Syrische Staatsfolter vor Gericht 

Ein neuer dreisprachiger Sammelband beleuchtet die jüngsten Bemühungen, Ansätze von Gerechtigkeit für die Verbrechen in Syrien zu schaffen. Das Buch zeigt unterschiedliche Perspektiven auf die Prozesse in Koblenz sowie Geschichte, Kontext und die Grenzen dieser juristischen Expedition. Von René Wildangel

Von René Wildangel

Am Anfang des neuen Bandes "Syrische Staatsfolter vor Gericht“ stehen mehrere Fotos von Frauen, die mahnend Porträts ihrer Angehörigen hochhalten – Verschwundene, Opfer des syrischen Folterregimes, deren Schicksal vielfach bis heute ungeklärt ist. "Mehr als 130.000 immer noch gewaltsam verschwunden“, steht auf einem Plakat. "Wo sind sie?“ auf einem anderen und "No normalisation with Assad!“.

Die von Wolfgang Kaleck und Patrick Kroker vom Berliner European Centre for Constitutional and Human Rights (ECCHR) herausgegebene Aufsatzsammlung beginnt mit der Geschichte der palästinensisch-stämmigen Syrerin Ruham Hawash. Sie erzählt, wie sie im März 2012 verhaftet wurde. Wie viele Syrerinnen ging sie damals auf die landesweiten Demonstrationen und hoffte auf einen Erfolg der syrischen Revolution.



Nach ihrer Verhaftung wurde sie über Monate vom Staatssicherheitsdienst in die berüchtigte "Al-Khatib“ Abteilung in Damaskus einbestellt, dort festgehalten, befragt und erniedrigt. Sie wurde im Ungewissen gelassen, was mit ihr passiert; mit Folter, Verschwindenlassen oder Schlimmerem musste sie dabei stets rechnen. 

Hawash wird schließlich zur Ausreise gezwungen – damit entkommt sie zwar der physischen Folter oder noch Schlimmerem, aber nicht den psychologischen Wirkungen des Terrors. Hinzu kommt das schlechte Gewissen der Überlebenden: Sie beschreibt, wie sie jahrelang dachte, was sie erlebt habe, sei kaum erwähnenswert angesichts der Brutalitäten, denen andere ausgesetzt seien.

Eine Aussage vor Gericht kann befreiend sein

Erst als sie von Anwälten des ECCHR bestärkt wird, in einem gerade in Deutschland beginnenden Prozess gegen syrische Kriegsverbrecher auszusagen, setzt sie sich wieder mit ihren schlimmen Erfahrungen auseinander.

Cover von Syrische Staatsfolter vor Gericht hrsg von der Bundeszentrale für politische Bildung; Quelle: BpB
Die in dem von Wolfgang Kaleck und Patrick Kroker vom Berliner European Centre for Constitutional and Human Rights (ECCHR) herausgegebenen Band versammelten Beiträge erlauben ein umfassendes Bild der Prozesse, die in Deutschland zur Aufarbeitung von Unrecht in Syrien stattgefunden haben. Sie vermitteln ein bewegendes Bild der syrischen Hoffnungen, des unermüdlichen Einsatzes engagierter Juristinnen und Juristen, sowie der Zivilgesellschaft, aber auch der anhaltenden Skepsis mit Blick auf die Erfolge. Dennoch sind die Prozesse ein Meilenstein für alle Opfer des syrischen Regimes und weisen weit über Syrien hinaus.





Diese Retraumatisierung durchleben alle Opfer von Folter. Allerdings beschreibt Hawash auch, wie befreiend das Gefühl war, vor einem deutschen Gericht auszusagen.

Nicht nur angesichts des individuell erlittenen Unrechts, sondern stellvertretend für alle ungesühnten Verbrechen des Regimes – und für jene Betroffenen, die nicht anreisen konnten oder jene, die noch heute in den syrischen Foltergefängnissen sitzen. "Ich habe dadurch ein Stück meiner Würde wiederbekommen“, sagt Hawash.  

Die Auswahl dieses Beitrages und der Fotos mit Angehörigen der Verschwundenen sind kein Zufall: Bewusst stellen die Herausgeber vom ECCHR die Stimme und die Perspektiven von Betroffenen an den Anfang.



Damit machen sie klar, worum es in diesem Buch geht: Nicht um eine Fachdiskussion unter Juristen, sondern um eine Betrachtung der gemeinschaftlichen Anstrengung, wie sich die herrschende Straflosigkeit in Syrien begegnen und – ein großes Wort angesichts der horrenden Verbrechen - "Gerechtigkeit“ anstreben lässt.



Dafür setzt sich eine Vielzahl von Personen und Organisationen ein: Neben den Expertinnen und Anwälten des ECCHR und weiterer Organisationen auch die insbesondere in Deutschland zahlreich vertretenen Opfer syrischer Menschenrechtsverbrechen, sowie die beteiligten syrischen Juristinnen und Menschenrechtsaktivisten. Sie alle kommen in diesem Band zu Wort. 

