Syrien ist nicht mehr Syrien

Nach acht Jahren Krieg, der Zerstörung der meisten Städte des Landes, dem Tod hunderttausender und der Vertreibung mehrerer Millionen Syrerinnen und Syrer existiert Syrien wie wir es kannten nicht mehr, schreibt der Autor und politische Analyst Faraj Alasha in seinem Essay.

Von Faraj Alasha

Baschar al-Assad wurde zum Präsidenten ernannt, kurz bevor sein Vater starb. Es ist kein Geheimnis, dass er eigentlich nicht für dieses Amt vorgesehen war. Sein Vater, Hafiz al-Assad, hätte lieber Baschar al-Assads Bruder Basil als seinen Nachfolger gesehen, doch das Schicksal wollte es anders. Und so musste Baschar al-Assad die Nachfolge seines Vaters antreten, ob er wollte oder nicht.

Die Mehrheit der Syrerinnen und Syrer begrüßte anfangs seine Amtsübernahme. Es handelte sich schließlich um einen zurückhaltenden und kultivierten Augenarzt. Und sie hielten ihn für mildtätiger als seinen verstorbenen Vater oder seinen exilierten Onkel Rifaat. Daher sahen sie darüber hinweg, dass das Parlament in einer Eilsitzung die Verfassung geändert und das Mindestalter für das Amt des Präsidenten gesenkt hatte, damit Baschar es übernehmen konnte. Die Syrerinnen und Syrer wussten um das Herrschaftsprinzip, das sie umgab: "Assad ist tot, es lebe Assad".

Historisch betrachtet war die Bereitschaft schon immer enorm, auch die größte Mauschelei zu ertragen, solange das Ergebnis stimmte. In Erwartung von Reformen und einer Öffnung dem Ausland gegenüber wurde die Bevölkerung  von großem Optimismus ergriffen.

Das Misstrauen der arabischen Despoten

Wenn der "Assad-Sprössling" etwa beim Arabischen Gipfel auftrat, umgab ihn die Aura eines Stars; seine vermeintlich klugen strategischen Analysen und Lösungsansätze für die Herausforderungen, der sich die islamische Gemeinschaft (Umma) gegenübersah, trug er mit der Verve und Unwiderstehlichkeit eines Emporkömmlings vor. Dabei bediente er sich gerne einer philosophisch angehauchten Sprache. So auch, als er erklärte: "Die Herausforderungen selbst bestimmen die Lösungen".

Die meisten seiner bereits alternden Amtskollegen, Despoten auf Lebenszeit, lauschten seinen Worten mit wachsender Verärgerung. Etwa wenn er von "anhaltenden Tragödien, mal größeren, mal kleineren Ausmaßes" sprach und anhand eines Schaubilds die "Tiefpunkte der arabischen Welt" darlegte. Insgeheim werden sich diese Despoten auf Lebenszeit dann gefragt haben, wie lange er ihnen mit seinem Gerede noch auf die Nerven gehen würde.

Porträt von Baschar al-Assad auf dem Al-Mohafazah-Platz in Damaskus; Foto: dpa/picture-alliance
"Assad ist tot, es lebe Assad": Die Mehrheit der Syrer begrüßte anfangs die Amtsübernahme Baschar al-Assads. Viele hielten ihn für mildtätiger als seinen verstorbenen Vater oder seinen exilierten Onkel Rifaat. Doch Baschar al-Assad ließ schon bald den „Damaszener Frühling“ mit Hilfe des syrischen Sicherheitsapparates unterdrücken, dem zivilgesellschaftlichen Aufbruch wurde ein jähes Ende bereitet.

Auf den im Jahr 2000 einsetzenden "Damaszener Frühling" reagierte der junge Amtserbe zunächst noch mit innenpolitischen Reformankündigungen. Die bis dahin herrschende massive Unterdrückung der Meinungsfreiheit wurde etwas gelockert und der Spielraum für die Gründung zivilgesellschaftlicher Vereinigungen erweitert. Auch kritische Töne gegen die Baath-Partei waren im begrenzten Rahmen zulässig – ausgenommen natürlich jene am jungen Präsidenten, dem "mächtigsten Arzt des Landes".

