Geballte Wut
Seit einer Woche beherrscht vor allem ein Thema die ägyptischen Medien – ein Thema, das Wut, Verzweiflung und tiefe Empörung bei der Bevölkerung hervorruft: der Mord an der 32jährigen Marwa al-Sherbini Anfang Juli im Dresdner Landgericht.
Auf den Titelseiten aller großen ägyptischen Tageszeitungen, im Internet und im Fernsehen ist seitdem von vermeintlicher Islamophobie und Diskriminierung der Muslime im Westen die Rede.
Eine kolorierte Zeichnung auf der Titelseite der ägyptischen Oppositionszeitung "Al-Dostour" zeigt wohl am besten, wie tief die Wut bei vielen Ägyptern sitzt: Die Zeichnung zeigt einen schreienden Mann, der in der rechten Hand ein gezücktes Messer hält und damit eine Frau attackiert.
Ein anderer Mann kommt von hinten angelaufen, um sich rettend zwischen den Angreifer und die schreiende Frau zu werfen. Im Hintergrund sitzt ein Richter, mit offenem Mund, und ein Polizist zielt mit seiner Waffe auf den Angreifer. Es ist eine dramatische Szene, die wie schlechtes Kino aussieht, aber leider zur Realität geworden ist.
Brutaler Mord
Der 28jährige Russland-Deutsche Axel W. stach 18 Mal auf die wehrlose Frau ein, ihr dreijähriger Sohn musste die Tat mit ansehen, ebenso wie ihr Ehemann, der ebenfalls schwer verletzt wurde, als er sich schützend vor seine Frau stellte. Er erlitt nicht nur Stichwunden, sondern wurde obendrein versehentlich von einem Polizisten angeschossen, der den Ägypter offensichtlich für den Angreifer hielt.
Marwa al-Sherbini, im vierten Monat schwanger, starb noch im Gerichtssaal an ihren Verletzungen. Der Grund für den brutalen Mord war offenbar der Fremdenhass des Russland-Deutschen. Die Staatsanwaltschaft in Dresden spricht von einem "ausländerfeindlichen Angriff eines fanatischen, einsamen Wolfes."
Die ausländerfeindlichen Äußerungen Axel W.'s hatten auch zu dem Verfahren geführt, an dessen Ende Marwa al-Sherbini auf so tragische Weise umkam. Im vergangenen Jahr hatte er al-Sherbini, wohl auch weil sie den islamischen Kopfschleier trug, auf einem Spielplatz als "Islamistin", "Terroristin" und "Schlampe" beschimpft.
Al-Sherbini, deren Ehemann Elwi Ali Okaz als Doktorand am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik forschte, zog vor Gericht, das den 28jährigen zu einer Geldstrafe von 780 Euro verurteilte. Während des Berufungsprozesses kam es dann zu der tödlichen Attacke.
Trauer und Protest
Am vergangenen Sonntagabend wurde al-Sherbinis Leiche nach Kairo überführt. Schon am Flughafen warteten Hunderte, um den Leichnam in Empfang zu nehmen. Zu ihrer Beerdigung am letzten Montag in Alexandria, ihrer Heimatstadt, kamen Tausende Trauernde.
Auch vor der deutschen Botschaft in Zamalek, einem noblen Stadtviertel in Kairo, versammelten sich Demonstranten. "Terrorist, Terrorist, (Axel W.) ich werde meinen Schleier nicht abnehmen", skandierten die Frauen, und auch: "Es gibt keinen Gott außer Gott, und die Deutschen sind seine Feinde." Einige Demonstranten forderten Vergeltung und die Todesstrafe für "den Terroristen", wie er in der Presse genannt wird.
Empörung und Verzweiflung über den Tod der jungen Mutter paaren sich in Ägypten mit der Wut über das Desinteresse der westlichen Medien an der Tat. Bikyamasr zum Beispiel schreibt in seinem Blog: "Westliche Medien können nicht schreiben, dass eine Araberin in Europa aufgrund von Hass Opfer einer Gewalttat wurde, weil das gegen alles geht, wofür sie stehen: Die Araber sind die Feinde."
Der Blogger Hisham Maged stellt die Frage, die sich zurzeit viele Ägypter stellen: Was wäre passiert, wenn eine schwangere Deutsche in Ägypten erstochen worden wäre?
Für viele in Ägypten scheint in diesen Tagen klar zu sein, dass Muslime im Westen aufgrund ihrer Religion diskriminiert werden. Die Pharmazeutin Marwa al-Sherbini wurde wegen ihres Kopfschleiers attackiert und getötet.
Eine "Märtyrerin mit Kopftuch"
Al-Sherbinis Mutter erklärte der Oppositionszeitung "Al-Wafd", ihre Tochter habe Probleme gehabt, einen Job in Deutschland zu finden, weil sie das Kopftuch trug. Nun wird die Tote in Ägypten als "Märtyrerin mit Kopftuch" verehrt.
