Hindu-Nationalisten deuten den Freiheitskampf um
Im Hochsommer 2020, mitten im Corona-Lockdown, kam Premierminister Narendra Modi nach Ayodhya. Aus der Kleinstadt in Zentralindien ist in den vergangenen Jahrzehnten ein Politikum geworden: Hier soll der neue Tempel für den hinduistischen Gott Rama erbaut werden. Zuvor stand dort die Babri-Moschee, 1992 zerstört von den Anhängern der heutigen Regierungspartei, der Bharatiya Janata Party (Indischen Volkspartei, BJP).
Erst im November 2019 hatte das höchste Gericht in Neu-Delhi grünes Licht für den Bau des umstrittenen Tempels gegeben, der jahrzehntelang Gegenstand eines Rechtsstreits zwischen den beiden Glaubensgemeinschaften in Indien war.
Modi war zur Grundsteinlegung für den Bau des Rama-Tempels gekommen, für den seine Partei und viele hindu-nationalistische Organisationen seit mehr als 30 Jahren mobilisieren. Der Neubau des Tempels war eines der zentralen Versprechen der BJP im Wahlkampf zum indischen Unterhaus vergangenes Jahr.
„Dieser Tempel wird zu einem Symbol unseres Erbes, unseres unerschütterlichen Glaubens werden“, triumphierte Modi, der einst seine politische Karriere in der hindu-nationalistischen Kaderorganisation RSS mit dem Versprechen begonnen hatte, sein Leben dem Kampf um ein „hinduistisches Indien“ zu widmen.
Der Tag der Grundsteinlegung am vermeintlichen Geburtsort des Gottes Rama habe „eine ähnliche Bedeutung für das Land wie der Unabhängigkeitstag“, sagte Modi. So wie „jeder Teil der Gesellschaft den Freiheitskampf unterstützt“ habe, gründe der Bau des Tempels auf der „Zusammenarbeit von Menschen aus dem ganzen Land.“
Im Unabhängigkeitskampf gegen das britische Kolonialreich spielte die bereits existierende hindu-nationalistische Kaderorganisation RSS – sie wurde in den 1920er Jahren nach dem Vorbild von Mussolinis „Schwarzhemden“ in Italien gegründet – keine Rolle. Gegen die beiden populärsten Persönlichkeiten im Unabhängigkeitskampf, die eine gänzlich andere politische Linie verfolgten, kam sie nicht an: Jawaharlal Nehru, der spätere Premierminister Indiens, und Mahatma Gandhi.
Beide hatten Europa besucht und teilten weitgehend die antifaschistische Haltung ihrer dortigen Kontakte. Eine Zusammenarbeit mit den Achsenmächten Japan, Deutschland und Italien im Kampf gegen die britischen Kolonialherren kam für sie nicht in Frage.
Die Umdeutung des Freiheitskampfes
Die indischen Muslime hatten hingegen eine tragende Rolle in der Unabhängigkeitsbewegung. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung war damals – das Kolonialreich umfasste auch das heutige Pakistan und Bangladesch – weitaus größer als heute. Mit seinem Vergleich des Freiheitskampfes mit dem Bau des Rama-Tempels grenzt Modi die gegenwärtig 170 Millionen indischen Muslime bewusst aus.
Auch wenn zwei muslimische Repräsentanten bei der Grundstein-Legung vertreten waren, hatten sie doch nicht viel mehr als eine Alibi-Funktion: Für den Bau des Rama-Tempels hat die religiöse Minderheit der Muslime definitiv nicht mobilisiert, denn seit der Zerstörung der Babri-Moschee 1992 haben sich Pogrome und Lynchmorde an der religiösen Minderheit multipliziert, begleitet von der Hasspropaganda vieler BJP-Politiker.
Modis Vergleich ist ein weiterer, symbolträchtiger Bruch mit dem postkolonialen Vermächtnis der Unabhängigkeitsbewegung, die das neue Indien als säkularen, multireligiösen Staat verstanden hat.
„Es gibt keinen Vergleich zwischen dem Freiheitskampf, der ein einigender Kampf war, an dem alle Teile des Landes teilnahmen, und der Agitation zum Bau des Rama-Tempels, der auf eine Polarisierung der Gesellschaft abzielt und zu Spaltungen führt“, heißt es im Leitartikel der Tageszeitung Deccan Herald am Tag nach der Rede Modis.
Hindu-Nationalisten wollen seit Jahren die Unabhängigkeitsbewegung für sich vereinnahmen, um so ihre Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhöhen. Die Regierungspartei BJP und ihre Kaderorganisation RSS pflegen zu diesem Zweck einen Opfermythos. Indien sei in der Geschichte immer wieder von „ausländischen Invasoren“ überfallen worden, die die hinduistische Bevölkerungsmehrheit unterdrückt hätten: erst von den muslimischen Mogul-Herrschern, später von den britischen Kolonialherren, die Indien bis 1948 regierten.
