"Raus aus dem Tunnel der Depressionen"
Sie betreuen in Hamburg unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Was erklären Sie den Jugendlichen, was sie in Deutschland zu erwarten haben?
Ruhin Ashuftah: Zuerst einmal sage ich ihnen, dass sie stark sind, dass sie zu den Überlebenden gehören und aufhören sollen, darauf zu schauen, was sie alles nicht haben: 'Meine Mutter ist nicht da, ich vermisse sie, ich bekomme keine Papiere, ich kann die Sprache nicht.'
Ich sage ihnen: 'Ihr seid in Deutschland asylberechtigt, Ihr habt es bis hierhin geschafft, Ihr hattet einen Auftrag von der Familie. Die haben ihr Geld zusammengelegt. Und jetzt rappelt Euch mal wieder auf, Ihr gehört zu denen, die es geschafft haben. Ihr könnt ja sehen, was da passiert an den Zäunen, an den Grenzen.'
Dann geht es erst einmal um die Zielfokussierung. Man muss ihnen wieder einen Rahmen geben, den sie verloren haben. Sie treffen auf die Realität, ihre Erwartungen wurden nicht erfüllt. Aber diese Erwartungen haben sie bis hierher getragen. Was ich in der Therapie dann mache, ist, einen neuen Rahmen zu schaffen, sie an ihre Kräfte erinnern, ihnen ein neues Ziel zu geben. Ich erkläre ihnen, dass es in Deutschland nicht so schnell geht.
Sie sind daran gewöhnt, vor Problemen wegzulaufen, über Landesgrenzen hinweg. Ich sage ihnen: 'Hier könnt Ihr nicht weglaufen, hier müsst Ihr bleiben. Ihr seid in einem Netzwerk, in einer Struktur, die Ihr nicht sehen könnt. Man hat Euch einen Vormund zur Seite gestellt, es dauert, bis Ihr eine Krankenversicherung habt, bis ein Deutschkurs anfängt. Diese Dinge passieren um Euch herum, Ihr könnt es aber nicht sehen. Ihr seid ein stehender Punkt. Das ertragt Ihr vielleicht nicht. Aber so ist es nun einmal. Ihr müsst Geduld haben!'
Das zweite ist: Wenn sie traumatisiert sind - und das sind sie teilweise - dann haben sie Fokussierungsprobleme, sie haben Schlafstörungen, und das Gedächtnis arbeitet nur eingeschränkt. Aber ich erkläre ihnen: 'Ihr werdet wieder ganz stabil werden, wenn euer emotionales Wesen verstanden hat: Ich bin hier in Sicherheit. Wenn ihr nicht mehr nachts aufwacht und nicht wisst, wo ihr seid.' Das ist ein Teil des Traumas.
Ich baue sie auf und erkläre ihnen aus meiner Perspektive, was ich sehe. Denn ihre Realität gleicht dem depressiven Blick in einen dunklen Tunnel. Aber das ist nicht die Realität. In der Therapie gebe ich ihnen ein Heft mit weißen Blättern, in das sie schreiben sollen, was alles Positives passiert ist.
Ich erkläre ihnen, dass die rechte Gehirnhälfte bei ihnen das Kommando übernommen hat, die emotionale Seite, während die linke, die rationale Gehirnhälfte blockiert ist, das lernende, vernünftige System. Es ist sicherlich hilfreich, in einer extremen Situation, in der man überleben muss, nicht nachdenken zu müssen.
Welche Vorstellungen haben die jungen Flüchtlinge, die sie betreuen und wie sieht der Realitätscheck aus, den sie ihnen - möglichst behutsam - beibringen müssen?
Ashuftah: Ihre Vorstellung ist: Dort wird man sich um mich kümmern, Ärzte Gesundheitsversorgung, Unterkunft, Essen, Schule. Für Kriegsflüchtlinge, vor allem aus Afghanistan, ist das sehr wichtig, weil sie im Iran nicht zur Schule gehen durften. Das ist ein Ajatollah-Staat, wo man sie ab der fünften, sechsten Klasse aus der Schule nimmt, auch wenn sie dafür bezahlen, wo sie keinen Besitz haben dürfen, noch nicht einmal SIM-Karten besitzen dürfen. Und die Eltern sagen dann: 'Willst Du ewig Arbeiter sein? Nach Afghanistan kannst Du auch nicht gehen. Okay, dann gehe nach Deutschland.'
Und dann kommen sie hier an und sie haben erst mal keine Wohnung und es existiert nur das Nötigste an Gesundheitsversorgung. Das ist zwar nicht die ganze Wahrheit - es wird später mehr für sie getan. Aber der erste Aufprall in der deutschen Realität ist eben sehr ernüchternd. Einige brechen dann zusammen. Sie sagen sich: 'So soll ich jetzt die ganze Zeit leben? Zehn Leute in einem Zimmer, Menschen aus Eritrea, Araber. Leute, die mich bestehlen, mein Handy ist weg, ich vermisse meine Familie.' Jetzt kommen die Emotionen hoch – das Trauma reist ihnen quasi nach und bricht hier erst richtig aus.
