Strahlendes Erbe
Jean-Claude Hervieux erinnert sich noch gut daran, als er in der algerischen Saharawüste mit einer Gruppe von Soldaten und hochrangigen Funktionären dem zweiten französischen Kernwaffentest beiwohnte. Die Dinge verliefen allerdings nicht ganz nach Plan.
Bei dem Béryl genannten unterirdischen Kernwaffentest drangen radioaktive Gase und Staub durch ein Leck aus dem Stollen in die Atmosphäre. Jeder rannte davon – auch zwei französische Minister. Als erste grobe Dekontaminationsmaßnahme duschte die Gruppe in einer Kaserne und ließ dann ihre Strahlenbelastung überprüfen. "Nackte Minister sieht man nicht oft", schmunzelte Hervieux.
Anlässlich des 60. Jahrestags des ersten französischen Kernwaffentests am 13. Februar 1960 nahe der algerischen Grenze zu Mauretanien gibt es allerdings nicht viel zu lachen. Kritiker verweisen seit langem darauf, dass die Tests viele potenzielle Opfer hinterlassen haben. Das gilt für Algerien ebenso wie für Französisch-Polynesien, wo später ein Großteil der Kernwaffentests stattfand.
Bisher wurden nur wenige Hundert Menschen entschädigt, darunter ein einziger Algerier. Während die Jahrestage der Atomtests vorbeiziehen, heizen die immer noch nicht beseitigten Folgen aus den Atomexplosionen die seit langem bestehenden Spannungen zwischen Paris und seiner ehemaligen Kolonie weiter an.
Postkoloniales Vermächtnis
"Dies ist ein Aspekt der Entkolonialisierung und der Forderung der Algerier nach Anerkennung der Verbrechen, die Frankreich als Kolonialmacht begangen hat", sagte Brahim Oumansour, Nordafrika-Experte des in Paris ansässigen französischen "Instituts für Internationale Beziehungen und Strategie" (IRIS). Für Frankreich könne das auf "Entschädigungen in Millionenhöhe" hinauslaufen, ergänzte er.
Solche Fragen stehen derzeit nicht auf der öffentlichen Agenda der französischen Regierung. Präsident Emmanuel Macron hat sie in seiner jüngsten großen Rede zur Nuklearpolitik erst gar nicht erwähnt. Die französische Entschädigungskommission für die Opfer der Atomversuche (CIVEN) behandelt nach eigenen Angaben nur Forderungen, die den gesetzlich festgelegten Kriterien entsprechen.
Das französische Verteidigungsministerium und die algerischen Behörden bleiben Antworten auf Fragen zu den Tests weiter schuldig.
Der ehemalige Elektriker Jean-Claude Hervieux war ein Jahrzehnt als Techniker für die französischen Kernwaffentests beschäftigt, zunächst in Algerien und später in Französisch-Polynesien. Die Panne von Béryl, deren Zeuge er im Mai 1962 wurde, geschah zwei Monate nach der Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich.
Die Unabhängigkeitsverträge gestatteten es der "Force de frappe" damals, die Testeinrichtungen für Kernwaffen weitere vier Jahre zu nutzen. "Unter den Duschen konnten wir zwar unsere Körper und unsere Kleidung säubern", sagte Hervieux über den Vorfall von Béryl, "aber nicht das, was wir eingeatmet oder geschluckt hatten."
Hervieux bat die französischen Behörden um die Herausgabe der Ergebnisse seiner damaligen Strahlentests. Diese seien bizarr, meinte er. Das Datum einer Untersuchung fällt in seine Urlaubszeit. Ein anderer Test sei auf seinen Vater ausgestellt worden. Einen weiteren Befund habe man wegen Kontaminierung vernichtet.
Alles im Sand vergraben
Insgesamt zündete Paris mehr als 200 Kernwaffen. Die ersten 17 Tests fanden in der Wüste Algeriens statt, die meisten übrigen auf abgelegenen Atollen in Französisch-Polynesien. 1996 veranlasste der französische Staatspräsident Jacques Chirac einen Stopp der Tests.
"Als wir Algerien verließen, haben wir große Löcher gegraben und alles vergraben", sagte Hervieux, der heute 80 Jahre alt ist, über den Abzug Frankreichs aus den Wüstengebieten im Jahr 1966.
