Antisemitismus im Nahostkonflikt

Welchen Stellenwert nimmt der Antisemitismus im Nahostkonflikt ein? Hierüber debattieren der britische Wissenschaftler Brian Klug und Robert Wistrich vom internationalen Zentrum für Antisemitismus-Forschung an der Hebräischen Universität Jerusalem.

Welchen Stellenwert nimmt der Antisemitismus im Nahostkonflikt ein und wann kann politische Opposition gegen Israel als antisemitisch gedeutet werden? Hierüber debattieren der britische Wissenschaftler Brian Klug und Robert Wistrich vom internationalen Zentrum für Antisemitismus-Forschung an der Hebräischen Universität Jerusalem.

Lieber Robert,

Brian Klug; Foto: Monika Jung-Mounib

​​vor kurzem habe ich eine Theatervorstellung auf der Grundlage von Primo Levis' eindringlicher Schilderung seiner Erlebnisse in Auschwitz, "Wenn das ein Mann ist", gesehen. Es kam mir vor, als hörte ich einem Geist aus dem "Haus der Toten" (seine Worte) zu. Während ich nun diesen Brief schreibe, bin ich voller Melancholie. Als der Staat Israel - der aus der Asche der Schoah aufstieg – am Entstehen war, lag Hoffnung in der Luft.

Der neue Staat bot den Überlebenden eine Zuflucht an. Darüber hinaus versprach der Zionismus Juden auf der ganzen Welt zwei Sachen: eine Normalisierung und "ein Ende des Antisemitismus" (Theodor Herzl). Doch mehr als 50 Jahre später ist Israel weit davon entfernt, eine Normalisierung zu erreichen und dem Antisemitismus ein Ende zu bereiten. Im Gegenteil: Israel steht nun im Mittelpunkt dessen, was einige Beobachter als einen neuen Antisemitismus bezeichnen.

Für mich ist Antizionismus nicht unbedingt antisemitisch. Was jedoch fehlt, ist eine Klarheit darüber, wann und wie Antisemitismus vorliegt. Das verwirrt viele durchaus wohlwollende Menschen in Europa und Amerika. Oft sind sie unsicher und fragen sich, ob sie antisemitisch sind, wenn sie Israel kritisieren, sich seiner Politik widersetzen oder den Zionismus anzweifeln. Wie sind wir soweit gekommen?

Diese Verwirrung wird in meinen Augen vor allem durch drei Arten von Feindseligkeiten ausgelöst, die sich in der Praxis überlappen. Zunächst provozieren sowohl die israelische Politik als auch israelische Handlungen eine Wut, die sich gegen den israelischen Staat und gegen das jüdische Volk richtet. Ich denke da besonders an die bevorzugte Behandlung jüdischer Bürger, die repressive Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens sowie die Expansion der jüdischen Siedlungen.

Viel schlimmer aber: Das Hoffen auf eine Normalisierung war irreführend. Denn der Zionismus war äußerst zweideutig. Einerseits sah der Zionismus sich als eine nationale Bewegung der Selbstbestimmung für ein verfolgtes Volk. In diesem Sinne bedeutete Zionismus Befreiung von Europa. Andererseits wurde der Zionismus in der Region des Nahen Ostens als ein europäischer Vorstoß in das arabische und muslimische Kernland betrachtet.

Die ankommenden jüdischen Siedler waren für viele Araber nicht mehr als Europäer mit einem anderen Namen. Anders gesagt: Israel wird als ein Eindringling und als ein Außenposten Europas wahrgenommen, der mit der restlichen Region wenig gemeinsam hat, und gegen den Groll gehegt wird. Israel in diesem Licht zu sehen, ist, um es milde zu sagen, simplifizierend. Diese Haltung aber ist nicht antisemitisch; sie sie anti-westlich.

Schließlich stellen - einige ernsthafte - anti-jüdische Vorurteile eine weitere Art von Feindseligkeit dar. Diese sollten wir nicht unterschätzen. Aber wann wird Widerstand gegen Israel zu antisemitischem Antagonismus?

Herzlich, Brian Klug

Lieber Brian,

Robert Wistrich; Foto: Monika Jung-Mounib

​​Wir stimmen überein, dass nicht alle Kritik an der israelischen Regierungspolitik und am israelischen Verhalten eine anti-jüdische Feindseligkeit ausdrückt. Aber wo verläuft die Grenze? Für mich ist entscheidend, ob "Kritik" am Zionismus darauf abzielt, den jüdischen Staat zu zerstören, ohne zugleich das Verschwinden aller anderen Staaten im Nahen Osten zu fordern.

