Wandern auf schmalem Grat
Meinungsumfragen kommen immer wieder zu dem Ergebnis, dass bis zu 20 Prozent der Deutschen latent antisemitische Ressentiments vertreten. Es gibt Judenhass im Alltag, Übergriffe auf Juden, gegen Synagogen und jüdische Friedhöfe. Wolfgang Benz hat von 1990 bis 2011 das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung geleitet und die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit wesentlich geprägt. 2011 emeritierte er.
Benz gehört zu den deutschen Historikern, die auch über Fachkreise hinaus von einem breiteren Publikum gelesen werden. Antisemitismus und "Islamkritik" ist das Ergebnis seiner über 30-jährigen Beschäftigung mit dem Thema. Das Buch besticht durch seine präzise, sorgfältige Sprache und eine gelegentlich durchscheinende feine Ironie. Es ist deshalb trotz der sperrigen Materie gut lesbar.
Benz erforscht die Facetten antisemitischer Vorurteile, zeichnet ihre historische Entwicklung anhand von Dokumenten nach, findet Parallelen und Unterschiede zu Vorurteilen gegenüber anderen Minderheiten. Er beschreibt die gescheiterten Versuche liberaler Kreise, den Antisemitismus im 19. Jahrhundert und in der Weimarer Republik wirkungsvoll zu bekämpfen. Auch skizziert er die Diskussionen in der Antisemitismus- und Genozidforschung.
Plädoyer für Toleranz und Humanität
Der Historiker versteht seine Arbeit als Plädoyer für Toleranz und Humanität und sieht sich dem Erbe der Aufklärung verpflichtet. Deshalb bringt er immer wieder Differenzierungen an, die aktuelle Debatten in einen größeren historischen Kontext einordnen und auf diese Weise auch in aufgeregten Zeiten einen Beitrag zur Versachlichung leisten können.
Als Benz 2010 in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung Parallelen zwischen Antisemitismus und Islamfeindschaft zog, löste er eine heftige Kontroverse aus, die ihm zum Teil Zustimmung, aber auch deutliche Kritik einbrachte. In seinem Buch begründet er jetzt noch mal ausführlich, wieso er als Antisemitismusforscher zu dieser Schlussfolgerung kommen muss.
Antisemitismus umfasst alle Formen und Stufen der Ablehnung gegenüber Juden durch Diskriminierung und Gewalt oder aber durch Ressentiments. Als Vorurteil gegen Juden tritt der Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart auf, aber seine Erscheinungsformen haben sich immer wieder gewandelt.
Benz beschreibt die Entwicklung vom religiös geprägten Antijudaismus hin zum modernen Antisemitismus, der sozialdarwinistisch argumentiert und die Ausgrenzung von Juden pseudo-wissenschaftlich unterfüttert. Im Unterschied zur christlich geprägten Judenfeindschaft mit ihren Vorwürfen wie "Gottesmord", schreibt der rassistische Antisemitismus den Juden unveränderliche Eigenschaften zu, die sie auch durch einen Wechsel des Bekenntnisses nicht ablegen können.
Im Berliner Antisemitismusstreit von 1879, vor allem in den Schriften des Historikers Heinrich von Treitschke, sieht Benz die Keime zur Zuspitzung des Antisemitismus mit seinem Höhepunkt im Genozid an sechs Millionen Juden in der NS-Zeit. Antisemitismus konstruiert Juden als Projektion negativer Eigenschaften und Verhaltensweisen, die mit der Realität nichts zu tun haben. Die Mehrheitsgesellschaft benutze solche Stereotype, um eigene Positionen durch Ausgrenzung, Abwehr und Schuldzuweisungen zu stabilisieren.
