Das Vermächtnis des rebellischen Großayatollahs
Hossein Ali Montazeri kann es noch immer. Seine Worte und Ideen schaffen es einmal mehr, die Machthaber im Gottesstaat Iran nervös werden zu lassen – und das, obwohl der Großayatollah schon seit sieben Jahren nicht mehr unter den Lebenden weilt.
Grund für die Unruhe unter iranischen Hardlinern ist eine Tonbandaufnahme, die Montazeris Sohn Ahmad vergangenen Dienstag auf der offiziellen Webseite seines Vaters veröffentlichte. Auf der Aufnahme vom 15. August 1988 ist zu hören, wie Hossein Ali Montazeri bei einem Treffen mit Vertretern der Justiz und des Informationsministeriums – darunter der heutige iranische Justizminister Mostafa Pourmohammadi – die Anwesenden für die Massenexekutionen des Jahres 1988 verantwortlich macht: "Ihr seid für das größte Verbrechen der Islamischen Republik Iran verantwortlich und werdet als Bösewichter in die Geschichte eingehen", so der Großayatollah wörtlich. Er kritisiert mit scharfen Worten "den kurzen Prozess" gegen die Oppositionellen – "die in manchen Fällen nur ein paar Minuten" gedauert haben sollen – und verlangt nach fairen Gerichtsverhandlungen, "auch wenn sie gegen das islamisches System sind".
Er habe die Audiodatei veröffentlicht, weil die Hardliner immer wieder dementiert hätten, dass sein Vater ein scharfer Kritiker der damaligen Hinrichtungspolitik der Islamischen Republik gewesen sei, erklärte Ahmad Montazeri in einem Interview mit BBC Persian. "Wenn die Aufnahme bereits zu einem früheren Zeitpunkt veröffentlicht worden wäre, hätte sie wahrscheinlich wenig Beachtung gefunden. In Zeiten sozialer Medien erreicht sie deutlich mehr Menschen", so Montazeri weiter.
Auf Druck des iranischen Sondergerichts für Geistlichkeit und der Geheimdienstbehörde der Stadt Qom hat Montazeri die Audiodatei mittlerweile von der Webseite seines Vaters wieder entfernt. Die von Hardlinern geführten Institutionen hatten ihn aufgefordert, die Aufnahme als Fälschung zu bezeichnen und ihren Inhalt zu dementieren. Andernfalls müsse er damit rechnen, verhaftet zu werden.
Vom Liebling zum Kritiker des Regimes
Doch wer war der Mann, dessen Aussagen aus dem Jahr 1988 den konservativen Machthabern so offensichtlich unangenehm sind? Während der Revolution von 1979 und in den ersten Jahren der Islamischen Republik gehörte der 1922 in Nadschafabad geborene Montazeri zu den engsten Mitstreitern und Vertrauten von Revolutionsführer Ayatollah Ruhollah Khomeini.
1985 wurde der Geistliche sogar offiziell zum Nachfolger Khomeinis ernannt, der ihn als "Frucht meines Lebens" bezeichnet haben soll. Zu Beginn der Revolution und Anfang der 1980er Jahre gehörte Montazeri durchaus zu den Hardlinern des Regimes, die das neu etablierte System der "Führung des Rechtsgelehrten" ganz und gar verteidigten. Doch nicht nur das: Der hochrangige Geistliche war einer der Architekten dieses Systems. Er schrieb mit Dirasat fi Vilayah al-Faqih das wichtigste und umfassendste Buch über dessen Aufbau.
Doch sollte der Großayatollah schon bald in Ungnade fallen. Denn kurz vor Khomeinis Tod hatte Montazeri es gewagt, die Massenexekutionen des Jahres 1988, bei denen bis zu 4.000 politische Häftlinge hingerichtet worden sein sollen, zu kritisieren. An seiner Stelle wurde damals Ali Khamenei, ein Ayatollah niedrigeren Ranges, der neue oberste Geistliche der noch jungen Republik. Fortan entwickelte sich Montazeri immer mehr zum Regimekritiker – mit der Konsequenz, dass er 1997 in seinem Haus in Qom unter Hausarrest gestellt wurde. Aber auch von dort meldete er sich zu Wort: Er entwickelte sich zum Vordenker einer liberalen Auslegung des Islams und kritisierte deutlich die direkte Einmischung der Kleriker in das politische Geschehen.
