Der freie Geist von Al-Andalus
Die Künste im muslimischen Spanien zeichneten sich im Vergleich mit dem mittelalterlichen Europa durch ein größeres Maß an Freiheit aus. Das Album "Siwan" feiert die Musik und den Geist von Al-Andalus und belegt, dass die islamische Zivilisation zu den Grundpfeilern der westlichen Kultur gehört. Von Richard Marcus
Gemeinhin verbinden wir die Zeit zwischen dem Ende des Römischen Reiches und dem 15. Jahrhundert mit dem Begriff, der lange Zeit wie kein anderer für diese Epoche stand: "Das dunkle Zeitalter".
In unserer Vorstellung ist sie gekennzeichnet von der Ausbreitung vom "Schwarzen Tod", also der Pest, von Ignoranz und von Aberglauben.
Erst mit dem Beginn der Renaissance – wörtlich: "Wiedergeburt" – begannen die Europäer, so will es eine solche Kategorisierung, sich selbst aus dem Unrat emporzuziehen, um fortan große Kunst zu produzieren und die Lehren der antiken Philosophen wiederzuentdecken.
Entsprechend dieser Darstellungen der Historie könnte man den Eindruck gewinnen, die Zeitenwende wäre mehr oder weniger unvermittelt geschehen: Eines Morgens wachten die Menschen aus dem Schlummer der Ignoranz auf und betrachteten die Welt plötzlich mit anderen Augen.
Muslimisches Spanien - Keimzelle der Hochkultur
Tatsächlich aber war das Wissen der antiken Philosophie nie wirklich in Vergessenheit geraten und auch war das mittelalterliche Europa keineswegs überall in gleichem Maße in Ignoranz versunken. In Al-Andalus, dem Teil Spaniens, der bis 1492 von Muslimen regiert wurde, standen die Künste und das so genannte "verlorene Wissen" in höchster Blüte.
Alles nur Denkbare, vom Begriff der Null in der Mathematik über das philosophische Konzept des Selbst – im restlichen, christlichen Europa auf den Scheiterhaufen verbrannt – bis zu den bildenden Künsten und zur Musik, erlebte in den Stadtstaaten wie Córdoba und anderen Städten in der Region eine glanzvolle Blütezeit.
Muslime, Christen und sephardische Juden lebten in relativer Harmonie und es gab einen freien Austausch von Ideen und Lehren über die Grenzen der drei Glaubensrichtungen hinweg. Von hier aus sickerte später das Wissen, das die so genannte Renaissance befeuerte, nach Italien ein, nach Frankreich und den Rest Europas.
Ein großer Teil dieses Wissens ging verloren, als die spanische Inquisition das Land im festen Griff hatte. Häretiker und Ungläubige wurden verfolgt, Muslime und Juden wurden gezwungen, entweder zu konvertieren oder das Land zu verlassen.
Jene, die sich weigerten, kamen auf den Scheiterhaufen. Ein großer Teil der wundervollen Poesie und des musikalischen Erbes dieser Epoche konnte bewahrt werden.
Diese Musik ist es, die die Basis für eine beim deutschen Label ECM erschienene CD bildet, entstanden unter der künstlerischen Leitung des norwegischen Pianisten Jon Balke.
Ausgewogene Sammlung musikalischer Schätze
"Siwan", Titel der CD, bedeutet "Balance" in Aljamiado, der romanisch-arabischen Mischsprache, die im mittelalterlichen Andalusien gesprochen wurde. Das Album ist eine Sammlung von elf Stücken, neun davon Vertonungen von Werken großer Dichter aus Al-Andalus, musikalisch inspiriert durch die damalige Zeit.
Der Text des ältesten Stückes, "Thulathiyat" stammt vom Sufi-Mystiker Husayn Mansour Al Hallaj, der von 857 bis 922 lebte; "A la dina dana", geschrieben vom für seine Dramen und seine Prosa gefeierten Lope de Vega (1562-1635) dagegen zeigt, wie die Einflüsse der muslimischen Epoche die Reconquista überdauerten und noch bis ins "Siglo de Oro" reichten, dem "Goldenen Zeitalter" Spaniens.
Im der CD beiliegenden Booklet finden sich nicht nur Informationen zur Geschichte jedes Stückes und zu jedem Autor der vertonten Texte, sondern auch die Liedtexte selbst, sowohl in der Originalsprache wie in englischer Übersetzung.
Musik der "Vierten Welt"
Jon Balke hat seine musikalischen Wurzeln im Jazz ebenso wie in der Weltmusik; für Theater und Tanztheater komponierte er, doch auch Kammermusik findet sich in seinem Œuvre.
Zu den weiteren Musikern gehören die Sängerin Amina Alaoui, der Trompeter Jon Hassell und der Geiger Kheir Eddine M'Kachiche; auch diese drei sind durch viel Erfahrung und Talent prädestiniert für eine Einspielung wie die vorliegende.
Alaoui und M'Kachiche stammen aus Marokko bzw. Algerien und sind beide seit langem mit der Musik von Al-Andalus vertraut. Jon Hassell seinerseits beschäftigte sich mit der europäischen Musiktradition ebenso wie mit der Indiens.
