Eine trance-zendente Vereinigung

Das Gnawa-Festival in Essaouira übt alljährlich eine hohe Faszination auf Künstler und Besucher aus. Über die Entstehungsgeschichte und die Entwicklung dieses Musikstils.

Von Andreas Kirchgäßner

Aus den Läden mit Raub-CDs krächzt es übersteuert. Die Handkarrenfahrer, die mit ihrer schweren Last nicht mehr durchkommen, schreien. Das Gebimmel von tausend Handys.

Die schrillen Ermahnungen der Mütter an ihre aufreizend gekleideten Töchter. Wer durch die Gassen will, kann sich nur mit dem Strom bewegen. Gegen den Strom geht nichts mehr.

Halb Marokko scheint sich auf den Weg zum Gnawa-Festival nach Essaouira gemacht zu haben. Über 450.000 Besucher kommen in die 60.000-Einwohnerstadt. Hauptsächlich Marokkaner, denn die Gnawa-Musik ist hier populär und der Eintritt frei.

Die Bühnen, die die Welt bedeuten

Auf den neun Bühnen, die die ganze Medina zum Aufführungsort erheben, wimmelt es allerdings von ausländischen Musikern. Das Konzept "fusion", das Zusammenspiel von Gnawa-Gruppen mit bekannten Weltmusikern aus Jazz, Pop und Blues, ist das Markenzeichen dieses Festivals.

Da spielt der junge Gnawa-Meister Maâlem Hassan Boussou aus Casablanca lässig mit einer Sonnenbrille auf. Seine Gruppe wirbelt mit Trottelmützen über die Bühne, klappert mit den Metall-Kastagnetten, den Krakebs, die wie gegeneinander geschlagene Topfdeckel klingen. Begleitet werden sie vom US-amerikanischen Pianist Scott Kinsey, bekannt durch die Filmmusik zu "Ocean’s Eleven".

Aus Tradition international

Diese "fusions" sind keine Erfindung der Festivalleitung. Sie haben in Essaouira eine Tradition, die bis tief in die 60er Jahre zurückreicht. Damals entdeckte der Jazzpianist Randy Weston die Trancemusik der Gnawa. Eine Zeit lang blieb er in Marokko, um sie zu studieren und mit Gnawa-Meistern Aufnahmen einzuspielen.

Später, in den 70ern, als Marokko Reiseziel von Aussteigern und Hippies wurde, kam Jimi Hendrix. Angeturnt von den Rhythmen der Trommeln und Metallkastagnetten, vom Klang der hart geschlagenen, dreisaitigen "Gembri", einer Basslaute, musizierte er mit den Gnawa. "Experience" nannte er diese Form der grenzüberschreitenden Improvisation.

Manch alter Gnawi erinnert sich noch an den "schwarzen Bruder". Mancher will sogar mit ihm musiziert haben. An einen Mitschnitt dachte damals niemand, denn niemand in Essaouira ahnte, dass dieser Gitarrist einmal Rockgeschichte schreiben würde.

Nach ihm kamen sie alle: Cat Stevens, Bob Marley, Peter Gabriel, Carlos Santana, Led Zeppelin bis hin zu modernen Dancefloormusikern. Woher aber kommt die anhaltende Faszination der Gnawa-Musik auf die internationalen Musiker aus Rock, Blues, Jazz und Pop?

Die Wurzeln der Gnawa

Das Wort "Gnawa" stammt von der Bezeichnung "Guinea" ab und weist auf das Gebiet der heutigen westafrikanischen Staaten Mauretanien, Senegal, Niger und Mali hin.

Im 11. Jahrhundert begann von dort die groß angelegte Verschleppung Gefangener zur Sklavenarbeit in die süd-marrokanischen Zuckerrohrplantagen in der Gegend des heutigen Essaouira. Von hier, aus dem ehemaligen Mogador, wurden ab dem 16. Jahrhundert nicht wenige der Sklaven weiter nach Übersee verschifft.

Etablierung in Marokko

Wohin auch immer die Westafrikaner verschleppt wurden, überall etablierten sie ihre Kulte und Rituale, ihren Geisterglauben und ihre Musik. In Marokko geschah das in Form einer Bruderschaft des Volksislam.

