"Muslime sind längst deutsch"
Vor allem in den vergangenen Wochen und Monaten sind viele Menschen aus islamisch geprägten Ländern nach Deutschland gekommen. Spätestens seit den Ereignissen der letzten Silvesternacht in Köln haben die Vorbehalte ihnen gegenüber zugenommen. Die Auffassung, der Islam sei mit westlichen Werten unvereinbar, ist weit verbreitet. Warum dominiert diese Angst hierzulande? Und ist der Islam nicht schon lange in Deutschland angekommen?
Esra Özyürek: Ich denke, das hängt viel mit der Angst vor dem Anderen zusammen und hat starke rassistische Tendenzen. Islamophobie ist ein Teil dieser Angst sowie des Hasses gegenüber dem Anderen. Bezüglich der Angst gegenüber Geflüchteten habe ich jedoch das Gefühl, dass Islamophobie nur ein Teil des Ganzen darstellt. Die neuen Ankömmlinge werden gefürchtet und gehasst, nur weil sie anders sind. Es wird übersehen, dass diese Menschen verwundbar sind und keine andere Anlaufstelle mehr haben.
Tatsächlich sind die Muslime schon seit Langem ein Teil von Deutschland. Sie haben friedfertig gelebt und viel zur deutschen Gesellschaft beigetragen. Ich finde es erstaunlich, dass immer wieder so getan wird, als sei der Islam erst vor Kurzem in Deutschland angekommen. Außerdem gibt es keine eindeutige Definition islamischer Ansichten, dasselbe ist auch mit westlichen Werten der Fall. Bei beiden handelt es sich um eine vage Ansammlung von Wertvorstellungen, die zu verschiedenen Zeiten verschiedene Bedeutungen inne hatten.
Wie in vielen anderen europäischen Ländern gehört der Islam auch in Deutschland zu einer wachsenden Religionsgemeinschaft. Dieser Prozess vollzog sich bereits vor vielen Jahren - nicht nur als Folge der Einwanderung, sondern auch mittels Konvertierung. Wieso gewinnt man dennoch den Eindruck, dass viele Deutsche den Islam weiterhin als fremd und bedrohlich wahrnehmen?
Özyürek: Ich betrachte die Konvertierung zum Islam als ein Ergebnis von gesunder Integration und Koexistenz. Seitdem Muslime sich besser in die Gesellschaft integriert haben, pflegen sie eine intensivere Beziehung zu Nichtmuslimen. Manche dieser Verhältnisse haben schließlich zu Konvertierungen geführt. Gleichzeitig nehmen viele Muslime sehr säkulare Lebenseinstellungen an. Abgesehen von den jüngsten Konvertierungen von Flüchtlingen waren Übertritte von Muslimen zum Christentum im Vergleich stets geringer. Jedoch führen viele Muslime bereits ein Leben, in dem die Religion keine Rolle spielt. Deutsche hingegen konvertieren zum Islam seit über einhundert Jahren. Erst seit Kurzem werden Konvertiten als Bedrohung wahrgenommen. Das hat vor allem damit zu tun, wie der Islam und die Muslime hierzulande wahrgenommen werden.
Obwohl die negative Darstellung des Islams weiterhin vor allem medial präsent ist, gibt es dennoch anhaltend viele Übertritte zu dieser Religion. Viele Deutsche nehmen islamische Namen und beginnen, ihr Leben vollständig zu verändern. Der Islam wird ein Teil ihrer Identität. Was macht den Islam Ihrer Meinung nach so attraktiv für diese Menschen?
Özyürek: Sowohl in meinen eigenen als auch in anderen Studien fiel mir immer wieder auf, dass alle Konvertierungen zum Islam von einer tiefen und bedeutungsvollen Beziehung zu einem Muslim ausgelöst wurden. Diese Person kann der Nachbar, ein Schulfreund, ein Mitarbeiter oder ein Geliebter gewesen sein. Was ich wirklich interessant fand, war die Tatsache, dass die Quelle dieser neuen Inspiration nicht immer eine religiöse Person gewesen ist. Viele Begegnungen fanden etwa an "nicht-islamischen Orten" statt – etwa in Musikclubs, Bars oder in Studentenwohnheimen. Auch neutralere Orte wie Schulen oder der Arbeitsplatz gehörten zum Schauplatz.
Durch solche intensiven Begegnungen und Erfahrungen öffnen sich manche Menschen für den Islam. Wenn ich ihnen die Frage stelle, warum der Islam für sie attraktiv ist, erhalte ich lediglich ihre nachträglichen Narrativen. Diese Geschichten haben allesamt ihre spezifischen Eigenschaften. Oft sind die Gründe für Konversionen sehr verschieden. Manche waren beispielsweise zuvor praktizierende Christen, die von ihrer ehemaligen Religion nicht genug erfüllt waren. Für andere wiederum war der Islam die erste Religion, mit der sie sich intensiv auseinandersetzten. Die Beweggründe für Konversionen sind also mannigfaltig. Im Übrigen habe ich auch Menschen interviewt, die zum Judentum übergetreten sind. Sie hatten sehr ähnliche Motive.
Gegenwärtig erleben wir in Europa den Aufschwung rechter Parteien und Bewegungen. In Deutschland meint die rechtspopulistische "Alternative für Deutschland" ebenso wie viele konservative Politiker, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre. Immer wieder heißt es, dass man angeblich nicht deutsch und muslimisch zugleich sein könne.
