Idlib: Warten auf den Tod

 Zeltlager in Idlib; Foto: HIHF/Welthungerhilfe
Zeltlager in Idlib; Foto: HIHF/Welthungerhilfe

Millionen Menschen in Syriens nordwestlicher Provinz Idlib erhalten Hilfslieferungen über nur einen Grenzübergang. Das UN-Mandat, das die Öffnung regelt, läuft bald aus. Sollte es nicht verlängert werden, droht eine Katastrophe. Ein Bericht von Diana Hodali

Von Diana Hodali

Etwa 40 Kilometer sind es von Idlib Stadt bis zum syrisch-türkischen Grenzübergang Bab al-Hawa. Huda Khayti, die Leiterin des Frauenzentrums in Idlib, fährt mehrmals in der Woche hin, um nach den Menschen zu sehen, die dort in Flüchtlingslagern entlang des Grenzgebiets leben, und um sie mit Hilfsgütern zu versorgen. Seit Jahren harren dort syrische Binnenflüchtlinge unter schwierigen humanitären Bedingungen in Zelten aus. Huda Khayti sorgt sich um sie.

"Diese Menschen sind besonders dringend auf Hilfe angewiesen", sagt sie am Telefon. "Sie haben keine Stimme. Sie werden von der Welt nicht gesehen. Wenn die Hilfe ausbleibt, dann werden sie leise sterben - entweder vor Hunger oder an einer Krankheit."



Bab al-Hawa könnte geschlossen werden 

Dass die Hilfe ausbleiben könnte, ist eine reale Gefahr. Denn das UN-Mandat, das die Grundlage für Hilfslieferungen in die Region Idlib darstellt, läuft bald aus. Im Jahr 2014 hatte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschlossen, vier Grenzposten nach Nordwestsyrien zu öffnen, um die Menschen der letzten verbliebenen Rebellenhochburg in Syrien mit dem Nötigsten versorgen zu können.

Seit 2018 leitet Huda Khayti (rechts) das Frauenzentrum in Idlib - unter anderem leisten sie dort auch Aufklärungsarbeit zum Thema Corona; Foto: H. Khayti
Huda Khayti (rechts) leitet seit 2018 das Frauenzentrum in Idlib. Mehrmals die Woche fährt sie dorthin hin, um nach den Menschen zu sehen, die in den Flüchtlingslagern entlang des Grenzgebiets leben, und um sie mit Hilfsgütern zu versorgen. Seit Jahren harren dort syrische Binnenflüchtlinge unter schwierigen humanitären Bedingungen in Zelten aus. "Diese Menschen sind besonders dringend auf Hilfe angewiesen", sagt Khayti am Telefon. "Sie haben keine Stimme. Sie werden von der Welt nicht gesehen. Wenn die Hilfe ausbleibt, dann werden sie leise sterben - entweder vor Hunger oder an einer Krankheit."

Das Mandat musste immer wieder erneuert werden. Syrien und sein engster Verbündeter Russland aber stellten sich zunehmend quer. 2020 kam es dann zu einem mühsam errungenen Minimalkompromiss, nur noch den Grenzübergang Bab al-Hawa für ein Jahr offen zu halten. Diese Frist endet nun am 10. Juli.

Unterschiedlichen Schätzungen zufolge leben etwa vier Millionen Menschen in der Provinz Idlib, über eine Million von ihnen in Flüchtlingslagern. Viele sind schon mehrfach innerhalb Syriens geflohen. Seit die Resolution 2014 verabschiedet wurde, wurde es für Hilfsorganisationen immer schwerer, den Menschen Nahrungsmittel und Medikamente zukommen zu lassen. Durch den einen verbliebenen Grenzübergang Bab al-Hawa rollen nach Angaben der Vereinten Nationen heute noch etwa 1000 Lastwagenladungen pro Monat.



Etwa 75 Prozent der vier Millionen Bewohner der Provinz Idlib sind laut Human Rights Watch auf humanitäre Hilfe angewiesen. Es gibt nur noch drei funktionierende Krankenhäuser, die COVID-Infektionszahlen steigen, nur wenige Impfstoffdosen haben die Region bisher erreicht. Sowohl Human Rights Watch als auch die Nothilfe der Vereinten Nationen befürchten das Schlimmste für die Menschen, wenn Bab al-Hawa geschlossen würde.



Eine Katastrophe droht in Idlib

"Wenn diese Hilfen ausbleiben, dann endet das in einer echten humanitären Katastrophe, denn dann bleiben auch die Medikamente aus. Wir werden auch bombardiert. Wie sollen die Verletzten, die Kranken, die COVID-Infizierten dann noch versorgt werden?", sagt Huda Khayti verzweifelt. "Wie kann unsere humanitäre Versorgung überhaupt zur Disposition stehen?"

Seit Wochen bombardieren Assad und seine Unterstützer aus Russland südliche Gebiete in der Region Idlib, besonders die Gegend um Jabal al-Sawiyeh gerät dabei immer wieder unter Beschuss. Dabei herrscht eigentlich offiziell ein Waffenstillstand.



Bei einer digitalen UN-Sicherheitsratssitzung Ende Mai hat Russland bereits angedeutet, dass es einer Verlängerung des Mandats zur Öffnung der Grenze eher nicht zustimmen wird. US-Außenminister Anthony Blinken hingegen drängte darauf, einen zweiten Grenzübergang zu öffnen, um mehr Hilfen in die letzte Rebellenhochburg bringen zu können.

