Emanzipation zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Die Verankerung von Frauenrechten und deren Anpassung an EU-Standards bleiben weiterhin ein Knackpunkt im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess der Türkei, wie Dilek Zaptcioglu berichtet.

Die Verankerung von Frauenrechten und deren Anpassung an Standards der Europäischen Union bleiben weiterhin ein Knackpunkt im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess der Türkei, wie Dilek Zaptcioglu aus Istanbul berichtet.

Türkische Frauen im Gespräch; Foto: dpa
Die Gleichberechtigung der Frau ist in der Türkei nach wie vor ein schwieriges und kontrovers diskutiertes Thema

​​"Die Familie ist die Grundlage der türkischen Gesellschaft. Sie beruht auf der Gleichheit von Mann und Frau" – so steht es im Artikel 41 der Verfassung der Republik Türkei.

Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist verfassungsrechtlich geschützt. Dennoch gehört dieses Thema jedes Jahr zu den Hauptkritikpunkten der Europäischen Union an der Türkei: Die Problematik findet ihren Niederschlag auch in der deutschen Öffentlichkeit – etwa in Form von Berichten über so genannte "Ehrenmorde" oder "Zwangsverheiratungen" von zum Teil minderjährigen Kindern.

Rechtsreformen im Anfangsstadium

Neben häuslicher Gewalt ist die Frau auch im Zusammenhang mit dem Islam ein großes Thema: Verhüllung des Körpers, Klassenreisen und Schwimmunterricht für muslimische Kinder, gemischtes oder nach Geschlechtern getrenntes Auftreten im öffentlichen Leben, und alles, was die Sexualität betrifft.

Im Zuge der Annäherung an die EU-Gesetzgebung hat die Türkei in den letzten Jahren viele Rechtsreformen vollzogen, die die rechtliche Situation der Frau verbessert haben. Eine Frau durfte bis vor wenigen Jahren formal nicht ohne die Erlaubnis ihres Ehemannes einen Beruf ausüben. Bei Heirat war der Nachname des Mannes verpflichtend.

Im Falle der Ehrenmorde wurde das "freizügige" oder "ungehorsame" Verhalten des weiblichen Opfers als "mildernder Umstand" gewertet. Es existierte keine Grundlage für einen Ehevertrag. Das Heiratsalter konnte per Gerichtsurteil auf zwölf Jahre gesenkt werden. Vergewaltigung in der Ehe war überhaupt nicht strafbar.

Frauenrechte nur auf dem Papier

Das alles hat sich in den letzten fünf Jahren geändert. Das Heiratsalter wurde auf mindestens 16 Jahre erhöht, und für Ehrenmorde sieht der Gesetzgeber keine mildernden Umstände mehr. Dennoch: Die Gesetze existieren erst einmal nur auf dem Papier. Bis sie umgesetzt werden, vergehen manchmal Jahrzehnte. Das Thema Frau bleibt ein Knackpunkt im Modernisierungsprozess der Türkei.

Umstritten ist beispielsweise, ob eine unverheiratete Frau wirklich mit einem Mann zusammenleben kann. Sollte eine Tochter ihren Ehemann selbst aussuchen dürfen? Können Frauen nach Einbruch der Dunkelheit noch auf die Straße gehen? Dürfen sie sich in einer Kneipe aufhalten? Und wie steht es um ihre Kleidung?

Im Istanbuler Vorort Bagcilar beschloss die Stadtversammlung, einen nur für Frauen zugänglichen Park zu errichten. Der AKP-Bürgermeister rechtfertigte seinen Plan damit, dass es "auch in Europa viele Frauencafés und andere Orte" gebe, die nur Frauen zugänglich seien. Eine Umfrage im Stadtviertel ergab, dass auch viele Frauen sich einen solchen Aufenthaltsort in der Öffentlichkeit wünschten, wo sie "ungestört unter sich bleiben" können.

Kemalistische Reformen zugunsten der Frauen

Dies trifft den Kern der gegenwärtigen Diskussion: Die so genannte "EU-Annäherung" verhilft der türkischen Frau nicht auf gleicher Weise zu ihren Rechten, wie etwa in den 30er Jahren die kemalistischen Reformen der städtischen Frau mit einem Mal das "Tor zur Freiheit" öffneten. Damals strömten Frauen in die Hörsäle der Bildungseinrichtungen, saßen auf Richterstühlen, in Arztpraxen und an Lehrerpulten.

