''Türkentum'' als Ideal
Die staatliche Politik gegenüber Minderheiten ist in der multiethnischen und -konfessionellen Türkei geprägt von Misstrauen und dem immer wiederkehrenden Vorwurf des Separatismus. Eine Bestandsaufnahme von Semiran Kaya
Offiziell werden in der Türkei heute nur jene Minderheiten als solche anerkannt, die im Vertrag von Lausanne aus dem Jahr 1923 benannt wurden. Doch obwohl im Original von "minorities" die Rede ist, werden in der Türkei nur drei Gruppen vom Staat als "nicht-muslimische" Minderheiten anerkannt: die Griechen, die Juden und die Armenier.
Andere "nicht-muslimische" Minderheiten wie Bulgarisch-Orthodoxe, Syrisch-Orthodoxe oder Chaldäer, die es damals noch gab, finden keine Anerkennung. Auch die evangelische Kirche, Sekten, wie die Zeugen Jehovas, und andere nicht-muslimische Religionsgemeinschaften finden keine Beachtung.
Der Grund liegt in der Vorstellung, dass alle Gruppierungen, die nicht zum sunnitischen Mehrheitsislam gehören, die Einheit der Republik gefährden könnten - ganz gleich, ob es dabei um andere Muslime wie Kurden, Lasen, Araber, Albaner, Aleviten oder um andere Minderheiten geht.
Auch die Sprache spielt eine bedeutende Rolle: Jeder, der neben dem Türkischen noch eine andere Regionalsprache spricht, könnte – so die Befürchtung - gleichfalls die Spaltung des Landes bewirken. Diese Angst hatte zur Folge, dass erst 81 Jahre nach Gründung der türkischen Republik Kurdischkurse für die 13 bis 15 Millionen Kurden zugelassen wurden.
Das Ideal des Türken
Denn Sprache gilt nicht nur als wichtigstes Kennzeichen der Nation. Man glaubt, so der Islamwissenschaftler Günter Seufert in seinem aktuellen Türkeibuch "Die Türkei. Politik, Geschichte, Kultur", dass Sprache die Identität des Volkes widerspiegele. Deshalb verteidige der Staat vehement sein Ideal vom Türken und Türkentum, wenn es um Minderheiten oder kulturelle Fragen gehe.
So wird aus jedem Bürger, gleich welcher Ethnie, ein "Türke" - eine Assimilationspolitik, die ethnische Konflikte mindern soll. Türkische Kritiker bezeichnen dies als Paranoia oder als "Syndrom von Sevres".
So erklärt sich aber auch, warum es einem Tabubruch auf Staatsebene gleichkommt, wenn sich die kurdische Politikerin und Menschenrechtsaktivistin Leyla Zana öffentlich im Parlament als Kurdin bezeichnet.
Der zwanzigjährige Krieg gegen die Kurden hat dem türkischen Nationalismus weiter Vorschub geleistet, die staatliche Türkisierung verschärft und die Vorurteile gegenüber ethnischen und kulturellen Gruppierungen weiter geschürt.
Beginn der Selbstkritik
Wissenschaftler der privaten Sabanci-Universität räumen heute ein, dass die Geschichte der Türkei ständig durch Nationalisten missbraucht wurde und werde, dass sich diese Tendenz jedoch in der akademischen Welt zu ändern begonnen habe. Selbstkritisch stellen sie fest, dass der türkische Nationalismus es geschafft habe, seine Ängste, Vorurteile und Feindschaften aus dem 19. Jahrhundert in die Gegenwart zu übertragen und Minderheiten aus diesem Grund noch immer mit Angst und Misstrauen betrachtet werden.
Doch auch Wissenschaftler staatlicher Universitäten setzen sich mittlerweile für einen kritischen und aufgeklärten Umgang mit den Minderheiten ein. So zum Beispiel der Politikwissenschaftler Baskin Oran von der Universität in Ankara:
"Man sagt, Kurden und Türken seien gleichberechtigt und Kurden könnten sogar Staatspräsident werden. Auf den ersten Blick stimmt es. Im Grunde aber ist es eine Farce. In diesem Land können Kurden oder Minderheiten zwar tatsächlich bis in die höchsten Ämter kommen, nur zahlen sie einen hohen Preis: Sie dürfen ihre wahre Identität nicht preisgeben."
Auch über die Religionsgemeinschaften wacht der Staat mit Argusaugen und macht deutlich: zu viel Religion gefährdet den Fortschritt, bei zu wenig appelliert er an die muslimische Identität.
"Separatismus im Namen der Religion"
So werden etwa die Aleviten, die als religiöse Minderheit gelten und mit 14 Millionen Menschen etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, als Muslime betrachtet, die erneut missioniert werden müssen, da sie den rechten Pfad des Islam verlassen hätten. Ein Viertel der Aleviten soll darüber hinaus kurdisch sein.
Die Gemeinden der Aleviten dürfen sich allerdings erst seit 2002 "alevitisch" nennen. Bis dahin galt wie für alle anderen auch der Vorwurf: Separatismus im Namen der Religion. Ein Jahr später, im Jahr 2003, wurde ihnen allerdings schon gestattet, ein "Präsidium für alevitischen Islam" zu gründen.
Doch auch die christlichen Minderheiten, die heute im Vergleich zur Gesamtbevölkerung nur etwa 0,01 Prozent ausmachen, das heißt etwa 100.000 Menschen (von einst 25 Prozent im Jahre 1918), werden nicht weniger benachteiligt. Sie dürfen weder Theologen im Lande ausbilden noch solche aus dem Ausland holen.
Auch ist es ihnen nicht erlaubt, neue Gemeindehäuser oder neue Kirchen zu errichten. Die Armenier sind als größte Gruppe zwar als religiöse Minderheit anerkannt, jedoch nicht als ethnische. Und auch wenn die armenische und die griechische Gemeinde ihre eigenen Schulen haben, so hat keine Gemeinde einen Rechtsstatus.
Für Pfarrer Dositheos Anagnostopoulos vom ökumenischen Patriarchat in Istanbul steht fest: "Will man mit der Türkei weiterkommen, muss man nicht einen ganzen Dialog, sondern einen halben, sprich einen 'Paradialog' führen."
Insgesamt zeichnet den Staat und die Gesellschaft ein sehr zwiespältiges Verhältnis im Umgang mit Minderheiten aus: Erhalten Mitglieder von Minderheiten eine internationale Auszeichnung, brüstet man sich gern mit ihrem Erfolg und macht sie zu "richtigen" Türken. Ansonsten jedoch misstraut man ihnen.
Semiran Kaya
© Qantara.de 2007
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