Ich würde auch untersuchen, ob sich der Kritiker in der systematischen Verunglimpfung oder Verteufelung Israels engagiert. Greift er auf klassische, antisemitische Stereotype zurück, indem er zum Beispiel die angebliche jüdische/zionistische "Verschwörung" zur Herrschaft über die Welt ans Licht zerrt? Indem jüdische/israelische "Kriegsförderer" heraufbeschworen werden, die angeblich die amerikanische Außenpolitik bestimmen? Oder indem er sich auf eine überaus mächtige "jüdische Lobby" beruft, die Gerechtigkeit im Nahen Osten verhindert?

Wenn der "antizionistische" Kritiker Juden für das Chaos und die Unruhen in der Welt verantwortlich macht, dann ist er sicher ein Antisemit. Wenn er israelisches Verhalten als verbrecherisch abstempelt, indem er es unnötig mit "Nazi-Symbolen" assoziiert oder als grundsätzlich "rassistisch" brandmarkt, dann haben wir es mit Antisemitismus zu tun.

Doch ich zweifele eine Deiner Annahmen an. Ist Israel wirklich ein "Eindringling" oder ein "Außenposten des Westens" im Nahen Osten? Du gibst zu, dass das simplifizierend ist, ohne den Grund dafür zu nennen. Ich glaube das Folgende: Die Juden, die in das Land Israel zurückkehren, sind nicht mit europäischen Siedlern auf anderen Kontinenten zu vergleichen.

Sie sind ein Volk von Ureinwohnern, die in ihr historisches Heimatland, das die Quelle ihrer nationalen Identität darstellt, zurückkehren. Die spirituelle und physische Verbindung der Juden mit Zion ist kontinuierlich geblieben und existierte schon Jahrhunderte lang, bevor muslimische Eroberer in den arabischen Wüsten auftauchten.

Darüber hinaus ist über die Hälfte der israelischen Bevölkerung überhaupt nicht "europäisch". Ein exklusiver Panarabismus, islamistischer Fanatismus und der Druck der Dekolonisierung merzte die Juden aus dem arabischen Nahen Osten aus. Vor 60 Jahren gab es mehr als eine Million Juden in den arabischen Ländern. Ihr Exodus allein sagt alles. Israel integrierte sie und gab ihnen Schutz, Stolz, Würde und Freiheit, wie es das auch für die jüdischen Überlebenden des Holocaust getan hat.

Die arabischen Brüder hingegen ließen die palästinensischen Flüchtlinge in den Uno-Flüchtlingslagern verrotten und fütterten sie stattdessen mit revanchistischen Illusionen über ihr unveräußerliches "Recht auf Rückkehr" nach Israel. Wenn die Tragödie im Nahen Osten gelöst werden soll, dann sind es diese Lager – die Saatbeete für Terrorismus und eine Kultur des Hasses – die zerstört werden müssen und nicht der gut gedeihende jüdische Staat.

Herzlich, Robert Wistrich

Lieber Robert,

Brian Klug; Foto: Monika Jung-Mounib

​​Lass mich erklären, warum ich es für simplifizierend halte, Israel als "Eindringling" oder als einen "Außenposten des Westens" im Nahen Osten zu sehen. Für mich ist diese Sichtweise einseitig: so nehmen arabische Augen den jüdischen Staat wahr. Im gleichen Masse ist die Sichtweise, dass die Juden ein "ursprüngliches Volk sind, das in ihr historisches Heimatland" zurückkehrt, einseitig: Das ist ein jüdischer Standpunkt. (Um präziser zu sein, das ist eine Version der zionistischen Sichtweise.)

Beide Seiten neigen also dazu, die Dinge zu vereinfachen. Und solange beide nicht begreifen, dass es einen "Zusammenprall der Wahrnehmungen" gibt, solange werden sich auch ihre Einstellungen nicht wesentlich ändern.

Zudem sind die Narrativen beider Seiten parteiisch. Du schreibst, der Exodus der Juden aus den arabischen Ländern "sage alles", und Du denunzierst die arabischen Staaten für das Elend der Palästinenser. Aber es existiert auch eine andere Narrative, die Israel und den Zionismus für beides verantwortlich macht. Ich kann mir jemanden "von der anderen Seite" vorstellen, der mit Dir übereinstimmt, der jüdische Exodus "sage alles" – aber tatsächlich das Gegenteil dessen meint, was Du meinst.