In seiner Vorstellung sollte der Klerus lediglich eine beratende und überwachende Funktion innehaben. Montazeri sprach sich sogar für Religions- und Meinungsfreiheit aus: Menschenrechte müssten die Basis jeder Rechtsordnung sein. Auch die rechtliche Gleichstellung der Frau fand in ihm einen vehementen Befürworter.
Trotz seiner Isolation wurde Montazeri von der 1997 aufkommenden Reformbewegung im Iran als geistliche Führungsfigur angesehen. Wenige Monate vor seinem Tod im Jahr 2009 bekannte sich der Großayatollah zur oppositionellen Grünen Bewegung. In einer Fatwa erklärte er im Sommer jenes Jahres die Präsidentschaftswahlen, zu deren Sieger der ultrakonservative Mahmud Ahmadinedschad erklärt worden war, für "unrechtmäßig" und forderte das iranische Volk auf, sich "mit legalen Mitteln" gegen das System aufzulehnen.
"Ein Feind Gottes"
Die Veröffentlichung der Tonbandaufnahme hat in der iranischen Internet-Community verschiedene Reaktionen von Anerkennung bis zu offener Ablehnung aus den unterschiedlichen politischen Lagern ausgelöst.
Vor allem Anhänger der Hardliner äußern sich in Online-Kommentarspalten und sozialen Netzwerken mit scharfen Worten. So bezeichnet etwa Parviz auf dem der Revolutionsgarde nahestehenden Nachrichtenportal Fars News Hossein Ali Montazeri als einen "Abtrünnigen der übelsten Sorte". Der Geistliche sei nicht mehr als ein "politischer Trittbrettfahrer", der die Werte der Revolution nicht verstanden habe, schreibt er. Ähnlich hart geht Fars-News-Leser Sajjad mit Montazeri ins Gericht: "Er war ein Verräter und letztlich auch ein Feind Gottes".
Der Tonbandaufnahme dürfe so wenig wie möglich Beachtung geschenkt werden, schreibt wiederum Javid. Ihre Veröffentlichung zeige, "dass eine feindliche Verschwörung in vollem Gange ist, um die Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr zu beeinflussen."
Auf der Facebook-Seite von BBC Farsi fordert ein User eine Reaktion der Familie des Revolutionsstifters Khomeini: "Es reicht nicht aus, dass Khomeinis Nachkommen lediglich seine Werke herausgeben. Sie müssen die Beleidigungen Montazeris verurteilen und den Sachverhalt richtigstellen“, so der Iraner. Manche äußern sich auch zu den von Montazeri erhobenen Vorwürfen. So schreibt Mansour: "Die Exekutierten hatten ihr Schicksal verdient. Der einzige Vorwurf, den man der Justiz machen könnte, ist, dass sie es damals versäumt hat, diese Verbrecher früher hinzurichten. Sie hat viel zu lange Gnade vor Recht walten lassen". Auch auf Fars News finden sich solche Stimmen: "Das Urteil Gottes ist eindeutig: Wer die Religion verrät, hat es nicht verdient zu leben. Montazeri hat bis zuletzt seine eigene Religion nicht verstanden."
Kritik an Montazeris "Naivität"
Kritik an Montazeri kommt aber auch von der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums: "Den größten Verrat am iranischen Volk hat Montazeri damit begangen, dass er bis zuletzt am Prinzip der Herrschaft des Rechtsgelehrten festgehalten hat. Nie hat er sich davon distanziert, sondern lediglich gesagt, dass er Khamenei als keinen würdigen Rechtsgelehrten anerkennt", schreibt Teymur unter einem Nachrichtenbeitrag von Voice of America Persian. Montazeri sei ein "sehr naiver Mensch" gewesen, schreibt Milad auf Radio Farda.
