Der Dschinn ist aus der Flasche
Wir haben erlebt, wie sich der Deckel dieses Jahr in Algerien nach dem Sturz des Diktator Abdelaziz Bouteflika gehoben hat, wo es seitdem wöchentlich zu Demonstrationen kommt, die eine Ende des gesamten "System Bouteflika" fordern.
Oder im Sudan, wo Langzeitdiktator Omar al-Baschir gestürzt wurde und die Protestbewegung es geschafft hat, mit den bisher allein herrschenden Militärs ein Abkommen zur Machtaufteilung zu schließen, das in drei Jahren zu einer zivilen Regierung und demokratischen Wahlen führen soll.
Und selbst in Ägypten, wo ein allmächtiger Repressionsapparat herrscht, wagten es die Menschen noch vor wenigen Wochen, erstmals wieder gegen den ehemaligen Militärchef und Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi auf die Straße zu gehen.
Ein langfristiger Prozess des Umbruchs
Das alles zeigt vor allem eines: Die Politik in der arabischen Welt lässt sich nicht mit Jahreszeiten beschreiben à la "der Arabische Frühling ist zum Arabischen Winter geworden". Was wir in unserer unmittelbaren Nachbarschaft im südlichen und östlichen Mittelmeer sowie im Nahen Osten erleben, ist ein langfristiger Prozess des Umbruchs.
Selbst die Anfänge dieser Aufstandsbewegung lassen sich als Prozess beschreiben. Die Wirklichkeit ist wesentlich komplizierter, als die Geschichte vom Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, der sich in Tunesien selbst angezündet und mit diesem Schmetterlingsschlag in Tunesien einen Orkan in der gesamten arabischen Welt ausgelöst hat.
Nehmen wir das Beispiel Ägypten. Was war der Beginn des Aufstandes gegen Mubarak? War es der 25. Januar 2011, als die Menschen auf dem Tahrir-Platz zusammenströmten? Oder die Neujahrsnacht zuvor, als muslimische und koptische Jugendliche gemeinsam nach einem Anschlag auf eine Kirche in Alexandria gegen die Unfähigkeit des Regimes auf die Straße gingen, die Kirchen des Landes ausreichend zu schützen.
Oder war der Auslöser, dass der Jugendliche Khaled Said im Jahr zuvor von Polizisten in Alexandria zu Tode geprügelt worden war und die Facebook-Kampagne "Wir sind alle Khaled Said" sich wie ein Lauffeuer in Ägypten verbreitete. Oder lag es an der Protestbewegung "Kifaya" ("Es reicht!"), eine kleine Gruppe politischer Aktivisten, die seit 2004 immer wieder gegen Mubarak demonstrierte?
Soziale Faktoren als Auslöser der Aufstände
Und genau so, wie diese Bewegung für die politische Veränderung im Land keine wirkliche Anfangsbewegung aufweist, hat sie auch keinen Endpunkt. Die alten Systeme versuchen zwar immer wieder durch Repression den Deckel auf diesen Protestbewegungen zu halten, jedoch schaffen sie es bislang nicht, die herrschenden Widersprüche vollkommen auszuschalten.
Und diese entzünden sich im Moment vor allem an den wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Denn eines haben alle überkommenen arabischen autokratischen oder konfessionellen politischen Systeme gemeinsam: sie öffnen die Tür für Korruption und die Selbstbereicherung der jeweils regierenden Eliten, während ein Gros des Landes wirtschaftlich und sozial mit dem Rücken zur Wand steht.
In Ägypten muss eine Drittel der Bevölkerung mit 1,50 Euro am Tag auskommen. Im Libanon lebt ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Hinzu kommt die grassierende Korruption. Der Sudan ist auf dem Korruptionsindex von Transparency International als das sechst-korrupteste Land der Welt gelistet, sieben Ränge vor dem Irak, nicht weit gefolgt vom Libanon.
