Jenseits der Gewalt
Wenn Auslandskorrespondenten Bücher über "ihr Land" oder "ihre Region" schreiben, oszillieren die Resultate zwischen zwei Extremen. Im schlechtesten Fall zielen die Autoren auf Gewinnmaximierung und effiziente Selbstvermarktung, indem sie eine Anzahl bereits veröffentlichter Beiträge zwischen zwei Buchdeckeln als neues Werk anbieten. Im besten Fall nehmen sie sich Zeit für das, was im hektischen Alltagsgeschäft oft keinen Platz hat: persönliche Erfahrungen und Betrachtungen, aufschlussreiche Begegnungen sowie tiefergehende Analysen.
Das Buch "Brennpunkt Syrien" von Kristin Helberg ist solch ein "bester Fall". 1973 geboren, studierte Helberg zunächst Politikwissenschaft und arbeitete beim Norddeutschen Rundfunk, ehe sie im Jahr 2001 nach Damaskus zog, um von dort aus als Nahostkorrespondentin zu arbeiten: "Allein unter Schurken", wie sie es einmal augenzwinkernd formulierte. Syrien, Feind Israels und Verbündeter der Hisbollah, wurde von der US-Administration damals auf die sogenannte " Achse des Bösen" gesetzt.
Das Ende des Damaszener Frühlings
Kristin Helberg hat nicht ihre veröffentlichten Beiträge aufpoliert, sondern ein eigenständiges Buch geschrieben, bestehend aus acht Kapiteln. Darin geht es um ihr Leben und ihre Arbeit als Korrespondentin in Damaskus, das ethnische und konfessionelle Gefüge der syrischen Gesellschaft, die Funktionsweise des Machtapparates, die wirtschaftlichen und sozialen Ursachen der Revolution, Syriens Rolle in der Region, das Spannungsverhältnis zwischen friedlichem Widerstand und bewaffneter Rebellion und nicht zuletzt um die Zukunftsszenarien in dem bürgerkriegsgeschüttelten Land.
Kristin Helberg verwebt geschickt persönliche Alltagserfahrungen und subjektive Beobachtungen mit dem großen Ganzen, ohne dabei in Banalität abzugleiten – und das in leicht lesbarem, erfrischendem Stil, trotz aller Tragik der Ereignisse in Syrien.
Als die Autorin im November 2001 nach Damaskus zieht, ist es mit dem sogenannten "Damaszener Frühling" mit seinen Debattiersalons weitgehend vorbei. Die Hoffnungen auf politische Reformen unter dem jungen Baschar al-Assad sind zerstoben, viele Regimekritiker sind im Exil, im Gefängnis oder befinden sich in der inneren Emigration. Syrien wirkt auf die junge Korrespondentin wie ein Überbleibsel aus dem Kalten Krieg: "Ein Land ohne Coca Cola und ohne amerikanische Fastfoodketten – wo gibt es das noch außer in Nordkorea?"
Trotz der Diktatur und der angespannten politischen Weltlage fühlt Helberg sich in Syrien überraschend schnell zuhause. Zum einen leben nur wenige Ausländer ständig in Damaskus, die Mega-Stadt ist wie ein Dorf, man lernt sich schnell kennen. Zum anderen sind die Syrer – aufgrund der jahrelangen Abschottung – neugierig auf Ausländer und begegnen ihr weitgehend unvoreingenommen. Die Nachbarn im Viertel kümmern sich um die schmale, hochgewachsene junge Frau aus Deutschland wie um eine Tochter oder Schwester. Die liebevolle Fürsorge kann allerdings auch in Stress umschlagen, wenn Kristin Helberg einmal für sich sein möchte und die syrischen Bekannten besorgt fragen, ob sie denn krank sei.
So unkompliziert und angenehm das Zusammenleben im Viertel verläuft - bei der Arbeit ist die politische Repression ständig zu spüren. Mehr als zwei Jahre muss Helberg immer wieder in verrauchten Amtsstuben ausharren, bis ihr das syrische Informationsministerium eher zufällig endlich die offizielle Akkreditierung als Journalistin gewährt.
Der große Bruder sieht alles
In der Folge werden ihre Beiträge zwar nicht direkt zensiert, aber der "große Bruder" ist immer da: Manche potentielle Interviewpartner winken aus Furcht vor Repressalien schon im Vorfeld ab. Oppositionelle ergreifen mitten im Gespräch die Flucht, weil Geheimdienstagenten anrücken. Beim Schreiben stellt sich immer die Frage: Was geht, was geht nicht? Sind die roten Linien überschritten?
Nach einem Artikel über Baschar al-Assad wird Kristin Helberg im Jahr 2009 die Akkreditierung entzogen. Seit dem Frühjahr 2011 darf sie offiziell gar nicht mehr nach Syrien einreisen.
"Brennpunkt Syrien" ist ein persönlicher Bericht, aber auch ein informatives Sachbuch. Ausführlich stellt die Autorin die Geschichte und die Glaubensinhalte der verschiedenen Ethnien und Religionsgemeinschaften Syriens vor – vor allem die Alawiten – und beschreibt den Platz der unterschiedlichen Konfessionen im Machtgefüge.
