Am Abgrund
Aufflammende Kämpfe im Norden, Hungerrevolten und skandalöse Kindshochzeiten lenken derzeit das mediale Interesse auf ein augenscheinlich instabiles Land, das nicht erst seit gestern auf den Zerfall zusteuert. Aus Sana'a informiert Philipp Schweers.
Jemen, im öffentlichen Interesse eher unter "ferner liefen" rangierend und wahlweise als wild-orientalisches Stammesland überzeichnet oder als Hort und Heimat zähnefletschender Endzeitterroristen apostrophiert, rückte zuletzt eher unfreiwillig in die vorderen Reihen weltweiter Nachrichtenticker.
Auslöser dafür waren nicht allein boulevard-taugliche Meldungen über Zwangsverheiratungen blutjunger Mädchen im Grundschulalter oder Zweizeiler, die von Anschlägen auf ausländische Wohnkomplexe berichteten. Auch altbekannte Entführungsmeldungen ausländischer Touristen lassen bisher auf sich warten.
Der ärmste Staat der arabischen Halbinsel kämpft nicht nur mit wirtschaftlichen Turbulenzen, sozialen Missständen und galoppierendem Bevölkerungswachstum, sondern zunehmend auch mit sich selbst.
Neben blutigen Hungerprotesten, die die zunehmende Schieflage im jemenitischen System der ölfinanzierten Konsumsubventionen verdeutlichen, bedroht auch der immer tiefere Graben zwischen den beiden ehemaligen Teilstaaten die Stabilität.
Der Norden dominiert, der Süden driftet ab
Seit der Vereinigung von Nord- und Südjemen 1990, und insbesondere seit dem Bürgerkrieg 1994, wird der Staat politisch vom nordjemenitischen Stammesverband der Hashid dominiert.
Präsident Saleh, seit der Vereinigung und schon vorher im Nordteil herrschend und ebenfalls Hashidvertreter, etablierte Stück für Stück eine auf der Loyalität des eigenen Stammes basierende Herrschaftsstruktur, die systematisch konkurrierende Stämme an der vollen Machtbeteiligung hindert.
Insbesondere die als ausgesprochen stolz bekannten Stämme des Südens nehmen eine solche politische und oft auch wirtschaftliche Entmündigung ihrer selbst nicht hin und etablierten bzw. reaktivierten eigene Stammesstrukturen.
Selbst von Haus aus optimistische Entwicklungshelfer wie der deutsche GTZ-Repräsentant vor Ort, Dr. Thomas Engelhardt, sehen in diesem Auseinanderdriften der beiden Landesteile eine große Gefahr.
Failing State?
Die erwähnte einseitige Stammesdominanz in dem nach wie vor von tribalen Identifikationsmustern beherrschten Jemen, zusammen mit autoritärem Amtsstil der Regierung, hat zu einer nachhaltigen Schwächung der Zentralregierung geführt.
De facto herrscht diese nur im Kernland um die Hauptstadt Sana'a, dem nordjemenitischen Hochland. Wenig überraschend ist dieses zugleich Hauptsiedlungsgebiet der Hashid und befreundeter Stämme.
In anderen Landesteilen ist die Zentralregierung nur in Form von Straßensperren und Militärposten an strategisch und wirtschaftlich wichtigen Punkten präsent und wird von den örtlichen Stammesfürsten äußerst misstrauisch beäugt.
Um die Kontrolle über die noch sprudelnden Ölquellen zu behalten und um die Anlagen sowie die Verkehrswege zu schützen, nimmt das Militäraufgebot teils skurrile Züge an. So braucht man für eine ca. 600 km lange Überlandfahrt von der Hauptstadt Sana'a in die östliche Küstenstadt Mukalla auf gut ausgebauten Strassen an die 18 Stunden.
Ursache dafür sind die über 70 Straßensperren und Kontrollpunkte auf dem Weg, an denen Soldaten, in Baracken hausend und teils mit russischen Schützenpanzern eingegraben, jedes Auto penibelst kontrollieren.