In Ermangelung eines Heiligen, eines Marabous, den sie hätten verehren können, erklärten sie den schwarzen Sklaven des Propheten, Sidi Bilal, zu ihrem Ahnherrn.

Sidi Bilal konvertierte bereits zu Muhammads Lebzeiten vom Christentum zum Islam. Der Prophet schenkte ihm dafür die Freiheit und machte ihn zum ersten Muezzin. In seinem Namen gründeten die Gnawa ihre Zawiyas, Heiligtümer, zu denen sie pilgern.

Spiritualität der Meister

Am Tisch sitzt der Holzwarenhändler Mustafa Samir. Die Gnawa sind ihm seit seiner Kindheit vertraut. Sie gehören zu Essaouira wie das Thujaholz, das Meer und die Fische, sagt er. Er kennt sie auch als Lieferanten von Holzwaren. Denn ein Gnawa-Meister ist zumeist auch Schreiner.

Mustafa sagt, dass keiner der traditionellen Gnawa-Meister in Essaouira, die mit Weltstars zusammengespielt haben, es je zu Wohlstand brachte.

Ich frage nach der Schuld der Plattenkonzerne. Er beharrt darauf, dass die Gnawa mit Geld nicht umgehen können. Sie sind zu sehr bei ihren Geistern, die sie in nächtelangen Tranceritualen beschwören.

Musikalisches Zusammenspiel

Der Geisterglaube der Gnawa ist dabei keinesfalls eine marokkanische Besonderheit. Ihn haben die Schwarzafrikaner überallhin mitgenommen, wohin sie verschlagen wurden. In Ägypten heißt er Sar-Kult. In der Karibik Voodoo. In Brasilien Macumba, Umbanda, Candomble.

Mit den Ritualen brachten sie ihre Musik. In den USA wurde daraus der afroamerikanische Blues. Ohne Probleme spielt heute der US-amerikanische Bluesgittarist Corey Harris auf dem Festival zusammen mit dem Gnawa-Meister Abdelkader Amlil und seiner Gruppe.

Mit wem auch immer die traditionellen Gnawa-Gruppen fusionieren, sie bleiben sich musikalisch treu. Fast, als müssten sie auch bei den Jam-Sessions dem Ritus ihrer Geister folgen. Die Weltmusiker andererseits können offenbar wunderbar auf die überlieferten Rhythmen und Melodien einsteigen.

Verwandtschaftliche Strukturen der Musik

Es scheint eine Verwandtschaft in der Struktur, der äußerlich so unterschiedlichen Musikrichtungen, zu geben. Der Musikwissenschaftler Philip Schuyler, der seit Jahrzehnten in Marokko forscht, weist mich auf strukturelle Gemeinsamkeiten von Gnawa, Jazz, Blues und Pop hin.

Er nennt das "Call-and-Response-Muster", der Meister singt vor, der Chor antwortet; die polyrhythmischen Drums, die die Afrikaner weltweit verbreitet haben; vor allem aber den Gembri, mit dem der Meister das Geschehen lenkt, wie ein Lead Guitarist seine Rockgruppe.

Die Melodien des Gembri bieten sich als Basslinie an, über die die Weltmusiker improvisieren, sagt Schuyler. Wie Jazz und Blues und im Gegensatz zur traditionellen Musik Nordafrikas, sind sie pentatonisch gestimmt.

Inspirationskraft der Musik

Als weckte die Improvisation eine Erinnerung an gemeinsame Kindheitstage in Westafrika, so klingt es, wenn die Jazz- und Popmusiker mit den Gnawa zusammenfinden.

Diese Erinnerung scheint tief im Inneren der Musik verborgen zu sein. Und erst im Zusammenspiel tritt sie wieder zu Tage. Oft entstehen dabei überraschend neue Formen. Das ist das Geheimnis der Anziehungskraft, die vom Festival in Essaouira ausgeht.

Andreas Kirchgäßner

© Qantara.de 2007

Qantara.de

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Gnawa-Festival in Essaouira
Englisch- und französischsprachige Informationen rund um das Gnawa-Festival in Essaouira