Der andere immer wiederkehrende Grund für den Unmut ist in den nicht funktionierenden staatlichen Dienstleistungen zu sehen – ob in Hinblick auf die immer wieder unterbrochene Stromversorgung in der irakischen Sommerhitze, die Müllkrise oder die mangelhafte digitale Infrastruktur im Libanon, die in dem nach außen glitzernden Zedernstaat wohl eher dem Niveau eines Drittweltlandes gleicht.
Ablehnung konfessioneller und politischer Grabenkämpfe
Die Jugendarbeitslosigkeit liegt im Irak bei 20 Prozent. Das ist besonders dramatisch, weil 60 Prozent der Bevölkerung unter 24 Jahre alt sind. Ähnliche Zahlen gelten für die anderen arabischen Länder, in denen vor allem junge Menschen auf die Straße gehen, die für sich keine Perspektive mehr sehen. Das besondere Merkmal dieser Protestbewegungen ist dabei ihr spontaner Charakter und - vielleicht mit Ausnahme des Sudans – die fehlende Organisationsstruktur. Viele Demonstranten lehnen es überdies ab, von den traditionellen Parteien ihrer Staaten politisch vereinnahmt zu werden.
Interessant ist hierbei auch, dass sich der Protest nicht nur gegen die arabischen Autokraten richtet, sondern - wie im Falle des Libanon und des Iraks -, gegen Ordnungen, in denen konfessionelle Gruppierungen und Parteien, die politische Landschaft dominieren. Jahrzehntelang wurde den Menschen dort gesagt, dass ihre religiöse Identität der entscheidende Faktor der Politik sei – ob es sich um Sunniten, Schiiten oder Christen handelt.
Doch jetzt sehen die Menschen, dass genau diese religiös-basierten politischen Parteien sich selbst bereichern und zu einer konfessionellen Amigo-Wirtschaft geführt haben, wo Ministerien im Besitz einer konfessionellen Partei sind und für diese zum Selbstbedingungsladen geworden sind.
Jetzt demonstrieren die Menschen in eben jenen Staaten gemeinsam für einen funktionierenden Staat, für politische Rechenschaftspflichten der Regierenden und gegen ihre eigenen konfessionellen Führungen. Wirtschaftliche und soziale Bedürfnisse triumphieren im Diskurs über religiöse Identitäten.
Repression als Reaktion der Machthaber
Die Antworten der arabischen Staaten machen ihre ganze Schwäche deutlich. Sie setzen auf Repression. Im Irak haben genau jene schiitischen Milizen auf Demonstranten geschossen, deren Misswirtschaft von den Protestierenden in den schiitischen Gebieten des Landes angeprangert wurde.
In Ägypten hat das Regime eine so große Panik vor jeglichem Dissens, dass die Polizei vor Wochen damit begonnen hat, im großen Stil Menschen auf der Straße anzuhalten und sie aufzufordern, ihre Handys zu entsperren. Auf wessen Handy sich regimekritisches Material findet, der wird mitgenommen, ebenso wie jeder der sich weigert, sein Telefon zu entsperren.
Ägyptische Menschenrechtsorganisationen berichten allein von über 4.000 solcher "Handy-Festnahmen". Die arabischen Regime haben dabei ein grundsätzliches Problem. Repression funktioniert, doch sie hat auch ein Ablaufdatum, vor allem wenn die wirtschaftlichen und sozialen Probleme ungelöst bleiben.
Dabei gilt, egal ob für den Libanon, den Irak, Algerien, den Sudan oder Ägypten immer das gleiche: Es sind nicht mehr die Regime, die konfessionellen Parteien und deren Sicherheitsapparate, die bestimmen, was die Menschen denken und auch aussprechen. Vor allem über die Sozialen Medien hat sich die kritische politische Debatte längst verselbstständigt und wandert dann sofort vom Internet ins Kaffeehaus.
Und wenn der Dschinn erst einmal aus der Flasche ist, schafft es kein Autokrat, kein Militär und keine konfessionelle Partei, diesen wieder dorthin zurückzuholen. Dann nimmt der Prozess des Umbruchs seinen Lauf – wobei er sich an keine Jahreszeiten hält.
Karim El-Gawhary
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