Hervieux schloss sich später der AVEN an (Association des vétérans des essais nucléaires), einer Interessenvertretung für die Opfer der französischen Kernwaffentests.
Er selbst hat offenbar keine gesundheitlichen Schäden erlitten und wurde in Algerien auch nicht Zeuge von strahlungsbedingten Erkrankungen. Anders in Französisch-Polynesien: Hervieux erinnert sich an den Besuch eines Dorfes in Französisch-Polynesien, in dem hohe Strahlenbelastungen festgestellt wurden. "Ein einheimischer Lehrer sagte, die Kinder seien krank und erbrächen sich", so Hervieux . "Die Mütter fragten, warum ihren Kindern die Haare ausfielen."
Nach Angaben von Aktivisten sind die Testgelände in Algerien noch immer kontaminiert. Viele Explosionsorte seien nur unzureichend mit Stacheldraht gesichert. "Ich konnte Radioaktivität von Mineralien nachweisen und große Felsgesteine, die durch die Hitze der Bomben glasig waren", sagte der pensionierte französische Physiker Roland Desbordes, der die Teststandorte besucht hat. "Diese Stätten liegen nicht irgendwo abgeschieden in der Wüste, sondern werden häufig von algerischen Nomaden besucht." Die Menschen suchten in den Trümmern nach Kupfer und anderen Metallen.
Unheilbare Narben?
Roland Desbordes ist Sprecher und ehemaliger Präsident der CRIIRAD, einer unabhängigen französischen Forschungsgruppe zur atomaren Sicherheit. Die französische Armee besitze wichtige geheime Informationen über die Tests, die sie der Öffentlichkeit nicht zugänglich mache, darunter auch über die Auswirkungen der Explosionen auf Gesundheit und Umwelt, so Desbordes. Allerdings sieht er auch die algerischen Behörden in der Verantwortung.
"An jedem Jahrestag berichten sie über die Gefahren der Kernwaffentests, aber es ist auch ihre Aufgabe, die Standorte zu sperren, um sicherzustellen, dass niemand Zugang dazu hat."
Berichte – darunter zwei Jahrzehnte alte Dokumentarfilme des algerischen Reporters Larbi Benchiha – legen nahe, dass die Tests eine unheilbare Narbe in den örtlichen Gemeinwesen hinterlassen haben. Ohne sich der Gefahr bewusst zu sein, sammelten die Menschen den ursprünglich vergrabenen und dann vom Wüstenwind freigelegten Schrott und machten daraus Schmuck und Küchenutensilien.
Unter dem Strich waren zwischen 27.000 und 60.000 Menschen aus den Gemeinden in der Umgebung der Testgelände betroffen, so ein Bericht von Al-Jazeera, der sich auf unterschiedliche französische und algerische Angaben beruft.
Im Rahmen des zehn Jahre alten französischen Entschädigungsgesetzes, das schließlich die gesundheitlichen Schäden infolge der Kernwaffenversuche anerkannte, wurden insgesamt mehr als 1.600 Klagen eingereicht.
Aus Algerien stammten lediglich 51 davon, wie die französische Entschädigungskommission für die Opfer der Atomversuche (CIVEN) angibt. Der Oberste Gerichtshof Frankreichs hat kürzlich in einem gesonderten Urteil zwei zusätzliche Entschädigungsforderungen aus Französisch-Polynesien erneut zugelassen.
Neben anderen Kriterien verlangt das Gesetz von 2010 den Nachweis einer Mindestexposition und listet 23 Krebsarten auf, die einen Anspruch auf Entschädigung begründen.
"Es gehen nur sehr wenige Forderungen ein und wir können nur über diejenigen entscheiden, die wir erhalten", sagte der Direktor von CIVEN, Ludovic Gerin. Zudem erfüllten die bisherigen Forderungen aus Algerien die Entschädigungskriterien nicht.
"Wir können nicht selbst aktiv nach Opfern suchen", fügte er hinzu. "Uns sind da gewissermaßen die Hände gebunden."
Elizabeth Bryant
© Deutsche Welle 2020
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers