Razan Zeitouneh: die verstummte Stimme der Revolution
Syrien im März 2011. Der Arabische Frühling ist da: Razan Zeitouneh strahlt über das ganze Gesicht und tanzt inmitten von Demonstranten durch die Straßen der Hauptstadt Damaskus. Sie lässt sich mitreißen vom Jubel und stimmt ein in die Sprechchöre gegen das syrische Regime. Videos aus dieser Anfangsphase dokumentieren, dass die junge Anwältin mit den blondroten Haaren oft als Wortführerin in der ersten Reihe steht.
Nur einen Tag nach den ersten großen Protesten am 15. März initiiert sie mit Gleichgesinnten einen offenen Brief, in dem die Aktivisten das Assad-Regime zur Freilassung von politischen Gefangenen auffordern.
"Wir stellen uns einem der brutalsten Regimes in der Region und der ganzen Welt entgegen, vor allem durch friedliche Proteste, durch friedliche Lieder, durch unsere Rufe nach einem neuen Syrien", erklärt sie in einer Videobotschaft aus dieser Zeit. "Ich bin sehr stolz darauf, Syrerin zu sein. Und stolz darauf, Teil dieser historischen Tage zu sein und die innere Stärke meines Volkes zu spüren."
Mit knapp 34 Jahren übernimmt Zeitouneh damals eine wichtige Führungsrolle. Sie organisiert Demonstrationen im ganzen Land und hilft bei der Gründung der sogenannten lokalen Koordinierungskomitees, die zum organisatorischen Rückgrat des friedlichen Widerstands gegen Machthaber Baschar al-Assad werden.
Die Anwältin schreibt auch für ausländische Zeitungen und Organisationen über die syrische Revolution – und lehnt jede Form von Gewalt ab. Bewaffneter Widerstand ist für sie keine Option. Das unterscheidet sie von Mitstreitern, die später im Kampf gegen das Regime entweder selbst zu den Waffen greifen oder bewaffnete Gruppen unterstützen.
"Razan ging es niemals um Macht", betont ihr langjähriger Weggefährte Mazen Darwish. Seine Augen leuchten, wenn er über sie spricht. Darwish lebt heute im Exil und leitet das "Syrian Center for Media and Freedom of Expression" in Paris. "Für mich ist Razans herausragende Eigenschaft, wie sehr sie gegen Ungerechtigkeit kämpft. Sie ist bereit, alles zu geben, um Ungerechtigkeit zu bekämpfen."
Die Saat der Revolution
Dieser Kampf begann schon viele Jahre vor der Revolution. Als die syrischen Behörden Mitte der 2000er Jahre gewaltsam gegen radikalislamische Salafisten vorgingen, übernahm Zeitouneh ihre Verteidigung. Ausgerechnet sie – eine weltoffene junge Frau – setzte sich für die Anhänger einer ultrakonservativen Variante des Islam ein, in der Frauen sich voll zu verschleiern haben.
Für Zeitouneh selbst war das kein Widerspruch. In ihrem letzten veröffentlichten Artikel beschrieb sie ihr Rechtsverständnis so: "Alle Menschen haben die gleichen Rechte und müssen gerecht behandelt werden. Da gibt es keinen Raum für Interpretationen, das ist nicht verhandelbar."
Öffentlich war die staatliche Verfolgung der Salafisten damals ein Tabu-Thema in Syrien. Wer das harte Vorgehen des Sicherheitsapparats öffentlich kritisierte, brachte sich in Gefahr. "Razan organisierte trotzdem für mich in ihrem Büro ein heimliches Treffen mit Müttern der Inhaftierten", berichtet Nadim Houry.
Houry arbeitete zu diesem Zeitpunkt für die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch und wurde in den Folgejahren ein enger Freund der syrischen Anwältin: "Sie ging unglaubliche Risiken ein für Personen, die sie kaum kannte. Aber sie wollte die Geschichte (der Salafisten) unbedingt öffentlich machen und war bereit, dafür ihr eigenes Leben in Gefahr zu bringen."
Zeitouneh taucht unter
Als der Arabische Frühling Syrien im Frühjahr 2011 erreicht, antwortet das Regime mit Gewalt auf die Proteste. Immer mehr Oppositionelle werden verhaftet. Im April, nur einen Monat nach den ersten großen Massendemonstrationen gegen Baschar al-Assad, gründet Razan Zeitouneh mit Gleichgesinnten das "Violations Documentation Center" (VDC), um Verstöße gegen die Menschenrechte zu dokumentieren.
Zu diesem Zeitpunkt wird auch sie bereits von Assads Geheimdienst verfolgt und unter Druck gesetzt. Als ihr Ehemann Wael Hammada im Mai festgenommen und für drei Monate eingesperrt wird, taucht Zeitouneh in Damaskus unter. Im Untergrund erfährt sie, dass das EU-Parlament sie mit dem Sacharow-Preis ehrt.
Später, im April 2013, flieht sie dann in die Rebellenhochburg Duma nördlich der Hauptstadt. Hier wird sie im Sommer Zeugin des verheerenden Giftgasangriffs auf die Region Ost-Ghuta, zu der Duma als größte Stadt gehört.
Unabhängigen Quellen zufolge sterben damals mindestens tausend Menschen durch den Beschuss mit der tödlichen Chemikalie Sarin, darunter mehr als 400 Kinder. Zeitouneh und ihre Kollegen vom "Violations Documentation Center" dokumentieren das Grauen und sammeln Beweise, damit den Schuldigen der Prozess gemacht werden kann. Irgendwann.
"Ich habe das Massaker mit eigenen Augen gesehen", schreibt die Anwältin über den Angriff. "Ich sah die Leichen von Männern, Frauen und Kindern auf den Straßen. Ich hörte Mütter schreien, wenn sie die Leichen ihrer Kinder unter den Toten fanden."