Der "Damaszener Frühling" - Hoffnung auf den Wandel

Als während des "Damaszener Frühlings" die Forderung nach demokratischer Teilhabe im politischen Prozess laut wurde, stellte sich schnell heraus, wie substanzlos die schönen Worte des Präsidenten wirklich waren. Und selbst wenn er gewollt hätte, wäre es für den "Assad-Sprössling" nicht möglich gewesen, diese Forderung zu erfüllen. Denn seinen politischen Kurs gaben ihm von Anfang an der alawitisch-konfessionell geprägte Herrscherclan und dessen Unterstützer vor.

Freilich ging es dabei um ihre eigenen Interessen, nicht um das Wohl des Landes. Also intervenierten sie, ganz im Stil des verstorbenen Hafiz al-Assad, um den diktatorischen Normalzustand wiederherzustellen. Sie ließen den "Damaszener Frühling" schließlich mit Hilfe des syrischen Sicherheitsapparates unterdrücken, dem zivilgesellschaftlichen Aufbruch wurde ein jähes Ende bereitet.

Für die reformorientierten Eliten stellte der "Damaszener Frühling" eine Chance dar, schrittweise und auf friedlichem Weg demokratischen Wandel in Syrien anzustoßen. Doch sollte dieser Prozess ohne jede Konfrontation zwischen Regime und Gesellschaft vorangetrieben werden, um die Situation, die sich bereits seit Jahrzehnten kontinuierlich verschlechtert hatte, nicht noch weiter belasten.

Auch hatten die Akteure des "Damaszener Frühlings" gar nicht vor, das Regime Baschar al-Assads zu stürzen. Im Gegenteil, sie waren mehr als gewillt, der Konfrontation aus dem Weg zu gehen und den Präsidenten bei seinen Reformen für einen schrittweisen, friedlichen und demokratischen Wandel zu unterstützen. Schließlich würde er wohl eines Tages abgewählt werden, so wie er dies sogar selbst irgendwann gegenüber amerikanischen Medienvertretern geäußert hatte.

Das sollte sich jedoch schnell als nur eine von vielen Lügen arabischer Despoten im Nahen Osten erweisen. Tatsächlich war Baschar al-Assad nie etwas anderes als das neue Gesicht des alten Regimes seines Vaters. Ein Regime, das innerhalb des Herrscherclans weitervererbt wurde und seit Jahrzehnten nicht nur die Armee, die Baath-Partei und die Geheimdienste, sondern auch die Medien und Ressourcen des Landes kontrollierte.

Ziel des autoritären Regimes und dessen Unterstützer war es, die Macht auf unbestimmte Zeit an sich zu reißen. Hierfür regierten sie mit eiserner Faust, um der Bevölkerung unmissverständlich klar zu machen, dass sie sich niemals aus dem Würgegriff des Herrscherclans befreien könnte.

Wie der Vater, so der Sohn

Das Pathos vom Kampf für den Panarabismus und von der Befreiung Palästinas, diente der Baath-Partei lediglich als Propagandainstrument, um die eigene Unrechtsherrschaft in ein emanzipatorisches Gewand zu kleiden. Schon bald wurde deutlich, dass all die Versprechen des "Assad-Sprösslings" vor allem eines waren: nichts als leere Versprechungen.

Als der "Arabische Frühling" Syrien erreichte, war es schließlich unausweichlich, dass sich die Menschen gegen das Regime auflehnten und auf die Straße gingen – und zwar friedlich! Und dieses Mal reagierte auch der Sohn ganz im Stil seines Vaters, der bereits 1982 einen großangelegten Angriff auf die zentralsyrische Stadt Hama gestartet hatte, um einen bewaffneten Aufstand oppositioneller Gruppen niederzuschlagen, die den sunnitischen Muslimbrüdern zugerechnet wurden.