Beide Seiten spielen damit, der anderen die Verantwortung zuzuschieben. Daran ist an sich nichts auszusetzen. Wo ein Konflikt zwischen Nationen existiert, ist jede Partei dazu berechtigt, für ihre Sache einzutreten. Aber jemand kann ein Befürworter sein, ohne ein Rassist oder Antisemit zu sein.

Das bringt uns zu unserer Frage zurück, wann Opposition gegen Israel oder seine Regierung antisemitisch ist. Du schlägst verschiedene Arten vor, eine Trennlinie zu ziehen. Sicher greifen Kritiker Israel oft unfair heraus, verleumden den Staat oder stellen ihn als verbrecherisch dar. All das ist ohne Zweifel parteiisch.

Aber ist das unbedingt antisemitisch? Nein, das ist es nicht. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist ein tragischer und bitterer Kampf. Die Streitpunkte sind komplex, die Leidenschaften entfacht, und das Leiden beider Bevölkerungen ist groß. In solchen Umständen sind beide Seiten parteiisch.

Wann aber ist diese Parteilichkeit antisemitisch? Ich stimme mit dem, was Du über "klassische antisemitische Stereotypen" sagst, überein und fasse es so zusammen. Durch die Augen eines Antisemiten betrachtet sind Juden prinzipiell fremdartig, mächtig, verschlossen, hinterlistig und parasitär.

Opposition gegen Israel oder seine Regierung ist antisemitisch, wenn diese oder andere Variationen dieser Fantasie verwendet werden – genau wie Kritik an Arabern rassistisch ist, wenn sie sich am Bild des Arabers als einem gerissen, lügnerischen und entarteten Menschen oder als einem hasserfüllten Terroristen, für den das menschliche Leben keinen Wert hat, orientiert.

Doch was kann getan werden, um diese Bigotterie – besonders den Antisemitismus – aus der Debatte über den Nahen Osten herauszuhalten?

Herzlich, Brian Klug

Lieber Brian,

Robert Wistrich; Foto: Monika Jung-Mounib

​​Die Geschichte des Antisemitismus lehrt uns, meiner Meinung nach, dass ein Kontinuum von Vorurteilen existiert, die von der sozialen Diskriminierung der Juden bis hin zur Konzentration in Ghettos und gewalttätigen Formen, wie der Zuspitzung im Holocaust, reichen. Darum sollten wir vorsichtig sein, nicht die systematische Verleumdung des israelischen Staates zu nachsichtig als bloße Parteilichkeit zu behandeln. Diese radikale Verneinung stellt den Zionismus oft als einen korrupten oder "fremdartigen" Einfluss im Nahen Osten dar; als eine rassistische, faschistische oder sogar "nazifizierte" Ideologie.

In den meisten Fällen stützt sich so ein Anti-Zionismus auf eine abschätzige Sichtweise des Judaismus, des Judentums und der jüdischen kollektiven Existenz. Egal, welchen Ursprung diese Sichtweise hat, sie ist eindeutig von den antisemitischen Denkkategorien, die Du nennst, beeinflusst – die Juden als grausam, heuchlerisch and verschwörerisch betrachtet. Islamistische Bewegungen wie die Hamas, Hizbollah und al-Qaida sehen den palästinensischen Konflikt durch das Prisma solch antisemitischer verschwörerischer Theorien, in denen "Kreuzfahrer" und "Zionisten" absichtlich versuchen, Muslime zu erobern, versklaven und zu erniedrigen.

Die Weltanschauung der Jihadis fasst die Zerstörung Israels als Teil eines globalen Kampfes zwischen dem Islam und den "Ungläubigen" auf; es kann keinen Frieden mit den Juden geben, nur Krieg und Jihad. Es erstaunt daher nicht, dass dieser Anti-Zionismus sich auf die Protokolle der Weisen von Zion beruft, die passend für den Heiligen Krieg gegen die Juden "islamisiert" worden sind. Diese Kategorie des Anti-Zionismus hat leider viele Palästinenser infiziert – und einige ihrer Fürsprecher im Westen.

Es feuert den bitteren israelisch-palästinensischen Konflikt an, auf den Du hinweist, aber es nährt auch den perversen Kult des Hasses und des Märtyrertums in der arabischen Welt. Der Antisemitismus ist das Opium der arabischen Massen geworden. Darum wird es schwierig sein, das rückgängig zu machen. Schließlich ist es praktisch für arabische Herrscher, diese Unzufriedenheit und Wut ihrer Völker gegen Israel, Amerika und die Juden zu kanalisieren.