Distanz von populistischer Israelkritik
Es ist ein schmaler Grad, auf dem die Antisemitismusforschung wandelt. Benz distanziert sich von populistischer Israelkritik genauso wie von einer bedingungslosen Gefolgschaft Israels. Vergleiche zwischen der israelischen Besatzung und der Politik der Ausrottung durch die Nazis nennt er "sekundären Antisemitismus": Indem man Juden heute als Täter wahrnimmt, möchte man sich vom Schuld- und Leidensdruck des Holocaust entlasten. Genauso abwegig sei es aber, die Kritiker Israels pauschal als Antisemiten zu bezeichnen und damit jede kontroverse Auseinandersetzung für unmöglich zu erklären.
Die Erkenntnisse aus der Forschung über Antisemitismus und Vorurteile hält Benz als exemplarisch für die Mechanismen bei der Entstehung von Gruppenkonflikten und sozialen Vorurteilen. Deshalb liegt der Wert der Antisemitismusforschung nicht nur in der Vergangenheitsbewältigung. Sie kann der Gesellschaft auch heute vor Augen führen, wie Mechanismen der Ausgrenzung von Minderheiten funktionieren.
"Mit der Integration von Migranten in Europa wiederholen sich strukturell viele Konflikte, wie sie der Forschung aus der Geschichte des Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden bekannt sind", schreibt Benz. Er vergleicht daher die Vorurteile gegen Juden, wie sie sich im 19. Jahrhundert zum rassischen Antisemitismus zusammengebraut haben, mit den Stereotypen, die heute über Muslime kursieren und sich zum Teil in Islamfeindlichkeit bis hin zum Hass auf Muslime äußern.
Populistischer Sozialdarwinismus
Das Argument, im Gegensatz zu Juden würden radikale Islamisten ja eine reale Gefahr darstellen, hält er für "töricht". Vorläufiger Höhepunkt der islamfeindlichen Debatte war im Herbst 2010 Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen", das laut Benz einen "populistisch vorgetragenen Sozialdarwinismus" vertritt.
Trotzdem ist Wolfgang Benz verhalten optimistisch, was den Umgang der Demokratie mit rechtsextremen und rassistischen Tendenzen betrifft. Politischer Extremismus könne zwar eine Menge Radau machen und sich "öffentlich unanständig benehmen", aber es erweise sich immer wieder aufs Neue, dass er keine Chance hat, politisch mitzumischen.
Antisemitismusforschung ist daher heute dringend gefragt als eine "Dienstleistung" für die Mehrheitsgesellschaft, "der die Erkenntnis nahe gebracht werden muss, dass Feindbilder als Konstrukte in ihrer Mitte entstehen". Minderheiten werden zu Opfern von Ressentiments, die sie nicht durch reale Eigenschaften oder tatsächliches Verhalten ausgelöst haben.
Feindbilder wie Antisemitismus und Islamfeindlichkeit dienen der Mehrheit dazu, mit Unwägbarkeiten umzugehen, vor allem in Phasen des Wandels und der ökonomischen Unsicherheit.
Das heißt aber nicht, dass die Minderheit selber frei ist von solchen Zuschreibungen. Auch unter muslimischen Jugendlichen gibt es Antisemitismus. Die Solidarisierung junger, sozial deklassierter Muslime mit dem arabischen Islamismus – in Frankreich noch mehr als in Deutschland –, ist für Benz eine "Reaktion auf versäumte Integrationsangebote" und die gesellschaftliche Ausgrenzung dieser jungen Menschen.
Aus der Perspektive des Historikers, der sich ein Berufsleben lang mit der Geschichte des Antisemitismus beschäftigt hat, kann dann auch die Rede vom jüdisch-christlichen Erbe des Abendlandes nicht überzeugen. Dieses Konstrukt kann für Benz nur jemand verwenden, der entweder naiv und unwissend ist oder die Juden bewusst instrumentalisiert. Vor dem Hintergrund einer langen Tradition des christlichen Judenhasses in Europa und dem Holocaust entlarvt er die Rede vom jüdisch-christlichen Abendland als eine Phrase, die vor allem der Ausgrenzung von Muslimen dient.
Claudia Mende
© Qantara.de 2012
Benz, Wolfgang: Antisemitismus und "Islamkritik". Bilanz und Perspektive. Metropol Verlag 2011
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de