Ein Ort der Erinnerung an die Immigration
Die Menschen starben in den brennenden Moscheen der Damaszener Altstadt, in die sie sich vor den Bombardierungen durch die französische Armee geflüchtet hatten.
Mit "abstoßendem Zynismus", so heißt es in einem Kommentar einer kommunistischen Zeitung französischer Kolonialsoldaten im Juli 1926 weiter, feiere der französische Kolonialismus nun die Eröffnung einer großen Moschee im Pariser Jardin des Plantes: "Sie halten die Muslime für dumm, für Hunde, die man schlagen kann, die einem dann aber für ein Stückchen Zucker wieder aus den Händen lecken."
Die Geschichte dieser Widersprüchlichkeit der französischen Politik gegenüber Muslimen in Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien und Mandatsgebieten ist das Thema eines Buches, welches zu Beginn dieses Jahres im französischen Verlag Autrement erschienen ist.
In dem Buch "Le cimetière musulman de Bobigny. Lieu de mémoire d’un siècle d’immigration" nimmt die Journalistin Marie-Ange d’Adler die Geschichte des 1937 im Pariser Vorort Bobigny eröffneten muslimischen Friedhofs zum Anlass, die französische Politik gegenüber seinen Muslimen zu beleuchten.
"Beim Gang über den Friedhof", schreibt Adler, "durchschreitet man fast ein Jahrhundert muslimischer Auswanderung nach Frankreich. […] Jedes Grab steht für eine Entwurzelung, eine Verpflanzung, für eine Wiedererschaffung. Hinter den Tausenden Gräbern stehen Tausende Familien, die einen Teil des heutigen Frankreichs bilden."
Persönliche Geschichten
Anhand einzelner Lebensgeschichten von Personen, die auf dem Friedhof begraben sind, illustriert das Buch die unterschiedlichen Epochen dieser muslimischen Einwanderung nach Frankreich. So beschreibt d'Adler in kurzen Biographien, die sie in Archiven rekonstruiert hat, das Leben junger Soldaten, die während des Zweiten Weltkrieges aus nordafrikanischen Dörfern angeworben wurden und bei der Befreiung von Paris fielen oder während ihrer Inhaftierung in einem der deutschen Frontstalags verstarben.
Der größte Teil des Friedhofes aber erzählt die Geschichte von Einzelpersonen oder Familien, die sich aus unterschiedlichsten Gründen in Frankreich niederließen. Das Grab der algerischen Familie Zeroug, die im Jahr 1937 nach Frankreich auswanderte, steht dabei für die Vielfältigkeit der Erfahrungen, denen sich französische Muslime in den vergangenen Jahrzehnten gegenüber sahen. Die Beerdigung des nur wenige Monate alten Sohnes Salah auf dem Friedhof in Bobigny war schon 1946 eine Entscheidung für ein Leben in Frankreich und gegen eine Rückkehr nach Algerien.
Dennoch prägten die Entwicklungen in Algerien und vor allem der algerische Unabhängigkeitskampf gegen Frankreich den Alltag der Familie. Beide Eltern und der Onkel der Familie zählen zu den 4000 Opfern, die bei Anschlägen rivalisierender algerischer Organisationen in den 50er und 60er Jahren in Frankreich umkamen. Von den heute noch lebenden Kindern der Familie haben sich Atman und Zoulara für ein Leben in Frankreich entschieden, die Tochter Salima ging dagegen 1962 ins nun unabhängige Algerien zurück.
Auf Drängen ihrer eigenen Tochter, die heute in Paris studiert, hat sie erst kürzlich die französische Staatsbürgerschaft beantragt, zusätzlich zur algerischen.
Der Friedhof ist für Adler allerdings nicht nur Anlass, den Biographien nachzugehen, die sich hinter den einzelnen Gräbern verbergen. Die Geschichte des Friedhofs steht zugleich für die Interessen und Ziele französischer Politik gegenüber dem Islam und den Muslimen.
Ein Friedhof ausschließlich für Muslime
Abgesehen von zwei weiteren Friedhöfen auf der französischen Insel Réunion im Indischen Ozean ist das Gelände am Rande eines Industriegebietes in der Nähe von Paris bis heute der einzige Friedhof, auf welchem sich ausschließlich islamische Gräber befinden.
Erst in der jüngeren Vergangenheit entstanden auf einigen öffentlichen Friedhöfen ausgewiesene Grabflächen, auf denen Begräbnisse nach islamischem Ritus möglich sind. Der überkonfessionelle Charakter der Friedhofsanlage darf durch diese konfessionellen Zugeständnisse allerdings nicht beeinträchtigt werden.