Darüber hinaus wird der militante Islam fortfahren - solange eine freie Debatte, eine Reformation des Islams und die Gleichberechtigung der Frauen in der arabischen Welt fehlen - die politische Leere zu füllen. Aber einiges kann getan werden. Die gegenwärtige intensive anti-jüdische Aufhetzung innerhalb der palästinensischen Autonomiebehörde und der arabischen Staaten muss weniger werden. Europa sollte im Nahen Osten und auf eigenem Boden aktiver gegen muslimischen Antisemitismus eintreten. Ebenso könnte Israel gegenüber dem palästinensischen Leiden empfindsamer reagieren, obwohl das während des Abzugs aus dem Gazastreifen schwierig ist.

Herzlich, Robert Wistrich

Lieber Robert,

Brian Klug; Foto: Monika Jung-Mounib

​​Die Geschichte des Konflikts lehrt uns, meiner Meinung nach, etwas Grundsätzliches über das Subjekt unserer Debatte. Wenn zwei Menschen sich nicht einig werden können, neigen beide dazu, eine feindselige Denkweise zu entwickeln, die die andere verteufelt und sich selbst entlastet. Und während beide negative Stereotype des Anderen benutzen, erkennt keine der beiden Parteien ihre Bigotterie.

Aber Du schreibst, als wenn nur eine Seite im israelisch-palästinensischen Konflikt – die arabische – eine feindselige Denkweise hätte. Ich teile Deine Sorgen über eine Weltanschauung, die die Ausrottung Israels als Teil eines globalen Kampfes zwischen dem Islam und den Ungläubigen auffasst. Und ich bin entsetzt über Gruppen, sie sich auf den klassischen Antisemitismus stützen.

Doch wie steht es mit der Weltanschauung auf der anderen Seite: diejenige, die die Intifada als Teil eines globalen Kriegs gegen die Juden betrachtet? Oder die, die rassistische und islamophobe Bilder gegen die Palästinenser verwendet?

Darüber hinaus stellst Du Verallgemeinerungen über ganze Bevölkerungen an. Du weist auf einen "um sich greifenden Kult des Hasses und des Märtyrertums in der muslimischen Welt" hin, und Du schreibst, der Antisemitismus sei "das Opium der arabischen Massen" geworden. Ebenso stellst Du den "militanten Islam" als eine grundsätzlich antisemitische Kraft dar, "die fortfahren werde, eine politische Leere zu füllen".

Die Wahrheit, glaube ich, ist eine andere. Einerseits gibt es auf beiden Seiten Fanatismus und Bigotterie. Andererseits ist die große Mehrheit der Juden und Muslime mehr daran interessiert, einfach mit ihrem Leben vorwärts zu kommen und nicht Märtyrer oder Helden in einem religiösen oder nationalen Krieg zu werden.

Ja, es hat "ein Kontinuum von Vorurteilen" gegen Juden in der Geschichte des Antisemitismus gegeben. Aber hier handelt es sich um europäische und nicht nahöstliche Geschichte. Wegen der Vorurteile wurden Juden in Europa als eine finstere und mächtige Gruppe wahrgenommen. In Wahrheit jedoch wurden die meisten Juden (wie meine Vorfahren) an den Rand der Gesellschaft gedrängt und verfolgt.

Der Zionismus sah sich genau deshalb als eine politische Bewegung an, die die Machtlosen ermächtigen sollte. Und er war erfolgreich: Israel ist heute eine Großmacht im Nahen Osten. Wenn Menschen auf die Art reagieren, wie der jüdische Staat seine Macht ausübt, besonders in den besetzten Gebieten, oder weil er als Handlanger der mächtigen Vereinigten Staaten wahrgenommen wird: Dann sind das keine Vorurteile. Und es ist auch kein Antisemitismus.

Wenn wir sagen, es sei Antisemitismus, obwohl es keiner ist, werten wir nicht nur das Wort ab, sondern wir verlieren auch an Glaubwürdigkeit und befremden wohlwollende Menschen.

Zu diesen sollten wir stattdessen sagen: "Behandelt Israel wie jeden anderen Staat und den Zionismus wie jede andere politische Bewegung. Kritisiert sie oder widersetzt Euch ihnen auf der Grundlage moralischer, politischer und religiöser Einwände. Aber erinnert Euch an den Antisemitismus: vermeidet es, egal wie versehentlich, negative Stereotypen von Juden heraufzubeschwören."

Zur muslimischen und arabischen Welt sollten wir hinzufügen: "Jedes Mal, wenn Ihr Euch auf den Antisemitismus stützt, gießt Ihr Feuer ins Öl des israelisch-palästinensischen Konflikts – indem Ihr die Gefühle der Wut und der Angst steigert, die - und das ist verständlich - viele Juden in Israel und auf der ganzen Welt spüren."