Özyürek: Ich denke, wir müssen diesen Leuten vor allem eines sagen: Es ist zu spät! Der Islam ist längst ein wichtiger Teil der deutschen Gesellschaft – egal, was sie davon halten. Es existiert keine eindeutige Definition einer muslimischen Identität. Selbiges ist auch in Hinblick auf die deutsche oder westliche Identität der Fall. Deutsche Muslime haben stets versucht herauszufinden, was eine authentische deutsch-muslimische Identität ausmacht. Die Vorstellung davon hat sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert. Bereits in den 1920er Jahren begriffen sich deutsche Muslime als Teil der Aufklärung. In den 1960er- und 70er Jahren wurde der Sufismus vor allem für die damalige Jugendkultur attraktiv. Es gibt also viele verschiedene Perspektiven, sowohl als Muslim als auch als Deutscher betrachtet zu werden. Es wird stets interagiert und transformiert – wie bei einem Kaleidoskop.
In Ihrem Buch heben Sie hervor, dass viele Ostdeutsche nach dem Fall der Berliner Mauer zum Islam konvertierten. Man könnte den Eindruck gewinnen, viele dieser Menschen haben nach einer neuen Identität und nach einer neuen Ideologie gesucht, nachdem der Kommunismus unterging. Inwieweit entspricht das den Tatsachen?
Özyürek: Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass Zehntausende Ostdeutsche zum Islam konvertiert sind. Allerdings war es tatsächlich so, dass der Islam vielen Ostdeutschen nach dem Fall der Mauer eine neue Identität bot, um sich dem klassischen Klischeebild vom "Ossi" zu widersetzen. Interessanterweise gibt es gegenwärtig weiterhin viele Sufi-Logen in Ostdeutschland, die von Konvertiten geführt werden. Diese weisen allerdings im Vergleich zu den klassisch-etablierten sunnitischen Gemeinschaften völlig andere Dynamiken auf. Sie leben völlig isoliert von den stigmatisierten, sunnitischen Muslimen.
Seit einigen Jahren sind vor allem erzkonservative Salafisten wie Pierre Vogel zum Gesicht der deutschen Konvertiten geworden. Manche von ihnen sind bekannt für ihre extremistischen Weltanschauungen, die ausgiebig in den sozialen Netzwerken geteilt werden. Gleichzeitig sind derartige Personen sehr beliebt bei vielen jungen Muslimen. Warum ist das der Fall? Und warum fokussieren die Medien fast ausschließlich auf diese Art von Konvertiten?
Özyürek: Hauptsächlich liegt das daran, dass die meisten Konvertiten introvertiert und mit ihrer eigenen Spiritualität beschäftigt sind. Ich habe Hunderte von Konvertiten getroffen – und sie sind in keinster Weise auffällig. Sie verbringen die meiste Zeit mit sich, sprich, sie lesen, lernen und reflektieren. Einige wenige radikale Personen wie Pierre Vogel sind meiner Meinung nach aus vielerlei Gründen so attraktiv für junge Leute. Ein großer Teil der muslimischen Szene in Deutschland wird weiterhin von der türkischen oder arabischen Sprache dominiert. Junge Muslime, die hier aufgewachsen sind, fühlen sich nicht von den Imamen angesprochen, die aus der Türkei hierher kommen. Viele jüngere Menschen finden diese Religionsgemeinschaften altmodisch, nicht zeitgemäß und teils auch unverständlich. Pierre Vogel spricht deutsch, er hat einen guten Draht innerhalb der deutschen Jugendkulturszene und ist stets im Internet präsent. Natürlich ist die Salafi-Bewegung, die er repräsentiert, in vielerlei Hinsicht exklusiv, doch überraschenderweise ist sie auch sehr offen für Muslime aus allen Schichten. Sie ist nicht hierarchisch strukturiert und akzeptiert all jene Menschen, die ihre Grundprinzipien annehmen. Außerdem bietet sie ein eindeutiges Weltbild.
Wie werden Deutschlands Muslime - ob Zuwanderer, Geflüchtete oder Konvertiten die - Gesellschaft in den kommenden Jahren verändern?
Özyürek: Das Deutschland der Nachkriegszeit ist stark von Muslimen beeinflusst worden. Muslime waren es, die die vom Krieg zerstörten Städte mit aufbauten. Heute sind sie zu einem unverzichtbaren Teil der Gesellschaft geworden – vor allem in Hinblick auf die städtische Kultur. Viele Aspekte des Alltags, seien es nun jugendkulturelle Trends oder etwa die Mode- und Essenskultur, werden seit den 1960 Jahren stark von Muslimen beeinflusst. Es ist daher unmöglich, sich große deutsche Städte ohne praktizierende oder nicht-religiöse Muslime vorzustellen. Und diese muslimischen Gemeinschaften werden auch weiterhin ihr Umfeld beeinflussen – sowohl im lokalen, regionalen als auch globalen Maßstab. In dieser Hinsicht erwarte ich jedoch keine dramatischen Veränderungen, ganz gleich was rechte Politiker behaupten: Die Präsenz von Muslimen innerhalb der deutschen Gesellschaft ist ausgeglichen. Deutschland ist längst zum Teil muslimisch und die Muslime sind längst deutsch.
Das Interview führte Emran Feroz.
© Qantara.de 2016
Esra Özyürek: "Being German, Becoming Muslim: Race, Religion, and Conversion in the New Europe", Princeton University Press, 192 Seiten, ISBN: 9781400852710