Die außergewöhnlichen Prozesse, um die es hier geht, fanden von April 2020 bis Januar 2022 vor dem Oberlandesgericht Koblenz statt: Vor Gericht standen zwei Mitglieder des syrischen Staatsapparates, angeklagt wegen ihrer Mitverantwortung für systematische Menschenrechtsverletzungen.



Im Februar 2021 wurde zunächst Eyad A. wegen Beihilfe zur Folter zu viereinhalb Jahren Gefängnisstrafe verurteilt, was bereits als historisches Urteil gesehen wurde; gewichtiger war der im Januar 2022 erfolgte Schuldspruch gegen Anwar R., einen ehemaligen Oberst und Vernehmungschef der berüchtigten "Abteilung 251“ des syrischen Geheimdienstes - der "Al-Khatib-Abteilung“, in der auch Ruham Hawash gedemütigt wurde.



Als Beschuldigten sah sie ihn nun Jahre später im Gerichtssaal wieder. Er wurde schließlich wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt: 27 Morde und 4000 Fälle von Folter konnten ihm nachgewiesen werden.

Grundlage der gefällten Urteile war das in Deutschland geschaffene Völkerstrafrecht, das es möglich macht, besonders schwere Menschenrechtsverbrechen zu verfolgen, die zwar nicht in Deutschland begangen wurden, aber aufgrund ihrer Schwere eine universelle Bedeutung haben.   

Vollständig abgeschlossen ist das jüngste Verfahren noch nicht, denn der Hauptangeklagte ist in Revision gegangen und die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft sowie ihrer europäischen Partnerbehörden gehen weiter. 

 

 

Kontext und Grenzen des Weltstrafrechts

Über die juristischen Details der Prozesse und den völkerrechtlichen Kontext informiert der Band in vier äußerst informativen Beiträgen im letzten Teil. Darunter ist auch ein kurzes Kapitel der beiden Herausgeber, das den Prozess und die Tätigkeit des ECCHR einordnet. Dabei machen sie auch deutlich, wo die Grenzen dieses Ansatzes liegen.



Zu keinem Zeitpunkt habe das ECCHR, ebenso wenig wie die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, die Erwartungen an diesen Prozess und das Völkerstrafrecht im Allgemeinen überladen wollen. "Koblenz ist nicht Nürnberg“, stellen sie bereits im Vorwort klar. Der Prozess sei eben nicht mit dem alliierten Hauptkriegsverbrecher-Prozess vergleichbar, der zentrale Verantwortliche vor Gericht stellen konnte. Im Gegenteil, Assad und viele Regimevertreter bekleiden nicht nur weiterhin ihre Ämter, sondern werden zunehmend wieder von der internationalen Gemeinschaft hofiert. 

Dieser Schatten schwebt sehr aktuell über dem Versuch, die Straflosigkeit zu beenden: Denn hier geht es nicht nur um vergangenes Unrecht, sondern um Unrecht, das weiterhin täglich geschieht. Und der Band erscheint nun zu einem besonders heiklen Zeitpunkt: Denn die politische Forderung "keine Normalisierung mit Assad“, die im Umfeld der Prozesse mit Blick auf die systematischen Verbrechen der syrischen Staatsführung erhoben wurde, war wohl noch nie so sehr in die Defensive gedrängt wie dieser Tage: Syrien ist auf Betreiben des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman in die Arabische Liga zurückgekehrt.

Mitte Mai wurde der syrische Präsident Assad erstmals nach der brutalen Niederschlagung der Proteste gegen seine Herrschaft wieder zu einem Gipfel der Arabischen Liga eingeladen. Im Kreis anderer Diktatoren wie Ägyptens Präsident Al-Sisi, dem saudischen Gastgeber Kronprinz Mohammed bin Salman oder dem tunesischen Autokraten Kais Saied fühlte er sich sichtlich wohl.  

Kritik musste er dort ebenso wenig fürchten wie eine Strafverfolgung für die unter seiner Verantwortung begangenen Verbrechen. Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verhindert Syriens enger Verbündeter Russland die Einschaltung des Internationalen Strafgerichtshofes oder die Schaffung eines Syrien-Tribunals.

Assad mit einem Vertreter der saudischen Regierung beim Gipfel der Arabischen Liga in Riad, Mai 2023; Foto: SANA/REUTERS
Assad beim Gipfel der Arabischen Liga in Riad: Die politische Forderung "keine Normalisierung mit Assad“ war wohl noch nie so sehr in der Defensive wie dieser Tage: Syrien ist auf Betreiben des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman in die Arabische Liga zurückgekehrt. Mitte Mai wurde der syrische Präsident Assad erstmals nach der brutalen Niederschlagung der Proteste gegen seine Herrschaft wieder zu einem Gipfel der Arabischen Liga eingeladen. Im Kreis anderer Diktatoren wie Ägyptens Präsident Al-Sisi, dem saudischen Gastgeber Kronprinz Mohammed bin Salman oder dem tunesischen Autokraten Kais Saied fühlte er sich sichtlich wohl.  

Die Veranwortlichen sind in Amt und Würden

Aber die Tatsache, dass im Fall von Syrien bis heute keine Strafverfolgung der Hauptverantwortlichen möglich war, habe paradoxerweise zu einer besonders kreativen Energie in diese Richtung geführt, so die amerikanische Beauftrage für das Völkerstrafrecht, Beth van Schaack, in ihrem Vorwort: So habe die UN-Generalversammlung der Vereinten Nationen den "Internationalen, Unabhängigen und Unparteilichen Mechanismus“ (IIIM) eingerichtet, um die Ermittlungen der Untersuchungskommission des Menschenrechtsrates und weiterer Institutionen zu unterstützen.



Auch die Wiederbelebung des relativ jungen Feldes des Völkerstrafrechtes in Bezug auf Syrien sieht sie als Folge – und hier können immerhin konkrete Ergebnisse erzielt werden. 

Die Wirkung der Koblenzer Prozesse sieht einer der involvierten syrischen Anwälte, Anwar al-Bunni, daher auf drei Ebenen: Sie haben erstens eine Botschaft an die Opfer und Überlebenden mit einer Hoffnung auf Gerechtigkeit gesendet; zweitens haben sie den Verantwortlichen des syrischen Regimes signalisiert, dass es keine Straflosigkeit geben wird; und drittens der "ganzen Welt“ angesichts des weiterexistierenden Systems der Unterdrückung in Syrien.



So wird Bunni von der syrischen Juristin Mariana Karkoutly zitiert, die die Perspektive der Betroffenen in ihrem Beitrag durch zahlreiche weitere syrische Stimmen ergänzt. Sie betont, wie wichtig die Prozesse als eine Gelegenheit für Syrer waren, Gerichtssäle als etwas Positives wahrzunehmen, nachdem sie in Syrien lediglich ein demütigender Bestandteil des Unrechtssystem sind.  

Einen Endruck von der emotionalen Belastung nicht nur für die unmittelbar Betroffenen vermittelt der Beitrag von Hannah El Hitami, die den Prozess als Reporterin aus der Nähe begleitet hat. Der mittlerweile in Berlin ansässige syrische Intellektuelle und Dissident Yassin Haj Salah besticht mit einer tiefgründigen philosophischen Betrachtung der verschiedenen Dimensionen von Folter und wie das syrische System sie seit Jahrzehnten einsetzt. Haj Salah weiß wovon er redet, er saß in den 1980ern selbst in Haft.

 

 

Die Regime-Propaganda aufgebrochen

Auch die Schriftstellerin Rosa Yassin Hassan erinnert an die seit Jahrzehnten omnipräsente Gewalt des syrischen Regimes, die stets von Rechtfertigungs-Propaganda und dem Versuch der Verdrängung begleitet wurde. Erst die Koblenzer Prozesse, so Hassan, hätten für sie die Lähmung und das "narrative Rauschen“ rund um Syrien aufgebrochen – der sterile Gerichtssaal und die auf Tatsachen basierende Umgebung ließen keinen Raum für die ansonsten so wirkmächtige Regime-Propaganda.

Damit setzt sich auch die prominente syrische Juristin Joumana Seif auseinander – auch sie stellt heraus, wie wichtig es war, dass in den Prozessen nicht nur individuelle Schuld benannt, sondern das Regime als totalitär eingestuft wurde. Genauso wichtig war es, dass auf die Massenmorde von Hama im Jahr 1982 eingegangen wurde sowie auf die systematischen staatlichen Menschenrechtsverbrechen seit Beginn der Revolution in 2011. Ergänzt werden diese Analysen von einem Beitrag zu Khaled Barakeh’s "Mute“-Installation und den Gerichtszeichnungen des Künstlers Nasser Hussein.  

Die im Band versammelten Beiträge erlauben ein umfassendes Bild der Prozesse, die in Deutschland stattgefunden haben und der Aufarbeitung von Unrecht in Syrien, die immer noch am Anfang steht. Sie vermitteln ein bewegendes Bild der syrischen Hoffnungen, des unermüdlichen Einsatzes engagierter Juristinnen und Juristen, sowie der Zivilgesellschaft, aber auch der anhaltenden Skepsis mit Blick auf die Erfolge.



Dennoch sind die Prozesse ein Meilenstein für alle Opfer des syrischen Regimes und weisen weit über Syrien hinaus. Die Tatsache, dass dieses wichtige Buch nun auch gleich auf Arabisch erscheint, birgt die Chance, dass der Kampf gegen die Straflosigkeit auch noch mehr Beachtung in der arabischen Welt und nicht zuletzt der syrischen Zivilbevölkerung findet. 

René Wildangel

© Qantara.de 2023

Wolfgang Kaleck/Patrick Kroker (Hrsg./eds.), Syrische Staatsfolter vor Gericht/Syrian State Torture on Trial, Bundeszentrale für Politische Bildung 2023, 620 S.