D'Adler zeigt, dass der muslimische Friedhof in Bobigny ähnlich wie die 1926 fertig gestellte Pariser Moschee und das 1935 erbaute französisch-muslimische Krankenhaus für die Bemühungen Frankreichs steht, sein Verhältnis gegenüber den muslimischen 'sujets' in den Kolonien zu bestimmen.
Respekt gegenüber Bewohnern der Kolonien
100.000 Muslime zählten zum Zeitpunkt des Waffenstillstands im Jahr 1918 zu den Gefallenen oder Vermissten, die auf französischer Seite zusammen mit fast 900.000 anderen Soldaten aus den französischen Kolonien gekämpft hatten.
Angeregt durch den Senator Edouard Herriot entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg eine heftige Debatte, in der Möglichkeiten einer symbolischen Anerkennung für den Einsatz der muslimischen Soldaten für Frankreich ausgelotet wurden.
Die Loyalität der Kolonien hing nicht unwesentlich an solchen Gesten, die bei aller Symbolik dennoch einen gewissen Respekt gegenüber den Bewohnern der Kolonien zum Ausdruck bringen sollten.
Eine solche Anerkennung des Islam und seiner Gläubigen wurde von offizieller Seite als zentrales Motiv für die Errichtung des muslimischen Krankenhauses und wenig später des muslimischen Friedhofes vorgetragen. Als staatliche Gesten französisch-islamischer Verbundenheit und als Bekräftigung der Rolle Frankreichs als Garant islamischer Interessen war man auf französischer Seite bereit, selbst mit grundlegenden Prinzipen des modernen französischen Staates zu brechen.
Staatliches Interesse der Kontrolle
Ebenso wie der staatlich unterstützte Bau der Moschee, widersprach auch die Errichtung des muslimischen Krankenhauses und des Friedhofs der strengen laizistischen Trennung von Staat und Religion. Als privater Friedhof, der von dem französisch-muslimischen Krankenhaus verwaltet werden würde, gelang es dennoch, die nicht zuletzt auch kolonialpolitisch bedeutsamen Gesten offiziell zu legitimieren.
Die Institutionalisierung des Islam, die mit der Schaffung solcher Orte und Einrichtungen einherging, geschah dabei mitnichten im Interesse der Muslime selbst. Am Beispiel des französisch-muslimischen Krankenhauses, an das der Friedhof organisatorisch angebunden war, macht Adler das staatliche Interesse deutlich, das religiöse und politische Leben der Muslime einer polizeilichen Kontrolle zu unterwerfen:
"Behandeln und kontrollieren, das sind die beiden – sorgfältig miteinander verknüpften - Aufgaben, die mit dem Ansatz [gegenüber der islamischen Community] in Paris umgesetzt werden."
So wurde die Aufgabe, das Krankenhaus zu leiten, zunächst an den Chef der Pariser Polizeibehörden übertragen, in deren Aufgabenbereich die Überwachung der nordafrikanischen Bevölkerung in Frankreich fiel. Unumwunden sahen die ursprünglichen Pläne für das Krankenhaus die Einrichtung einer Polizeiwache im Gebäude vor.
"Aufhören, von 'Einwanderern' zu sprechen?"
Anhand der Geschichte des Friedhofs von Bobigny ließen sich diese Beispiele für die Widersprüchlichkeiten einer Institutionalisierung des Islam bis in die Gegenwart fortsetzen. Dennoch eröffnet gerade ein solcher Ort Perspektiven, die über traditionelle Versuche einer 'Domestizierung des Islam' hinausgehen.
Schließlich, so wurde in jüngerer Zeit von französischen Muslimen betont, sei ein Friedhof vor allem auch ein 'Ort der Integration': Wer in Frankreich bestattet wird, war und bleibt Teil der französischen Gesellschaft.
Adler selbst kommt zu einem ähnlichen Schluss. Sie beendet ihren Epilog über die Geschichte des Friedhofs als "Ort der Erinnerung an ein Jahrhundert der Einwanderung" mit der berechtigten Frage: "Müsste man nicht aufhören, von 'Einwanderern' zu sprechen?"
Goetz Nordbruch
© Qantara.de 2005
Marie-Ange d’Adler, Le cimetière musulman de Bobigny. Lieu de mémoire d’un siècle d’immigration (Paris: Editions Autrement,
2005) 168 S. ISBN 2-7467-0597-4
Qantara.de
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