Expertise und Fachkompetenz zu bestimmten Themen eine Positionen besetzen, was bei Aziz Akhannouchs Regierungsteam nicht der Fall ist. All dies erklärt die Stille im öffentlichen Diskurs und die abwartende Haltung auf der politischen Bühne.
Gute Kontakte zum Makhzen
Man hatte erwartet, dass sich die Dynamik des Wahlkampfes nach der Wahl fortsetzen, wenn nicht sogar verstärken würde. Doch das Gegenteil ist eingetreten. Dies erstaunt umso mehr, als der aktuelle Premierminister hervorragende Beziehungen zu König Mohammed VI. unterhält, auf die Unterstützung des Makhzen (der privilegierten königstreuen Elite, Marokkos "deep state“) zählen kann und mehr als genug Rückhalt in der Geschäftswelt und seitens der Presse, der Medien und zivilgesellschaftlicher Organisationen genießt. Hinzu kommt, dass er ein sehr überschaubares Regierungsbündnis hat: Zum ersten Mal besteht eine marokkanische Regierung aus nur drei Parteien. Die beiden großen Fraktionen, RNI, gegründet 1978, und die PAM, gegründet 2008, sind als verlängerter Arm des Makhzen einzuschätzen. Die Parteien ermöglichen es der königstreuen Elite, dem politischen Geschehen in Marokko ihren Stempel aufzudrücken.
Im Grunde hat Akhannouchs Regierung völlige Narrenfreiheit, denn sie ist die erste marokkanische Regierung, die ohne nennenswerte parlamentarische Opposition agieren kann. Nicht einmal von der Presse sind kritische Interventionen zu erwarten, hat man doch inzwischen auch noch die letzten unabhängigen Journalistinnen und Journalisten hinter Gitter gebracht.
Tatsächlich hat die Regierung in den ersten 100 Tagen ihrer Amtszeit das erreicht, wofür sie auf den Plan gerufen wurde: Sie hat sich der letzten Überreste eines aktiven politischen Lebens im Land inklusive Opposition entledigt. In der relativ kurzen Dauer, die sie das Land führt, hat sie bereits sieben Gesetzesentwürfe wieder zurückgezogen, die zuvor auf den Weg gebracht worden waren und in den Mühlen der gesetzgebenden Instanz langsam zermahlen wurden.
Da gab es Gesetzentwürfe zur "illegalen Bereicherung“ und zur "Besetzung öffentlicher Flächen“ und zur "Krankenversicherung für Familien“. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass diese Gesetzesvorlagen die Interessen derjenigen gefährden würden, die in der aktuellen Regierung eine goldene Gelegenheit sehen, ihre Einbußen aus der Regierungszeit der islamisch-konservativen PJD zu kompensieren.
Statt sich in die Tradition des US-Präsidenten Franklin einzureihen, hätte der Premierminister gut daran getan, sich zunächst die Worte Winston Churchills zu Gemüte zu führen: "Ein Politiker muss die Fähigkeit haben, vorauszusehen, was kommt, um dann zu erklären, warum es nicht so gekommen ist.“
© Qantara.de 2022
Übersetzt aus dem Arabischen von Rowena Richter
Mohamed Taifouri ist ein marokkanischer Politikwissenschaftler und Publizist. Er schreibt für namhafte arabische Zeitungen.