Syrien Türkei Grenzübergang Bab el Hawa; Foto: Khalil Ashawi/Reuters
Grenzübergang bei Bab al Hawa: Nur hier kommt derzeit noch humanitäre Hilfe über die Türkei in die Provinz Idlib. Das UN-Mandat, das die Grundlage für Hilfslieferungen in die Region darstellt, läuft am 10. Juli aus. Russland hat bereits signalisiert, dass es eher nicht bereit sein wird, das UN-Mandat zu verlängern. "Wenn diese Hilfen ausbleiben, dann endet das in einer echten humanitären Katastrophe, denn dann bleiben auch die Medikamente aus“, sagt Huda Khayti verzweifelt. "Wir werden auch bombardiert. Wie sollen die Verletzten, die Kranken, die COVID-Infizierten dann noch versorgt werden? Wie kann unsere humanitäre Versorgung überhaupt zur Disposition stehen?"

"Die Diskussion um einen Checkpoint dreht sich de facto um das absolute Minimum", sagt Till Küster, Syrien-Koordinator der Organisation Medico International. "In der Realität müssten eigentlich mehr Checkpoints wieder geöffnet werden."

Medico International unterstützt das Frauenzentrum, das Huda Khayti leitet. Und die Organisation sendet Güter zur Eindämmung der Corona Pandemie für die Menschen in den Flüchtlingslagern. Unabhängige Organisationen wie Medico International nutzen bereits jetzt Transportwege für Hilfsgüter nach Idlib abseits des offiziellen UN-Hilfsprogramms, so Küster. Doch das bedeutet, dass sie dafür auf die Sicherheit und die Zollbefreiung der UN verzichten müssen.



Russland will Druck ausüben

"Wenn immer weniger Güter ins Land kommen, werden die Preise hier explodieren", befürchtet Huda Khayti zudem. Durch die Abwertung der syrischen Lira sind die Preise für Lebensmittel, Treibstoff und andere Güter des täglichen Bedarfs eh schon in die Höhe geschossen.

"Russland spielt Machtspiele mit dem Westen", sagt Bente Scheller, Syrien-Expertin und Leiterin des Referats Nahost und Nordafrika der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Grundsätzlich kann die UNO in einem Mitgliedsland nur mit der Zustimmung von dessen Regierung tätig sein, das gilt auch für Syrien. Als Schutzmacht Assads drängt Russland seit längerem darauf, alle Hilfe über Damaskus laufen zu lassen. Das Regime, das Hilfe nur Assad-treuen Bevölkerungsgruppen zukommen lässt, erhielte durch die Schließung des Grenzübergangs in Bab al-Hawa ein weiteres Druckmittel – und könnte die letzte Rebellenhochburg durch den Druck auf die Bevölkerung wieder für sich einnehmen. Zudem würde die Legitimität Assads weiter gestärkt.



Die Türkei profitiert auch

Doch nicht nur Assad würde von der Schließung des Grenzübergangs in Bab al-Hawa profitieren. "Sie würde auch die Rolle der Türkei aufwerten", sagt Bente Scheller. "Es liegt dann in ihrer Hand, wieviel Hilfe sie überhaupt zulassen will - und an wen diese geht. Humanitäre Interessen spielen dabei nur eine mittelbare Rolle: Wenn die Türkei Hilfslieferungen zulässt, dann um zu verhindern, dass noch mehr Menschen aus Syrien in die Türkei flüchten."

 

In Syrien herrscht seit über zehn Jahren Krieg. Hunderttausende Menschen wurden getötet, rund zwölf Millionen wurden vertrieben, etwa die Hälfte davon innerhalb des Landes. Das Land ist in Gebiete unter der Kontrolle von Regierung, Rebellen und Kurden geteilt.



"Wir brauchen jetzt Hilfe"

Seit dem Frühjahr 2018 leitet Huda Khayti das Frauenzentrum in Idlib. Sie war damals dorthin gekommen, als demokratische Oppositionelle und Rebellengruppen gleichermaßen in die Provinz gebracht wurden, die unter anderem von der extremistisch-islamistischen Gruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) kontrolliert wird - weit weg vom Assad-Regime.



"Ich habe in Ghuta erlebt, was es bedeutet, wenn das Regime Menschen aushungern lässt. Sie haben damals alles abgeriegelt und nichts und niemanden mehr in die Stadt gelassen. Es war fast schlimmer als die Bomben, die wir ertragen mussten", sagt sie. "Ich will das nicht noch einmal erleben. Das Gefühl ist hässlich und es macht mir Angst, dass uns das hier droht."

Sie befürchtet, dass wieder Menschen fliehen müssen. Doch wohin? Innerhalb Syriens gibt es kaum eine Möglichkeit und die Türkei hält die Grenze dicht. "Was erwartet man von vier Millionen Menschen? Dass wir hier sitzen und sehenden Auges auf unseren Tod warten?", fragt sie. "Die Welt agiert immer erst dann, wenn die Katastrophe schon im Gange oder vorbei ist. Wir wollen, dass ihr wisst, dass wir jetzt Hilfe brauchen."

Diana Hodali

© Deutsche Welle 2021