Gandhi, die Ikone der Unabhängigkeitsbewegung, ist vielen Hindu-Nationalisten verhasst: Sie machen ihn mitverantwortlich für die „Spaltung“ des ehemaligen Kolonialreiches in Indien und Pakistan. Auch der Gandhi-Mörder Naturam Godse berief sich auf diese Ideologie und warf Gandhi vor, gegenüber Muslimen zu nachgiebig gewesen zu sein.Aufkündigung eines postkolonialen Konsenses
Es ist kein Zufall, dass die Hindu-Nationalisten mit ihrer Politik ausgerechnet in den letzten drei Jahrzehnten Erfolg hatten. Bis Anfang der 1990er Jahre spielten sie politisch keine nennenswerte Rolle. Die indische Bevölkerung wurde durch einen postkolonialen Konsens zusammengehalten:
Dieser Konsens bestand unter anderem aus der Hoffnung, dass alle Inderinnen und Inder, egal welcher Kaste oder Religion, irgendwann an Wohlstand und Fortschritt teilhaben würden.
Die aus der Unabhängigkeitsbewegung hervorgegangene Kongresspartei galt vielen – trotz aller Korruptionsaffären und Ränkespiele – bis dahin als Garant dieses Versprechens, das trotz allen sozialen Missständen im kollektiven Bewusstsein verankert war.
Dieser Konsens wurde von der Kongresspartei selbst aufgekündigt: Auf Druck von Internationalem Währungsfonds und Weltbank musste sich das hoch verschuldete Indien Anfang der 1990er Jahre für den Weltmarkt und damit der Konkurrenz um die günstigsten Produktionskosten öffnen und seine Wirtschaft deregulieren.
Das heißt unter anderem, dass die regierende Kongresspartei Subventionen für die Landwirtschaft - bis heute die wichtigste Einkommensquelle für die Bevölkerung - zusammenstreichen, Zölle herunterfahren und ausländische Investoren ins Land lassen musste.
Diese neoliberale Wende ermöglichte es gleichzeitig den indischen Eliten, sich schamloser denn je zu bereichern. Die soziale Schere ging immer weiter auseinander. Den Hindu-Nationalisten gelang es mit ihrer indienweiten Kampagne zur Zerstörung der Babri-Moschee, von diesem Versäumnis abzulenken, indem sie eine „neue“ kollektive Identität populär machten.
Der britische Historiker Perry Anderson spricht von einem “religiösen Kompensationsversuch, der wie eine Flutwelle kam“, als „die sozialen Versprechen der Kongresspartei verblasst waren“. Die Hindu-Nationalisten sind gewissermaßen der Kitt, der den korrupten Eliten des Landes Macht und Wohlstand sichert. Sie suggerieren den niederen Kasten einen vermeintlichen gemeinsamen Kampf und lenken damit soziale Unzufriedenheit um in Hass auf andere Religionen und Minderheiten.
Hindu-Nationalisten und der Mythos des Rama-Tempels
Renommierte Historiker stellen den Mythos des Rama-Tempels infrage, wie etwa K.N. Panikkar, mittlerweile emeritierter Professor für Kulturgeschichte an der Jawaharlal Nehru Universität in Neu-Delhi. Wenn an der Stelle der Babri-Moschee zuvor ein Hindu-Tempel gestanden hätte, müsste das in den schriftlichen Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts auftauchen, so seine These.
Aber stattdessen verwiesen viele dieser Quellen auf die tolerante Haltung des damaligen Mogul-Herrschers Zahir-ud-din-Muhammad Babur gegenüber anderen Religionen. Zahlreiche Beispiele belegten, dass Babur aus Rücksicht gegenüber Hindu-Heiligtümern sogar auf den Bau von Moscheen verzichtet habe. Der Historiker Panikkar datiert den Mythos des Rama-Tempels auf das vorletzte Jahrhundert.
„Dass die Babri-Moschee anstelle eines Tempels errichtet worden sei, ist eine relativ neue Annahme“, erklärt der Wissenschaftler. „Ihren Ursprung hat sie in den Versuchen der Kolonialherrscher im 19. Jahrhundert, die Geschichte des Subkontinents umzuschreiben. Dabei haben sie die gegenseitige Feindschaft religiöser Gemeinschaften in den Mittelpunkt gestellt.“
In diesem Sinne sind die Hindu-Nationalisten die Vollstrecker eines kolonialen „Teile und Herrsche“, nicht aber die Erben des antikolonialen Vermächtnisses der Unabhängigkeitsbewegung, wie sie selbst gerne behaupten.
Auch wenn die BJP mit ihrer fundamentalistischen Agenda zweimal in Folge die absolute Mehrheit im indischen Unterhaus erringen konnte – das war über dreißig Jahre lang keiner Partei mehr gelungen – ist sie doch weit davon entfernt, auf die Unterstützung aller Hindus zählen zu können. Viele Hindus stehen der BJP nach wie vor skeptisch gegenüber.
Über Jahrhunderte haben verschiedene Religionen auf dem Subkontinent zusammengelebt. Außerdem wirkt die gegenüber anderen Religionen grundsätzlich tolerante Haltung des Hinduismus nach wie vor prägend auf die Mehrheit der Hindus.
Das unterstreichen auch die Wahlergebnisse: Zum Erfolg der BJP hat wesentlich das Mehrheitswahlrecht beigetragen. Die meisten der 80 Prozent Inder, die der Religion des Hinduismus zugeordnet werden, sind nicht für die BJP: Von 604 Millionen Urnengängern stimmte nur ein Drittel für die Hindu-Nationalisten. Angesicht der zersplitterten und schwachen Opposition reichte das allerdings für die absolute Mehrheit.
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Dominik Müller ist Autor des Buches „Indien – Die größte Demokratie der Welt? Marktmacht, Hindunationalismus, Widerstand“, Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg, 2014.