Marwas Bruder, Tarek al-Sherbini, behauptet gar, dass ihr Mann absichtlich angeschossen wurde, weil er nicht blond sei. "Der Wächter dachte wohl, weil er nicht blond ist, muss er der Angreifer sein", sagte er im ägyptischen Fernsehen.
Deutschlands Botschafter in Ägypten, Bernd Erbel, bemüht sich dieser Tage sichtlich, diesen Vorurteilen entgegenzutreten und die Wogen zu glätten. In Interviews, die er in fließendem Arabisch hält, betont er immer wieder, dass es sich um die Tat eines Einzelnen handelt: "Der Vorfall reflektiert in keiner Weise das allgemeine deutsche Empfinden gegenüber Ägyptern. Die Muslime in Deutschland werden sehr respektiert."
In der ägyptischen Presse wurde wohlwollend aufgenommen, dass Erbel persönlich zum Flughafen fuhr, um die Leiche in Empfang zu nehmen und der Familie sein Beileid aussprach. Er fordert eine härtere Bestrafung, weist aber auch immer wieder daraufhin, dass in Deutschland verschiedene Religionen und Kulturen in Frieden miteinander leben.
Kritik an der eigenen Regierung
Doch viele in Ägypten fragen sich, wo die offizielle Entschuldigung der Kanzlerin bleibt. Aber auch die eigene Regierung wird von den Demonstranten und in den Medien heftig angegangen.
"Als die Fußballnationalmannschaft aus Südafrika zurückkam, wurde sie von Gamal Mubarak am Flughafen empfangen", sagt ein Demonstrant. "Wo war er am Sonntagabend, als Marwa al-Sherbinis Leichnam dort ankam?"
Außenminister Ahmed Aboul Gheit wird vorgeworfen, weder die Interessen al-Sherbinis und ihrer Familie, noch die Interessen Ägyptens zu repräsentieren. Parlamentspräsident Fathi Surour forderte in der regierungsnahen Tageszeitung "Al-Ahram" eine Gesetzesänderung, die es ermöglichen sollte, Kriminelle wie Axel W. in Ägypten vor Gericht zu stellen.
"Wir müssen unsere Bürger im Ausland beschützen können", erklärt der Parlamentssprecher seinen Vorstoß.
Immer wieder werden in Ägypten lebende Deutsche dieser Tage auf den Vorfall in Dresden angesprochen. Die Menschen wollen über den Mord reden, aber auch verstehen wie solch eine Tat in einem Gerichtssaal in Deutschland überhaupt geschehen konnte.
"Meine Studienkollegen sind eigentlich recht schnell davon zu überzeugen, dass der Mann ein Verrückter ist", erzählt eine deutsche Masterstudentin an der Amerikanischen Universität in Kairo.
Jedoch bliebe immer die eine Frage, auf die auch die 28jährige Deutsche keine Antwort findet: Wie konnte dieser Verrückte ganze 18 Mal auf die junge Frau einstechen, ohne das jemand im Gerichtssaal dazwischen ging?
Dies würde zwar nicht laut geäußert, erzählt die Studentin, aber die Frage stehe immer Raum: "Ist es aufgrund fahrlässig unterlassener Sicherheitsmaßnahmen, die man bei Muslimen stillschweigend in Kauf nimmt, weil man die eh nicht so gerne hat?"
Vorurteile über das Leben von Muslimen im Westen
Bei den zahlreichen Gesprächen, die Deutsche dieser Tage mit Ägyptern führen zeigt sich auch, dass es eklatante Wissenslücken und Vorurteile über das Leben von Muslimen im Westen gibt.
"Es sind hauptsächlich sorgenvolle Fragen, bei denen es um die Sicherheit von Muslimen geht", sagt die Studentin. Für viele sei es überraschend zu erfahren, dass knapp 3,5 Millionen Muslime alleine in Deutschland leben, dass sie ihre Religion frei ausüben dürfen und es in allen größeren Städten Moscheen gibt.
Ebenso wie sich in den westlichen Medien das Bild des Muslims als Terrorist und der unterdrückten Frau im Schleier standhaft hält, glauben viele Ägypter, dass Muslime in Europa aufgrund ihrer Religion unterdrückt und diskriminiert werden.
Der Fall Marwa al-Sherbini zeigt deutlich, wie viele Vorurteile und eklatante Missverständnisse über die jeweils andere Kultur auf beiden Seiten existieren, und wie viel kultureller Austausch und Verständigungsarbeit noch vor uns liegen.
Amira El Ahl
© Qantara.de 2009
Amira El Ahl berichtete zwei Jahre lang als Auslandskorrespondentin für den SPIEGEL aus Kairo. Seit 2008 ist sie als freie Korrespondentin im Nahen Osten tätig.
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