Nach den Geschehnissen von 1988 habe er sogar an Khomeini geschrieben, um ihn über die Hinrichtungen aufzuklären. "Er hätte doch wissen müssen, dass Ayatollah Khomeini für die Hinrichtungen verantwortlich war", schreibt der Iraner weiter. Ähnlich äußert sich ein Voice-of-America-Farsi-Besucher mit dem Pseudonym Daadkhaah: "Montazeri war ein guter Mensch, aber leider sehr leichtgläubig. In seiner Position hätte er die Dinge viel besser durchschauen müssen. Zugute muss man ihm jedoch halten, dass er sich gegen die damalige Unmenschlichkeit aufgelehnt hat. Dafür ist er bis zu seinem Ableben vom Regime als persona non grata behandelt worden", so Daadkhaah.
"Ja, Montazeri wollte mit den Verbrechen des Regimes nichts zu tun haben. Aber wenn man zu Unrecht schweigt, macht man sich doch auch mitschuldig. Montazeri hätte damals dem Volk vertrauen und an die Öffentlichkeit gehen müssen. Aber wir sehen, dass die sogenannten Liberalen im Iran genauso sind: Intern kritisieren sie Unrecht, aber ihr öffentliches Gesicht ist regimetreu", schreibt wiederum Armin auf Radio Farda.
Ganz ähnlich sieht das Negar. Auf dem Nachrichtenportal Gooya News schreibt sie: "Wenn ich höre, mit welchen Worten Montazeri diese Verbrechen anprangert, dann habe ich nur Respekt und Bewunderung für diesen Mann übrig. Aber trotzdem verspüre ich Schmerz, weil ich mir die Frage stelle, warum er sich damals nicht an das iranische Volk gewandt hat. Wie will er dieses Versäumnis vor Gott rechtfertigen? Im Endeffekt hat er gezeigt, dass er, wie der gesamte iranische Klerus, nicht an das Volk glaubt. Ich möchte niemanden jemals mehr meine Stimme schenken, der nicht an mich glaubt", so Negar.
"Ein mutiger Kleriker"
Eine andere Meinung vertritt dagegen Mandana. Montazeri habe sich durch seine Haltung während der Massendemonstrationen der Opposition ganz klar am Willen des iranischen Volks orientiert und sich mit seinen regimekritischen Äußerungen in die erste Reihe der Wortführer der Grünen Bewegung katapultiert und so für seine "vergangenen Fehler" rehabilitiert. Er sei ein "großartiger Mensch und darüber hinaus ein äußerst mutiger Kleriker" gewesen, so die Iranerin.
Ähnlich positiv äußern sich auch andere Web-NutzerInnen über den verstorbenen Geistlichen. "Schade, dass Ahmad Montazeri die Tonbandaufnahme seines Vaters nicht früher veröffentlicht hat. So hätten noch viel mehr Menschen erfahren, wie mutig Montazeri tatsächlich war", schreibt Nasrin auf der Facebook-Seite von Deutsche Welle Farsi.
Ihm sei zwar bekannt, dass Montazeri sich gegen die Verbrechen des Regimes gewandt hatte, schreibt Ali, "aber mit eigenen Ohren zu hören, wie tapfer er den Vertretern des Regimes begegnete, hat mich zu Tränen gerührt", schreibt er weiter. "Es ist zu hoffen, dass sich viele so genannte Reformer und Moderate die Tonbandaufnahme Montazeris anhören, damit sie lernen, was es heißt, mutig und integer zu sein, und sich ein Beispiel an ihm nehmen. Möge er in Frieden ruhen."
Und selbst auf Fars News erfährt Montazeri Anerkennung: "Der Großayatollah war ein durch und durch guter Mensch und ein Gefährte Khomeinis. Wenn er diese harschen Worte gewählt hat, dann nur, um den Imam [Khomeini] daran zu erinnern, nicht zuzulassen, dass der Islam von Verbrechern in den Dreck gezogen wird."
Jashar Erfanian