So schuf er das, was er "Vierte-Welt-Musik" getauft hat: eine Musik ohne Grenzen, der es gelingt, Elemente aus der europäischen Klassik mit denen aus Pop, weltlicher wie geistlicher Musik aus aller Welt zu verschmelzen.
Sind diese vier so etwas wie der Kern der Gruppe, so reichen die musikalischen Erfahrungen der anderen am Projekt beteiligten Künstler von der traditionellen persischen Musik bis zur Alten Musik Europas, zu Barock und Renaissance.
Allen gemein ist ihnen aber, dass sie alle schon in ihrer früheren Arbeit mit der musikalischen Tradition der Iberischen Halbinsel in Berührung gekommen sind und beeinflusst wurden.
Vielseitige musikalische Traditionen
Was nun die Musik selbst betrifft, fällt es schwer, sie in Worte zu fassen. Ist man vertraut mit der Musik Nordafrikas, Spaniens und Persiens, oder auch mit der Musik der europäischen Renaissance, so dürfte man in jedem Stück Elemente all dieser Traditionen wiederfinden, und das unabhängig davon, in welcher Sprache sie gesungen wird.
Und in der Tat glaubt man beim Hören einiger der Stücke, sie schon einmal gehört zu haben, so wie lange bekannte Muster in neuem Kontext auftauchen und das musikalische Gedächtnis herausfordern.
Und doch handelt es sich bei alle Stücken um Originale, eigens für diese CD komponiert. Die Leistung Balkes und seiner Mitmusiker liegt darin, eine Musik geschaffen zu haben, die nachvollziehbar werden lässt, wie tief und wie weitreichend der Einfluss ist, den das muslimische Spanien bis heute auf Europa ausübt.
Wir erkennen, dass - all jenen zum Trotz, die uns etwas anderes weismachen wollen -, die islamische Zivilisation zu den Eckpfeilern der westlichen Kultur gehört. Wir erkennen die Philosophie und das Denken jener Zeit, wie sie in das musikalische Schaffen einflossen und deren Spuren wir hier und heute immer noch vernehmen können.
Die Schönheit des Gesangs von Amina Alaouis
Eines der größten Wunder der CD aber ist, abgesehen von der puren Schönheit der Musik, der Gesang Amina Alaouis. Auch wenn die anderen Musiker nicht weniger großartig sein mögen, so ist es vor allem ihre Stimme, von der die neun, nicht-instrumentalen Stücke der CD leben.
Je mehr weibliche Vokalisten ich aus verschiedenen Kulturen kennen lerne, die nichts mit der nordamerikanisch geprägten Popmusik zu tun haben, desto mehr meine ich, zu erkennen, warum ich immer das Gefühl hatte, dass dieser Musik etwas Entscheidendes fehlt.
In Alaouis Stimme findet sich einfach nicht diese Verspannung und nichts Kontrolliertes, nichts von dem ehrgeizig 'Erzwungenen', an das wir uns in unserer eigenen musikalischen Tradition so gewöhnt haben.
Obwohl ich die technische Fertigkeit einer ausgebildeten Opernstimme immer bewundert habe, sorgte das Fehlen menschlicher Wärme dafür, dass sie mich oft nicht wirklich berührte. Alaouis Stimme dagegen ist in technischer Hinsicht brillant, verfügt jedoch zugleich über eine Wärme, die den Opernstimmen allzu oft fehlt.
Weich wie Samt vermittelt ihre Stimme die Reinheit menschlicher Gefühle, die es uns erlaubt, sich mit ihren Liedern zu identifizieren, selbst wenn wir die Sprache, in der sie singt, nicht zu verstehen vermögen.
Mysteriöses Wiedererkennen
Carl Jung sprach von der Idee des "kollektiven Unbewussten", in dem wir uns an Dinge "erinnern" können, die tausende Jahre in die Vergangenheit reichen und in unseren Träumen wieder auftauchen. Während einige dieser Dinge nach Jung bestimmten prägenden Faktoren unterworfen sind, wie Religion oder Sprache, so gibt es doch auch jene, die allen Menschen gemein sind.
In gewisser Hinsicht gehört "Siwan" zu diesem "kollektiven Unbewussten", erkennen wir es doch, ohne auch nur ein einziges der Stücke zuvor gehört zu haben.
Doch am wichtigsten bleibt, dass die Musik auf dieser CD wundervoll gesungen und gespielt wird. Es spielt keine Rolle, was man über den historischen Hintergrund weiß oder nicht weiß, noch nicht einmal, ob man sich für die kulturellen Bezüge interessiert oder nicht.
Dieses Album zu hören, geht weiter über solcherlei Fragen hinaus und beweist damit einmal mehr, dass unabhängig von dem, was einer denkt oder tut, große Kunst in einer Welt für sich existiert.
Richard Marcus
© Qantara.de 2009
Richard Marcus gibt das "Epic India Magazine" heraus, eine Online-Zeitschrift für Kunst und Kultur mit einem Fokus auf Südostasien und Indien. Seine Texte erschienen in so unterschiedlichen Veröffentlichungen wie dem deutschen Magazin "Rolling Stone" und "The Bangladesh Star".
Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Qantara.de
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