Der Weg zu meinem Olivenbaum ist lebensgefährlich
Auch wenn der Buchtitel "Im Land der Verzweiflung" eher auf die Befindlichkeit der besetzten Palästinenser anspielt, widmet Baram mehr als ein Drittel des Buches den jüdischen Siedlern, bei denen in der Regel Hochstimmung herrscht. Deren redundanten und zur Genüge bekannten Parolen über ihren biblisch begründeten Anspruch auf das ganze Land gewährt der Autor mitunter zu viel Raum.
Auch ihre Selbstrechtfertigung, die Palästinenser lebten unter der israelischen Besatzung weit besser als es ihnen in einem arabischen Land je möglich wäre, muss man nicht immer wieder lesen. Zuweilen gewinnt man gar den Eindruck, dem Verfasser sei es wichtiger, seine eigenen Vorurteile über die jüdischen Siedler zu hinterfragen, als die konkreten Folgen ihrer Präsenz für die palästinensische Bevölkerung konsequent aufzuzeigen – so etwa in seinem Bericht über eine als besonders offen dargestellte Talmudschule in der südlich von Hebron gelegenen Siedlung Otniel. In diesem Zwiespalt offenbart sich das ambivalente Verhältnis vieler Mitte-Links ausgerichteter Israelis zum Siedlungswerk, was auch eine Erklärung dafür liefert, dass sie es letztlich dulden.
Hauptsache die Besatzung hört endlich auf
Erdulden hingegen müssen die Palästinenser die Besatzung, auf deren Ende sie schon seit Jahrzehnten hoffen. Wenn Baram auf seine Frage nach ihren Zukunftsvorstellungen bisweilen die Antwort bekommt, ob Ein- oder Zwei-Staaten-Lösung sei ihnen egal, Hauptsache die Besatzung höre endlich auf und sie erhielten volle Bürgerrechte, so ist diese Auffassung keineswegs repräsentativ.
Sie resultiert bei denjenigen, die sie äußern, vielmehr aus Resignation angesichts der Tatsache, dass sich die jüdischen Siedler immer breiter machen und ihre arabischen Nachbarn häufig ungestraft terrorisieren.
Gute nachbarschaftliche Beziehungen, wie sie von einigen Siedlern gerne beschrieben werden, bleiben die Ausnahme, auch Baram sie als Beleg dafür präsentiert, dass ein Zusammenleben von Juden und Arabern unter israelischer Besatzung völlig unproblematisch sei.
Die zunehmende Verdrängung der Palästinenser schildert am prägnantesten ein lieber anonym bleibender Bauer aus dem Dorf Yanun südlich von Nablus. Die jüdische Siedlung Itamar, deren auf mehrere Hügel verteilte Satellitenbauten das palästinensische Dorf mittlerweile fast umringen, habe in den achtziger Jahren aus einem einzigen umzäumten Haus bestanden. Die Siedler hätten sich nach und nach palästinensischen Weidelands bemächtigt und es zum Futteranbau benutzt.
Palästinensische Bauern im Visier
Mit der Errichtung der Außenposten auf den umliegenden Hügeln hätten auch tätliche Angriffe auf die palästinensischen Bauern begonnen. Die Siedler hätten nicht nur zahlreiche Olivenbäume entwurzelt, sondern auch eine gesamte Vierherde vergiftet.
Mit der Zeit wurde es für den Palästinenser immer gefährlicher, seinen eigenen Grund und Boden zu betreten. Dann habe ihm die israelische Armee den Zutritt zeitlich begrenzt, mit dem Argument, dass dies zu seiner Sicherheit geschehe.
Inzwischen darf er sich nur noch wenige Tage im Jahr um seine Ölbäume kümmern, die ihm deshalb nur noch ein Drittel des früheren Ertrags einbringen. Anzeige gegen jüdische Angreifer erstatte heute so gut wie kein Palästinenser in der Gegend mehr, weil dies nichts bewirke. Da hier kaum noch jemand von der Landwirtschaft leben könne, gehe auch er bei israelischen Arabern in Galiläa arbeiten, wohin man aber nur mit Hilfe gut bezahlter Schlepper gelange.
Ein anderer Dorfbewohner klagt über regelmäßige Angriffe jüdischer Siedler, die der Grund dafür seien, dass immer mehr jüngere Menschen den Ort verließen. Ob es das Dorf in ein paar Jahren überhaupt noch geben werde, sei ungewiss.
Vor diesem Hintergrund wirken Nir Barams Schilderungen von Zusammenkünften einer kleinen israelisch-palästinensischen Dialoggruppe, deren Mitglied er ist, ermutigend, wenn sie sich nicht gerade in Belanglosigkeiten verlieren. Bisweilen verwundert es, was den israelischen Berichterstatter in Staunen zu versetzen vermag: etwa dass es, wie der Schriftsteller in Ramallah feststellt, palästinensische Kinder gibt, die noch nie einen Juden zu Gesicht bekommen haben; oder dass etliche Siedler ihren unmittelbaren palästinensischen Nachbarort kein einziges Mal besucht haben und dies auch nicht beabsichtigen.
Komplexe Realität der Besatzung
Auf palästinensischer Seite, vor allem dort, wo man mit Israelis und dem Besatzungsapparat direkt konfrontiert ist, traf der Autor auf deutlich mehr Interesse für die Gegenseite. Dies ist wohl auch dem Umstand geschuldet, dass sich die Kontakte zwischen den Palästinensern im Westjordanland und ihren Volksbrüdern in Israel in den letzten Jahren zusehends intensiviert haben.
Unreflektiert bleibt bei Baram in diesem Zusammenhang indes die Frage, ob nicht auch diese Entwicklung durch die israelische Seite indirekt gefördert wird, die allem Anschein nach darauf hinarbeitet, die Entstehung eines territorial zusammenhängenden unabhängigen palästinensischen Staates zu verhindern.
Dass Baram im Vorwort einräumt, sich erst durch seine Reisen durch das Westjordanland bewusst geworden zu sein, wie komplex die Realität der Besatzung ist, heißt nicht unbedingt, dass er die Herrschaftsmechanismen dahinter auch immer zu veranschaulichen vermag. Auch deshalb sollte man seiner Einschätzung, die Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung erscheine angesichts der Besatzungsrealität heute unrealistischer denn je, mit einer Portion Skepsis begegnen.
Joseph Croitoru
© Qantara.de 2016
Nir Baram: "Im Land der Verzweiflung. Ein Israeli reist in die besetzten Gebiete". Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Carl Hanser Verlag, München 2016. 317 Seiten, ISBN 9783446250468