Unterwegs ist man stark, man zeigt keine Schwäche, um sich in der Hackordnung einer Gruppe zu behaupten, man ist immer in Bewegung. Und hier kommt man an – es gibt keine Bewegung mehr, es gibt nichts zu tun, man hat kein Geld in der Tasche. Es gibt keine Parks, wie in Athen, wo man auf andere trifft, es herrscht Stillstand. Und dann kommen die Emotionen hoch. Die jungen Afghanen werden wie von einer Welle von unterdrückten Gefühlen erfasst. Und das gibt ihnen dann den Rest. Und schließlich entlädt sich die Wut auf den Betreuer. Ich erkläre ihnen dann: Der Betreuer ist nur der Nachrichtenempfänger. Der gibt nur weiter, was die Behörden ihm gesagt haben. Hier funktioniert das nicht so, dass du mit ihnen verhandelst.
Wie sieht das Aufeinanderprallen von Wunsch und Realität aus, wenn es um die Bleibeperspektive geht? Wie ermutigt man jene Menschen, bei denen die Chancen fünfzig zu fünfzig stehen, besonders jetzt, nach der jüngsten europäischen Politikwende in der Flüchtlingskrise?
Ashuftah: Es gab in Hamburg die 18-Monats-Regelung, die sogenannte Senatorenregelung, die jetzt ausgesetzt wurde: der Paragraph 25a, der besagte, dass jeder Afghane, der sich 18 Monate lang in Hamburg aufhielt, dort bleiben durfte. Manche haben sich so sehr darauf verlassen, dass sie nie einen Asylantrag gestellt haben. Die haben jetzt natürlich schlechte Karten. Diejenigen, die einen Asylantrag gestellt haben, sind heute besser dran.
Jemandem, der einen negativen Bescheid bekommen hat, der das Geld der Familie aufgebraucht hat und dem jetzt die Abschiebung droht, dem sage ich erst einmal: 'Okay, vielleicht warst Du ja beim Psychologen und der hat dir attestiert, das es dir nicht so gut geht. Es wäre eine Möglichkeit, das einem Anwalt in die Hand zu geben. Du hast Verwandte hier, die dir vielleicht einen Anwalt bezahlen können. Dann gehörst Du zu den glücklicheren Menschen, die das verzögern können. Dann gehst Du zur Schule, vielleicht darfst Du eine Ausbildung machen. Dann ist die Wahrscheinlichkeit einer Abschiebung schon niedriger.'
Ein Araber, der 18 Jahre alt wird und der als Wirtschaftsflüchtling gilt, muss auf eigene Kosten, auf eigene Initiative die verschiedenen Fluchtpunkte, etwa kirchliche Träger, selbst kontaktieren. Vielleicht muss er über einen Anwalt nachweisen, dass er die Sprache sehr gut gelernt hat. Bei Wirtschaftsflüchtlingen ist Eigeninitiative gefragt. Kriegsflüchtlinge haben mehr Möglichkeiten, ihnen wird auch eher geholfen. Wenn man keine Straftaten begangen hat, hat man ja die Abschiebung nicht selbst verschuldet. Ich versuche dann zu erklären, was es für Möglichkeiten gibt, was der Flüchtling versuchen kann. Und wenn nichts klappt, gehen einige in ein anderes EU-Land.
Sie erwähnten zu Beginn den Iran. Kommt ein großer Teil der Afghanen in letzter Zeit aus der Islamischen Republik nach Deutschland?
Ashuftah: Ein großer Teil der Flüchtlinge kommt über den Iran. Das Recht, sich dort aufzuhalten, ist begrenzt und kann ihnen jederzeit entzogen werden. Manche werden auch deportiert. Sie gelten dort als Afghanen, selbst wenn manche im Iran geboren wurden. Daher ist der Iran für sie keine Alternative. Irgendwann werden die Afghanen zurückgeschickt oder sie werden von der Regierung schlecht behandelt. Für die Afghanen ist der Iran zwar ein Land, in dem sie die Sprache sprechen. Doch den Afghanen, mit denen ich geredet habe, fehlt dort jede Zukunftsperspektive. Sonst würden viele von ihnen dort bleiben.
Es besteht zwar eine kulturelle Nähe zwischen beiden Ländern, aber es gibt im Iran keine Arbeit, keine Gleichberechtigung – es fehlt jede Zukunftsperspektive. Man kann sich damit abfinden, für den Rest seines Lebens ein Arbeiter ohne Chance auf Bildung sein oder man sagt: 'Ich gehe nach Europa. In Afghanistan bin ich in Gefahr, im Iran macht man mit mir was man will, die Türkei hat keinen Platz mehr, Griechenland ist pleite und die Gesellschaft dort wird immer rechter.' Also zieht es viele Afghanen in Richtung Deutschland, nach Hamburg oder über das Nadelöhr Hamburg in die skandinavischen Länder.
Das Gespräch führte Thomas Kohlmann.
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