Von der "Syrienisierung" der Welt
Im Kontext des Syrien-Krieges spricht Yassin al-Haj Saleh gerne von der "Syrienisierung" der Welt. Damit ist vor allem die Tatsache gemeint, welche verschiedenen Sphären der Konflikt in den letzten Jahren erreicht hat, denn mit der Revolution in Syrien ist vieles verbunden. Und das Land ist inzwischen zu einem Schachbrett der Großmächte geworden. Alle mischen mit, seien es nun regionale Mächte wie Iran, Türkei und Saudi-Arabien oder westliche Akteure wie Europa, die Vereinigten Staaten oder Russland.
Hinzu kommt die humanitäre Katastrophe, die Millionen von Syrern zur weltweit größten Gruppe von Menschen auf der Flucht gemacht hat. Die Folgen des Krieges sind deshalb auch in vielen europäischen Städten allein aufgrund der Präsenz dieser Geflüchteten deutlich.
Doch abgesehen von dieser geopolitischen Dimension des Syrienkrieges gibt es noch viel mehr, allen voran das Schicksal jener Syrer, die so zahlreich gegen das diktatorische Assad-Regime aufbegehrten und dafür vieles verloren.
Sympathie für den Teufel
Es sind genau diese Syrer, auf die auch Salehs Analyse fokussiert - Menschen, die sich gegen ein despotisches System stellten, gegen ein Regime, dessen Menschenfeindlichkeit man nur bekämpfen konnte. Die syrische Revolution ist kein Mythos, so Saleh. Sie war real und wurde schließlich brutal niedergeschlagen, während die Weltöffentlichkeit wegsah.
Heute steht fest: Kein Akteur in Syrien, nicht einmal der IS, hat so viele unschuldige Menschen ermordet wie das Assad-Regime und dessen Verbündete. Zu diesem Fazit kommen sämtliche Menschenrechtsorganisationen und internationale Beobachter in Syrien.
Doch dass auch diese mahnenden Stimmen ignoriert werden, hat - laut Saleh - vor allem mit der Sympathiebekundung des Westens gegenüber einem menschenverachtenden Regime zu tun. Der stets akkurat gekleidete Assad und sein korrupter Mörderclan erscheinen nämlich auch in Europa oder in den USA vielen Menschen als sympathischer, verhandlungsbereiter, ja, man könnte sogar sagen vertrauter, als alljene, die einen "islamischen Mantel" tragen. Anders lässt sich das permanente Wegsehen nach den Massenmorden von Aleppo, Idlib oder Ghouta wohl nicht erklären.
Der Sieger ist und bleibt das Regime, dessen Brutalität Saleh als einstiges Mitglied der kommunistischen Partei am eigenen Leib erfahren musste, als man ihn 1980 für ganze 16 Jahre ins Gefängnis steckte. Ein Jahr davon verbrachte er in den berühmt-berüchtigten Folterkerkern von Tadmur, wo Tausende von Syrer verschwanden und seitdem nie wieder aufgetaucht sind.
Ein Chronist der syrischen Revolution
Seit Beginn der Revolution ist Saleh einer ihrer führenden Kämpfer. Seine Waffe für Demokratie und Freiheit war von Anfang an die Feder. Gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Menschenrechtsaktivistin Samira Khalil, zog er von Stadt zu Stadt, von Versteck zu Versteck, und wurde dadurch zu einem unentbehrlichen Chronisten der Revolution und der nachfolgenden kriegerischen Konflikte.
Die Schriften in Salehs Buch entstanden hauptsächlich in seiner Heimatstadt Raqqa, in Damaskus und Douma sowie im Exil in Istanbul. Auch in jener Zeit wiederfuhr Saleh eine persönliche Tragödie: Seine Ehefrau Khalil wurde 2013 in Douma entführt – wahrscheinlich von der extremistischen Gruppierung "Jaish al-Islam", sie ist seitdem verschwunden.
Die Chroniken Salehs sind gleichzeitig auch eine Dekonstruktion der Kriegsnarrative des Assad-Clans und seiner kleptokratischen Gefolgsleute in Damaskus. Saleh findet für diese politische Elite des Landes, die aus Regime-Investoren und führenden Köpfen des Assad'schen Sicherheitspersonal besteht, die richtige Bezeichnung: Er sieht in ihnen "weiße Syrer", die die "erste Welt" in Syrien repräsentieren. Handelt es sich doch um eine Elite, die ihr privilegiertes Leben in der Damaszener Blase ungestört weiter führt, während ihr das Leid der Bevölkerungsmehrheit völlig gleich ist, ja, dieses Leid sogar noch befeuert.
Scharfe Kritik an der westlichen Linken
Es ist diese Realität, die deutlich macht, dass die gewaltigen gesellschaftlichen und politischen Disparitäten innerhalb der syrischen Zivilbevölkerung eine der Hauptgründe für die Entstehung der Revolution und den Krieg im Land gewesen ist. Als jemand, der sich selbst als linker Intellektueller betrachtet, geht Saleh vor allem mit vielen "Genossen" im Westen scharf ins Gericht, da diese sich bis heute schamlos auf die Seite des Assad-Regimes stellen.
Die Kritik trifft allerdings auch jene, die die syrische Revolution gekapert haben: allen voran dschihadistische Gruppierungen, wie die Al-Nusra-Front, deren nihilistischer Terror zerstörerische Ausmaße angenommen hat. Wie Saleh richtig feststellt, existieren in Syrien gegenwärtig wohl die besten Voraussetzungen dafür, um diesen Extremismus weiter gedeihen und wachsen zu lassen. Die vorherrschenden Umstände, sprich, die massive Gewalt des Regimes sowie die Ignoranz der westlichen Staatengemeinschaft, hat dazu geführt, dass viele Syrer, die einst eher säkular eingestellt waren, nur noch den "Glauben im Allmächtigen" bzw. den politischen Islam für sich entdecken.
Den wohl wichtigsten Punkt, den Saleh in seiner Argumentation anführt, ist die Tatsache dass die syrische Opposition auch weiterhin heterogen ist und eben nicht nur aus Extremisten von Al-Nusra und Co. besteht. Er betont hierbei, dass die Wurzel des syrischen Widerstandes von Beginn an friedlich gewesen sei. Die Bewaffnung von Teilen der Opposition fand nur statt, weil sie aufgrund der brutalen Gegenreaktion des Assad-Regimes notwendig wurde, so Saleh. Sie war daher als ein Schritt zur Selbstverteidigung notwendig. Und: Weite Teile dieser Opposition setzten sich auch noch im weiteren Verlauf dieser Eskalation für demokratische Verhältnisse in ihrem Land ein.
Es ist bedauernswert, dass im Westen sogenannte "Syrien-Experten" wie Robert Fisk oder Patrick Cockburn, die regelmäßig aus dem Schatten des Regimes in Damaskus berichten, scheinbar mehr Gehör finden als kritische Intellektuelle und Dissidenten wie Yassin al-Haj Saleh. Dabei sind sie es, die den westlichen Leser mit Realitäten, die - fernab von Schwarz-Weiß-Narrativen - die komplexen Vorgänge in Syrien analytisch genau und tiefsinnig in Worte fassen können. Allein dies sollte für uns ein Ansporn sein, Salehs Buch intensiv zu studieren – auch wenn man am Ende der Lektüre gewiss alles andere als optimistisch über die Zukunft Syriens urteilen mag.
Emran Feroz
© Qantara.de 2017