Die "Monster" von Duma
Doch sie dokumentiert nicht nur die Brutalität des Assad-Regimes, sondern auch die Gräueltaten der bewaffneten Gruppen, die im Sommer 2013 in Duma und anderen Teilen Ost-Ghutas um die Herrschaft kämpfen. Darunter Extremisten und radikale Islamisten: der sogenannte "Islamische Staat". Die al-Nusra-Front, die dem Terrornetzwerk Al-Qaida nahesteht. Und Dschaisch al-Islam, die 'Armee des Islam', die den Machtkampf schließlich für sich entscheidet.
"Wir haben doch keine Revolution gemacht und Tausende von Menschen verloren, damit solche Monster kommen und sich das gleiche Unrecht wiederholen kann", schreibt die Anwältin damals in einer E-Mail an ihren Freund Nadim Houry. "Diese Leute müssen genauso zur Rechenschaft gezogen werden wie das Regime."
Gräuel, Folter, Attentate, Unterdrückung und Vertreibung: Die Anwältin und die organisation VDC führen Buch darüber, wie die Rebellenhochburg zum rechtlosen Raum verkommt. Auch Zeitounehs westlicher Lebensstil ist eine Herausforderung für Dschaisch al-Islam. Die selbsternannten Gotteskrieger setzen in Duma ihre strikte Auslegung der Scharia durch. Zeitouneh fällt durch ihre Kleidung auf und weil sie kein Kopftuch trägt.
"Razan gründete Initiativen für Frauen und begann, Übergriffe zu dokumentieren, in Gefängnissen und anderswo", erinnert sich ihr VDC-Kollege Thaer H., der heute in Frankreich lebt. "All das machte sie zu einer Konkurrentin für Dschaisch al-Islam, für ihr Streben nach Kontrolle, ihre Ideologie und ihren Wunsch, ein Emirat oder Kalifat zu errichten."
Im Sommer 2013 schießen Unbekannte vor dem Büro des VDC in die Luft und hinterlassen eine Patronenhülse vor der Tür. Später erhält Zeitouneh einen Drohbrief, in dem der Verfasser fünfmal schreibt: "Ich werde dich töten."
Wie in Damaskus, dem Machtzentrum Assads, ist die Menschenrechtlerin jetzt auch in der Rebellenhochburg Duma in Gefahr.
Entführt und spurlos verschwunden
Das letzte Lebenszeichen stammt vom 9. Dezember 2013. Am späten Abend gegen 23 Uhr stürmen unbekannte Bewaffnete ihr Büro und verschleppen Razan Zeitouneh, ihren Ehemann Wael Hammada und die beiden Aktivisten Nazem Hammadi und Samira al-Khalil. Seither fehlt jede Spur von ihr. Es gibt viele Gerüchte und Indizien, aber keine Beweise wer für die Entführung und das Verschwindenlassen verantwortlich ist.
Vielleicht können laufende Ermittlungen in Frankreich zur Klärung des Falls beitragen. Hier haben die Familien der Vermissten gemeinsam mit dem Syrischen Zentrum für Menschenrechte in Paris (SCM) und der Internationalen Föderation für Menschenrechte (FIDH) Strafanzeige gestellt und Dschaisch al-Islam schwer belastet. Die DW konnte sie in Auszügen einsehen.
Seit Anfang 2020 sitzt ein ranghohes Mitglied der radikalen Islamisten in französischer Haft - angeklagt wegen Folter, Kriegsverbrechen und Mittäterschaft in einer Zwangsverschleppung. Der Inhaftierte ist heute Anfang 30 und hielt sich zum Zeitpunkt seiner Verhaftung in Marseille mit einem Studentenvisum in Frankreich auf.
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Unabhängig davon hat die Deutsche Welle mehrere Zeitzeugen in Syrien und in der Türkei befragt. Die Namen sind der Redaktion bekannt, müssen aber aus Sicherheitsgründen unerwähnt bleiben. Auch ihre Aussagen untermauern den Verdacht, dass Razan Zeitouneh nach ihrer Entführung in der Gewalt von Dschaisch al-Islam war.
Die Deutsche Welle hat mehrere Vertreter der islamistischen Gruppe, die nicht auf der UN-Terrorliste steht, mit den Vorwürfen konfrontiert. Alle haben eine Beteiligung an der Verschleppung kategorisch zurückgewiesen. Die Befragten haben ihrerseits den Verdacht geäußert, dass entweder die mit Al-Qaida verbundene Nusra-Front oder das Assad-Regime verantwortlich seien.
Die Verschleppung bleibt ein großes Rätsel und taugt als Sinnbild der syrischen Revolution. Duma, der Ort des Verbrechens, ist seit 2018 wieder unter der Kontrolle des syrischen Machtapparats – auch dank massiver russischer Hilfe.
"Das Schicksal von Razan und ihrer Kollegen ähnelt dem der zivilen, friedlichen Bewegung, die versuchte, eine moralische Alternative für Syrien zu schaffen", bringt es Mazen Darwisch auf den Punkt, der vor zehn Jahren gemeinsam mit Zeitouneh VDC gründete. "Sie wurden zwischen dem Regime und diesen [islamistischen] Gruppen zerquetscht, die am Ende auch autoritär sind."
Lewis Sanders, Birgitta Schülke-Gill, Wafaa Al Badry, Julia Bayer
© Deutsche Welle 2021
Anmerkung der Redaktion: Die DW recherchiert weiterhin das Verschwinden von Razan Zeitouneh und ihren Kollegen. Wenn Sie Informationen über ihren Verbleib oder die Umstände ihrer Entführung haben, kontaktieren Sie uns bitte sicher unter: DW.tips@protonmail.com