Raffiniert enigmatisch
Würde den Werken türkischer Literaten hierzulande nur annähernd so viel Aufmerksamkeit gezollt wie deren politischer Bedrängung und den dafür Verantwortlichen, wäre unser Türkei-Bild gewiss runder.
Für die Gattung Kurzgeschichte trifft dieses Missverhältnis, für welches das deutliche Überwiegen erdoğankritischer Sachbücher gegenüber Belletristikübersetzungen aus dem Türkischen nur ein weiteres Sympton ist, umso mehr zu.
Erfreulicherweise sorgt hier der Berliner Binooki Verlag für eine Horizonterweiterung – jetzt mit dem bemerkenswerten Erzählband "Das Buch der entbehrlichen Gedanken" von Ömür Iklim Demir.
Der zehn Kurzgeschichten, darunter eine knapp einseitige Miniatur, versammelnde Band ist Demirs Debüt, das 2015 in dem renommierten Istanbuler Verlag YKY erschien. Der 1980 geborene frühere Strafanwalt und Werbetexter erhielt dafür gleich mehrere Literaturpreise. Sie öffneten ihm wohl auch den Weg nach Europa; er lebt seit etwa zwei Jahren in Amsterdam.
Demirs Geschichten spielen zwar in Istanbul, könnten sich aber genauso in jeder beliebigen größeren türkischen Küstenstadt zutragen. Wer hier das oft beschworene Flair der alten Bosporus-Metropole erwartet, wird enttäuscht.
Literarisch kunstvoll durch Raum und Zeit
Auch sind die stets glaubhaft gezeichneten Protagonisten mit den bekannten Turbulenzen der türkischen Geschichte nur sehr lose und auch nur in wenigen Fällen verbunden. Wenn Historisches überhaupt begegnet, so allenfalls angedeutet in den Erinnerungen solcher Figuren, die meist wie in die Jahre gekommene Linksaktivisten anmuten und denen die eigene politische Vergangenheit höchstens wie ein Jugendstreich vorkommt – oder, wie im Falle des kauzigen Bankers Taner, wie ein Kapitel aus einem anderen Leben.
Doch bei Demir bedeutet aus der Geschichte keineswegs auch aus der Zeit zu fallen. Im Gegenteil. Dieser Autor liebt und versteht es, kunstvoll Raum und Zeit erzählerisch so durcheinanderzuwirbeln, dass der Leser immer aufs Neue überrascht und verblüfft wird. So verwandelt sich ausgerechnet der abgestumpfte Misanthrop und Womanizer Taner in einen Gefühlsmenschen durch die zufällige Begegnung mit einer fremden Frau, die ihn für jenen Mann hält, mit dem sie sich über eine Kontaktanzeige verabredet hatte und den sie wegen ihrer zweistündigen Verspätung verpasste.
Irgendwann beim Lesen dieser zweiten Geschichte in dem Band wird einem schlagartig bewusst, dass hier die erste, von zwei Partnersuchenden handelnde Erzählung zwar fortgeschrieben, aber wie in einem multiperspektivischen Film demontiert und neu zusammensetzt wird.
Den Leser an der Nase herumgeführt
Unweigerlich ist man als Leser bei den folgenden Erzählungen dann auf der Hut: Könnte nicht auch der Ich-Erzähler, ein namen- und orientierungsloser Mann mittleren Alters, der gerade eine Scheidung durchmacht und seine Stelle als Angestellter bei einer Versicherungsfirma verliert, etwas mit der Auftakterzählung zu tun haben? Oder vielleicht der obdachlose Rasim, mit dem er sich herumtreibt, trinkt, über das Leben philosophiert und ihm immer ähnlicher wird?
Auch wenn die Fäden zur ersten Kurzgeschichte schon bald abreißen, ertappt man sich doch immer wieder dabei, nach ihnen zu suchen. Das hängt auch damit zusammen, dass Demir den Leser in immer neue Fallen lockt und ihn in der einen oder anderen Erzählung erst am Ende erkennen lässt, dass er an der Nase herumgeführt wurde.
Etwa dann, wenn die überaus modebewusste Ceren, während sie sich für ein Rendezvous herausputzt, die sichtlich gelangweilte Jülinde im Nebenzimmer mit ihrem Geplapper derart nervt, dass man sich mit dieser Mitbewohnerin zwangsläufig solidarisieren muss – ohne zu ahnen, wer sich dahinter verbirgt, was erst nach Jülindes plötzlichem Verschwinden und Wiederauftauchen klar wird, hier aber nicht verraten werden soll.
Ceren übrigens kommt schon in der vorangegangenen Erzählung vor, dem Monolog eines mit einer Anderen verheirateten Mannes, der wehmütig auf seine musikbewegte Jugend zurückblickt, von der er auch nachts träumt.
Aura des Rätselhaften
Nicht alle Erzählungen sind mal mehr, mal weniger enigmatisch miteinander verwoben. Auch die restlichen, allein für sich stehenden umgibt durch die häufig eingeflochtenen Traumsequenzen und die komisch-absurden Situationen eine Aura des Rätselhaften.
In der Schlusserzählung von dem geschiedenen, mit seiner verwitweten und zunehmend dementen Mutter zusammenlebenden Selim kommen noch realitätsverfremdende Elemente wie ihre verworrenen Gedanken hinzu, gegen die der verzweifelnde Sohn irgendwann nicht mehr ankämpfen will.
Besonders auch hier zeigt sich Demir als virtuoser Grenzgänger zwischen Realismus und Surrealismus. Auf sein nächstes Werk darf man gespannt sein.
Joseph Croitoru
© Qantara.de 2019
Ömür Iklim Demir: "Das Buch der entbehrlichen Gedanken". Aus dem Türkischen von Gabriela Senti und Mathias Müller Senti, Binooki Verlag Berlin, 2018, 168 Seiten, ISBN: 9783943562637