Trotzdem wird unsere Stimme nicht gehört werden, solange wir uns nicht ganz unparteiisch gegen die Bigotterie auf beiden Seiten - nicht nur gegen den Antisemitismus, sondern auch gegen Islamophobie und anti-arabischen Rassismus - aussprechen.

Herzlich, Brian Klug

Lieber Brian,

Robert Wistrich; Foto: Monika Jung-Mounib

​​gerade hat die britische "Association of University Teachers" (AUT) beschlossen, eine Reihe israelischer Universitäten zu boykottieren.* Ähnliche Maßnahmen gegen russische Akademiker wegen der Gräueltaten in Tschetschenien oder gegen palästinensische Institute, an denen der Jihadi-Terrorismus verherrlicht wird, leitet sie jedoch nicht ein. Nur die pluralistischen Universitäten in Israel werden wegen diskriminierender Behandlung hervorgehoben.

Laut Deinen Kriterien sind doppeldeutige Prinzipien und Scheinheiligkeit der bloße Ausdruck einer Parteilichkeit, die auf beiden Seiten existiert. Ich bin da anderer Meinung. Jede Entscheidung, Israel zu boykottieren, ist nicht zu erklären, ohne den Antisemitismus zu nennen. Deine Position, die alles andere als "objektiv" ist, unterschätzt die Wirkung der politischen Linken und Liberalen, die die Rechtmäßigkeit des Zionismus bezweifeln.

Was wir in den vergangenen Jahren gesehen haben ist tatsächlich ein neuer Antisemitismus, der unter einer menschenfreundlichen Fassade agiert und Israel und die Juden fälschlich als "rassistisch" anprangert.

Darüber hinaus ignorierst Du den unbestreitbaren Mainstream-Charakter des muslimischen Judenhasses im Nahen Osten sowie die Tatsache, wie stark dieser die Debatte in Europa schon vergiftet hat. Ganz im Gegensatz zu dem, was Du andeutest, ist der anti-jüdische Hass nicht mehr nur durch klassische europäische, christliche oder rassistische Motive angetrieben.

Es sind Islamisten, die mit ihrer Verteufelung Amerikas, Israels und der Juden den Ton angeben. Die Medien, Akademiker, Künstler und religiösen und politischen Eliten in der Europäischen Union (EU) machen das duckmäuserisch nach. Darum erscheint Deine Aufforderung, gemeinsam gegen "Islamophobia" und Antisemitismus zu kämpfen als etwas merkwürdig und von der Wirklichkeit entfremdet.

Zudem hilft es der anti-rassistischen Sache nicht, wenn Du das Besondere verschiedener Arten von Bigotterie verneinst, zumal es auch übersieht, dass muslimische Araber oft die Übeltäter anti-jüdischer Angriffe in der EU sind.

In Deinem Brief befasst Du Dich auch nicht ernsthaft damit, wie sich die Fixierung auf Israel als Hauptursache für Gewalt und Terrorismus in der Welt auswirkt. Diese Besessenheit erinnert auf unheimliche Art an die Fantasien, die dem klassischen Antisemitismus zugrunde liegen. Die zeitgenössischen islamistischen und linken Denkweisen machen Israel für die Rückständigkeit und Dekadenz in der arabischen Welt verantwortlich, genau wie Europa die Schuld für seine ungelöste Krise traditionell auf das jüdische "Andere" projiziert hat.

Deshalb glaube ich nicht, dass eine "Normalisierung" für Israel oder das jüdische Volk möglich oder wünschenswert ist. Solche "Lösungen" für den Antisemitismus sind schon ausprobiert worden und gescheitert. Sollte aber die arabische Welt verstehen, dass nicht Israel, sondern Unwissenheit und fehlende Freiheit ihre größten Feinde sind, dann wird ein Frieden tatsächlich möglich sein.

Herzlich, Robert Wistrich

© Qantara.de 2005

Robert Wistrich ist Direktor des Vidal Sassoon Instituts für Antisemitismus an der Hebrew University of Jerusalem. Brian Klug arbeitet als Senior research fellow für Philosophie an der St. Benet's Hall, Oxford. Er ist ferner Gründungsmitglied des Jewish-Forum for Justice and Human Rights.

Initiiert, betreut und übersetzt wurde der Briefwechsel von Monika Jung-Mounib.

*Der Boykott der britischen AUT ist inzwischen wieder aufgehoben worden (Anmerkung der Redaktion).