Syrische Geheimdienstmitarbeiter gehen im März 2011 in Damaskus gegen Demonstranten vor; Foto: picture-alliance/abaca
Mit kompromissloser Härte gegen Zivilisten und Dissidenten: "Ziel des autoritären Regimes und dessen Unterstützer war es, die Macht auf unbestimmte Zeit an sich zu reißen. Hierfür regierten sie mit eiserner Faust, um der Bevölkerung unmissverständlich klar zu machen, dass sie sich niemals aus dem Würgegriff des Herrscherclans befreien könnte", schreibt Faraj Alasha.

Der Angriff führte zu massiven Zerstörungen der Stadt, Luftwaffe und Artillerie griffen nicht nur die auf wenige Orte konzentrierten Stellungen der insgesamt kleinen Anzahl der Rebellen an, sondern nahmen absichtlich weite Teile der Stadt ins Visier. Tausende unschuldige Zivilisten kamen dabei ums Leben. Die Botschaft war klar: Hafiz al-Assad kennt keine Gnade mit denen, die sich ihm nicht unterwerfen.

Mit Einverständnis des Herrscherclans und seiner Unterstützer wählte sein Sohn Baschar die gleiche Taktik, um dem Aufstand von 2011 zu begegnen. Sie waren davon ausgegangen, dass das südlich gelegene Daraa, genau wie Hama zu Zeiten seines Vaters, eine isolierte aufständische Stadt darstellen würde. Doch rasch wurden sie eines Besseren belehrt, als sich immer mehr syrische Städte und Dörfer dem Aufstand anschlossen. Doch darauf hatte das Regime nur eine Antwort parat: Gewalt und noch mehr Gewalt.

Ein zweites Grosny

Als das Regime realisierte, dass es am Rande einer Niederlage stand, rief es schließlich das theokratische iranische Regime zu Hilfe, und mit ihm die Hisbollah. Ihr gemeinsamer Feldzug mit der Armee Assads hätte den Sturm der bewaffneten Opposition aus "Freier Syrischer Armee", gemäßigten Islamisten und einer Heerschar von Al-Qaida- und IS-Kämpfern auf Damaskus allerdings nur zeitweilig aufgehalten, wäre Assads Truppen nicht Russland zur Seite gesprungen.

Das bestätigte selbst der russische Außenminister Sergej Lawrow Anfang 2016 in aller Offenheit: "Wir sind uns sicher, dass es die richtige Entscheidung war, der Bitte der rechtmäßigen syrischen Regierung um Hilfe zu entsprechen. Die Hauptstadt dieses UN-Mitglieds wäre ansonsten innerhalb von zwei, drei Wochen in die Hände der Terroristen gefallen."

Mit der Intervention durch Putins Russland nahm der Krieg eine noch zerstörerische Dimension an, als noch zu Zeiten des Angriffs auf Hama im Jahr 1982. Ein zweites Grosny wäre ein passender Vergleich, wurde die tschetschenische Hauptstadt in den 1990er Jahren innerhalb weniger Monate dem Erdboden gleichgemacht. Es blieb damals nichts als verbrannte Erde zurück, die meisten Einwohner flohen aus diesem Inferno, die der Angriff aus der Stadt gemacht hatte. Und wer dazu nicht mehr in der Lage war, starb zusammen mit den letzten Widerstandskämpfern in den Ruinen der Stadt.

Nach acht Jahren Syrienkrieg, in dessen Verlauf Hunderttausende getötet, Millionen vertrieben und die meisten Städte und Dörfer komplett zerstört wurden, stellt sich die Frage, was noch von Syrien übrig geblieben ist. Von einem Syrien so wie wir es kannten, und über das Assad – oder wer auch immer – herrschen könnte.

Alle Verhandlungen über die Zukunft des Landes ignorieren eine entscheidende Tatsache: Syrien ist heute nicht mehr Syrien – und deswegen können wir auch nicht mehr darüber verhandeln.

Faraj Alasha

© Qantara.de 2019

Faraj Alasha ist ein libyscher Autor und politischer Analyst. Sein letzter Roman "Synesios und Hepatia" erschien im arabischen Verlag "Dar Altanweer".

Übersetzt aus dem Arabischen von Thomas Heyne