Die moderne Türkin nahm sich die Europäerin oder die US-Amerikanerin als Vorbild. Türkinnen aus traditionellen Familien rebellierten gegen ihre Eltern, schritten stolz in selbst geschneiderten, modernen Kleidern auf die Straße, und sagten: "Auch wir Türkinnen können alles."

Der Staat und die gesamte politische Klasse unterstützten diesen Prozess. Auch wenn diese Frauenemanzipation nicht bis nach Anatolien durchdrang, so gab es doch einen breiten Konsens unter den Eliten und auch innerhalb der Bevölkerung.

Zwischen "moderner" und "traditioneller" Orientierung konnte klar unterschieden werden. Reaktionäre, fanatisch religiöse Ansichten wurden als "Spinnweben im Kopf" bezeichnet.

Das hat sich mittlerweile geändert. Erstens ist die Moderne nicht in jedem Winkel des Landes angekommen. Als besonders rückständig hinsichtlich der Frauenrechte kann das traditionelle kurdische Milieu bewertet werden: Vielehe, Zwangsverheiratung und Ehrenmorde gibt es unter Kurden deutlich mehr als unter Türken. Das Phänomen "Berdel", das heißt, dass ein Mann nach dem Tod seiner Frau mit deren Schwester verheiratet wird, ist mitunter eine kurdische Praxis.

Familie im Mittelpunkt

Die Hauptursache für diese rückwärtsgewandte Entwicklung ist aber, dass viele vom modernen Leben in den türkischen Metropolen und im Westen nicht mehr überzeugt sind. Diese Freiheit wird als Zerstörung des Gleichgewichtes der Geschlechter wahrgenommen, das nur Unheil bringt. Die Grundlage der Gesellschaft, die Familie, würde somit gefährdet.

Türkische Frauen mit ihren Kindern; Foto: Sirvan Sarikaya
Die Familie steht für viele traditionell orientierte türkische Frauen im Lebensmittelpunkt

​​Und diese prägt das Leben in der Türkei: Eine Existenz außerhalb des Familienrahmens ist äußerst schwer aufzubauen. Frauen werden in einer traditionellen, durchaus vom Islam inspirierten Kultur grundsätzlich anders wahrgenommen als Männer: Das Wesen, die so genannte "fitra" der Frau und des Mannes, seien unterschiedlich, so die Theologen. Daher können und dürfen Frauen nicht alles.

Doch dies ist eine von der westlichen Welt fundamental abweichende Sicht. Zerstörte Familien, Drogen- und Alkoholmissbrauch, sinnlose Gewalt und fehlender Respekt vor älteren Menschen werden den Gesellschaften im Westen nachgesagt. Daher fühlen sich viele in der Türkei, ob gläubig oder nicht, moralisch den Europäern überlegen.

In den türkischen Metropolen gibt es dennoch eine steigende Zahl von Frauen, die die traditionellen Schranken sprengen und ein selbst bestimmtes Leben führen. Sie sind in der Regel in einem toleranten Elternhaus groß geworden oder mussten sich ihren Weg zur Freiheit schwer erkämpfen.

Traditionalismus vor Unwägbarkeiten der Moderne

Doch Arbeitslosigkeit und fehlende Bildungsperspektiven versperren das "Tor zur Freiheit". Andere Frauen ziehen die Sicherheiten eines traditionellen Familienlebens den Unwägbarkeiten der Moderne vor: Ein Ehemann, der aus Angst sogar vor Verwandten oder Nachbarn lieber zuhause bleibt oder das Leben der Frau bis zum Ende finanziert, erscheint vielen Frauen als bequeme Alternative.

Die Verpflichtungen, die der Islam auf die Schultern des Mannes als den Ernährer, ja die Säule des Familienlebens auflädt, scheinen in diesem Licht wie der Garant einer intakten Ehe.

Am Ende des Weges steht aber immer die Freiheit, deren Kosten die Frau auch selbst trägt. Die größte Hürde dabei sind nicht veraltete Gesetze, sondern die eigenen Ängste der Frauen.

Andererseits zeigt die steigende Zahl der "Ehrenmorde", dass es eben immer mehr Ausbrecherinnen gibt, und dass die Männer nach Freiheit strebenden Töchtern und Ehefrauen mit großer Ratlosigkeit gegenüberstehen.

Dilek Zaptciolgu

© Qantara.de 2007

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