Es herrscht Krieg
Am instabilsten ist die Lage derzeit in der Provinz Saada, rund zwei Stunden nördlich der Hauptstadt Sana'a. Dort herrscht seit 2004 ein offener und doch stiller Krieg zwischen Huthi-Rebellen und der jemenitischen Regierung.
Diese Rebellen, benannt nach ihrem 2004 bei Kämpfen getöteten Führer Hussein Badreddin al-Huthi, sind zum einen Anhänger eines schiitischen Islams im mittlerweile mehrheitlich sunnitisch-muslimischen Jemen.
Durch die sich zuletzt immer weiter vertiefenden Gegensätze dieser beiden Strömungen innerhalb des Islam, sieht sich die zaidistisch-schiitische Minderheit Jemens zusehends in der Defensive.
Zum anderen sind die Rebellen Mitglieder des ehemals machtvollen und heute fast einflusslosen Saidi-Stammes, der bis 1962 das zaidistische Imamat und somit die herrschende Kraft stellte und seitdem von der Macht verdrängt wurde.
Trotz intensiver katarischer Vermittlungsbemühungen, die im Juni 2007 und zuletzt im Februar 2008 zu Friedensabkommen zwischen Rebellen und Regierung führten, sind die Gefechte in den letzten Tagen wieder voll entflammt.
Nach einem Bombenanschlag in der Provinzhauptstadt Saada, bei dem 16 Menschen, davon sieben Regierungssoldaten, starben, weisen sich jeweils beide Seiten die Schuld für die neuerliche Eskalation zu.
So verschwommen die jeweiligen exakten Zielsetzungen in diesem Konflikt sind – sie reichen von Vermutungen zur gewünschten Restaurierung des Imamats von Huthi-Seite bis zur angeblich anvisierten vollständigen Verdrängung der Schiiten durch die Regierung (Präsident Saleh ist selbst Schiit) – so fraglich ist auch ein baldiger und dauerhafter Friedenschluss.
Eines allerdings ist sicher: dieser Konflikt hat Streuwirkung und destabilisiert Jemen nachhaltig.
Wirtschaftlicher Abwärtstrend
Über den politischen Konflikten innerhalb Jemens und diese wiederum wechselseitig verstärkend, droht die immer offensichtlicher werdende wirtschaftliche Schieflage des Landes. Die von Erdölexporten abhängige Ökonomie steht durch sinkende Förderquoten und schwindende Vorräte kurz vor dem Kollaps.
Glaubt man den Schätzungen ausländischer Förderunternehmen, dürfte diese Schlüsselressource innerhalb der nächsten acht Jahre aufgebraucht sein. Investitionen in zukunftsweisende Branchen wurden versäumt. Eine industrielle Basis ist nicht vorhanden.
Der hoffnungsvoll gehegte Tourismus hat nach einem tödlichen Bombenanschlag auf spanische Touristen im Sommer 2007 und einer Maschinengewehrattacke auf einen Touristenkonvoi im Januar 2008, bei dem zwei belgische Touristen starben, immense Einbußen hinnehmen müssen.
Das Bevölkerungswachstum des Jemen übersteigt das der Wirtschaft und die reale Arbeitslosigkeit liegt bei über 30 Prozent. Zusammen mit dem immer prekäreren Wassermangel, der sich zur existenziellen Bedrohung nicht allein für die Landwirtschaft entwickelt hat, zeichnet dies ein dunkles Zukunftsszenario.
Vor dem Kollaps?
Die Landesteile driften auseinander. Die Stammes- und Religionsgegensätze wachsen. Die Wirtschaft und mit ihr das nur rudimentär entwickelte soziale System steht vor dem Zusammenbruch. Im Norden herrscht Krieg. Auch essentielle Grundbedürfnisse wie die Wasserversorgung sind nicht mehr gesichert.
Um es mit den Worten des ausgewiesenen Jemenexperten Dr. Robert D. Burrowes von der Universität Washington auszudrücken: Kommt jetzt kein alles entscheidender Impuls, ist ein Abrutschen des Jemen in Anarchie à la Somalia oder Bürgerkrieg wie im Libanon nicht mehr aufzuhalten.
Philipp Schweers
© Qantara.de 2008
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