Ein weiterer Schwerpunkt sind die Ursachen der Revolution: die Liberalisierung der Wirtschaft Mitte der 2000er Jahre brachte einerseits Modernisierung und Fortschritte, sie führte aber auch zur Verarmung weiter Teile der Bevölkerung, insbesondere auf dem Land. Wirtschaftliche Not in Kombination mit massiver Korruption und politischer Stagnation – daraus entwickelte sich eine explosive Mischung, die auch durch Reformrhetorik nicht mehr zu entschärfen war.
Eine vermeidbare blutige Eskalation?
Aus Helbergs Sicht funktioniert das syrische Regime wie ein Mafia-Clan. "Baschar al-Assad sprach von Reformen, Bruder und Schwager sperrten Regimegegner weg, Cousin Rami [Makhlouf] kontrollierte die Wirtschaftselite – die Rollen waren perfekt verteilt. Tiefgreifende politische Veränderungen (…) waren in dieser Konstellation von Anfang an undenkbar."
Dennoch stand – angesichts der chaotischen Entwicklungen im Nachbarland Irak – nicht allen Syrern der Sinn nach Umsturz, es gab zeitweise breite Zustimmung in der syrischen Bevölkerung für Baschar al-Assad. Hätte er früher reagiert und politische Reformen eingeleitet, hätte sich die blutige Eskalation vielleicht vermeiden lassen, schreibt Kristin Helberg. Sie staune über die Zähigkeit, mit der Baschar al-Assad sich an die Macht klammere: "Ich muss gestehen, dass ich [ihm] einen solch blutigen Überlebenskampf nicht zugetraut hätte. Dem Regime insgesamt schon, aber ihm persönlich nicht – wahrscheinlich ist das in Syrien aber nicht voneinander zu trennen."
Wie geht es weiter? Eine militärische Intervention des Westens, um das Assad-Regime zu stürzen, hält Kristin Helberg nicht für realistisch. Dennoch könnte der Westen mehr tun, kritisiert die Journalistin. Immer wieder werde behauptet, dass man mangels unabhängiger Berichterstatter in Syrien von außen nicht sicher wissen könne, wer da auf die Straße gehe und wer für die Greueltaten verantwortlich sei.
Kristin Helberg widerspricht dem vehement: Einerseits seien der zivile Ungehorsam und die Massaker in Syrien sehr umfangreich und genau dokumentiert. Andererseits habe in letzter Instanz die syrische Regierung die Pflicht, ihre Bürger vor Folter und Mord zu schützen.
"Wir sind nicht in Hollywood, sondern im Krieg"
Der gelegentlich geäußerte Vorwurf, besonders grausame Filmaufnahmen seien aus politischem Interesse von der einen oder anderen Seite gestellt, sei unhaltbar.
"Ein Teenager, dessen untere Gesichtshälfte in Fetzen herabhängt und der deswegen mit seinen Augen schreien muss, lässt sich nicht inszenieren. Genausowenig wie der junge Mann mit dem Kopfschuss, der auf der Straße in seinem Blut liegt, nachdem die Demonstration, bei der er eben noch mitgelaufen ist, unter Feuer geraten war. Oder der über einem Ort kreisende Helikopter, der auf ein Wohngebiet schießt. (…) Für solche Szenen gibt es keine Drehbücher – wir sind nicht in Hollywood, sondern im Krieg. Und zwar in einem Krieg des syrischen Regimes gegen das eigene Volk."
Wie lange dieser Krieg gegen das eigene Volk noch dauern wird, ob das Assad-Regime über wirtschaftliche Probleme, die bröckelnde Basis oder beides stürzen wird – dazu gibt Kristin Helberg keine abschließende Prognose ab. Sie möchte jedenfalls die Hoffnung auf ein freies, demokratisches Syrien nach Assad nicht aufgeben. Doch die Gefahr, dass das Land entlang konfessioneller und ethnischer Linie zerfalle, sei real.
Und selbst wenn das nicht passieren sollte, stehe ein neues Syrien vor riesigen Herausforderungen: Die schwelenden religiös-politischen Konflikte, die von interessierter Seite immer mal wieder schöngeredet werden, müssten endlich thematisiert werden. Zudem sei die syrische Gesellschaft schon jetzt von einem kollektiven Trauma gezeichnet, dessen Bewältigung Generationen dauern werde.
"In Syrien zerstört der Überlebenskampf eines skrupellosen Regimes (…) nicht nur Teile der Gesellschaft und der Infrastruktur, sondern vor allem die Zukunft des Landes." Kristin Helberg hat ihr Buch auch deshalb den Kindern Syriens gewidmet.
Martina Sabra
© Qantara.de 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Kristin Helberg: "Brennpunkt Syrien. Einblick in ein verschlossenes Land", Herder Verlag 2012, 272 Seiten, ISBN 978-3-451-06544-6