Das Grundgesetz wird 70 – und die Keupstraße kennt keiner
Das Grundgesetz wird 70 – und die Keupstraße kennt keiner. Außer natürlich den drei Millionen Deutsch-Türken in Deutschland. Und ein paar weiteren Deutschen mit Migrationshintergrund. Die wissen wofür die Kölner Keupstraße steht: Am 9. Juni 2004 explodierte hier am helllichten Tag in der belebten Einkaufsstraße eine Nagelbombe, die 22 Menschen schwer verletzte. Ein türkischer Friseursalon wurde vollkommen zerstört. Aber ein rechtsterroristischer Hintergrund wurde damals alsbald ausgeschlossen.
Heute wissen wir, dass der "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) die Bombe legte. Mit der Selbstaufdeckung durch Selbstmord Ende 2011 sowie der Selbstbezichtigung des NSU durch Verschickung einer Bekenner-DVD durch Beate Zschäpe wurden die Ermittlungen in der Keupstraße wieder aufgenommen. Vor knapp einem Jahr wurden die Urteile im NSU-Prozess vor dem Oberlandgericht in München gesprochen.
Gründe für die Radikalisierung junger Menschen
Letzten Monat wurde mir 'Schwarzrotgold - Das Magazin der Bundesregierung' in meiner Wochenzeitung zugestellt. Eine Reportage dreht sich um Gründe für Radikalisierung von jungen Menschen und berichtet dazu aus der Keupstraße über die Initiative 180 Grad Wende R.
Die Initiative gründete sich 2012, um sich für die Werte und Normen des Grundgesetzes einzusetzen. Der Verein will junge Menschen ansprechen, die sich möglicherweise aus einer persönlichen Krisensituationen heraus in islamistischen Kreisen radikalisieren, oder Menschen, die jemanden kennen, der/die sich radikalisiert und nicht gleich mit den Behörden in Kontakt treten wollen.
Diese Personen will die Initiative 180 Grad Wende R auf Augenhöhe ansprechen durch Gleichaltrige mit Migrationshintergrund, die aus dem Viertel kommen. Nur allzu häufig wurde und wird kritisiert, Muslime würden sich nicht gegen islamistischen Terror einsetzen. Bei 180 Grad Wende R sind sie aktiv geworden. Geleitet wird die Initiative von dem Deutsch-Marokkaner Mimoun Berrissoun.
Mehr "Mut- statt Wutbürger"
In der Broschüre der Bundesregierung wird ein sympathischer Sozialarbeiter des Vereins vorgestellt, der gefährdete junge Menschen in Köln-Mühlheim für die deutsche Demokratie zurückgewinnen soll. Der Reporter und der Coach laufen zusammen die Keupstraße hoch und runter. Mehr "Mut- statt Wutbürger", wünscht sich die Initiative, auch wenn mit "Wutbürger" bisher eigentlich das Gegenteil von jung, benachteiligt und bildungsfern gemeint war.
Gründe für eine mögliche religiöse Radikalisierung werden diskutiert: fehlende Wertschätzung, Sucht, Ausgrenzungserfahrungen, Trennung der Eltern - all das kommt vor. Aber kein Wort vom NSU-Anschlag. Oder soll die "fehlende Wertschätzung" eine Chiffre dafür sein?
"Die Keupstraße lebt", so der Titel eines wunderbaren Imagefilms. Ihre Anwohner wollen nicht ewig Opfer sein. Und die bekannte türkische Geschäfts- und Ladenstraße will nicht allein mit dem Attentat in Verbindung gebracht werden.
Aber, liebe Bundesregierung, wer von Radikalisierung spricht, sollte nicht um den bitteren Kontext herumschreiben. Radikalisierung in der Keupstraße? Könnte es dafür auch noch einen weiteren wichtigen Grund geben, über den wir sprechen müssen?
Wer Keupstraße und Radikalisierung sagt, kann den Terror des NSU nicht vornehm unerwähnt lassen.
Sonja Hegasy
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