Emdad will bleiben
"Wir lassen unseren Emdad nicht mehr gehen." Ruth Müller-Albrecht hat den Arm um Emdad gelegt, drückt ihn an sich. Ihre Stimme klingt trotzig, so als wolle sie ihn und sich selbst davon überzeugen, dass es auch wirklich so ist, wie sie sagt. Dass Emdad bleiben kann. In Deutschland, im Saarland, und beim THW in Neunkirchen. Dort, wo er zurzeit einmal pro Woche eine Grundausbildung zum Katastrophenhelfer absolviert.
Aber dass er bleiben darf ist alles andere als sicher. Auch, wenn er schon seit fast viereinhalb Jahren hier lebt. Denn Emdadullah Mohamand, wie er mit vollem Namen heißt – ist bis heute nur geduldet in Deutschland, er kann jederzeit abgeschoben werden – nach Afghanistan.
Von dort kam er 2011 als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, gerade einmal 14 Jahre alt war er damals. Ein verängstigter Teenager, der weder lesen noch schreiben konnte, nie eine Schule besucht hatte, kein Deutsch oder Englisch sprach, nur seine Muttersprache Paschtu.
Proben für den Ernstfall beim THW
Längst hat sich das geändert. Verständigungsschwierigkeiten jedenfalls gibt es nicht bei der Übung, die an diesem Samstagmorgen auf dem Gelände des THW in Neunkirchen ansteht: Emdad befolgt gemeinsam mit dem Rest des Teams die Anweisungen von Ruth Müller-Albrecht, der dortigen Ortsbeauftragen des Technischen Hilfswerks.
Ein Rettungseinsatz wird simuliert: Am Ende eines mit Hindernissen versperrten Tunnels ist eine Person eingeschlossen und muss befreit werden. In voller THW-Montur krabbelt Emdad in den Gang, räumt Steine aus dem Weg und birgt die Puppe am Ende des Gangs. Jede Bewegung muss sitzen. Konzentriert hievt er den "Verletzten" in einen Rettungskorb und gibt seinen Kollegen das Signal, ihn herauszuziehen. Dann kriecht er rückwärts wieder ins Freie.
Emdad ist stolz auf das, was er hier tut. "Ich bin seit letztem Jahr dabei, und ich komme sehr gern her. Die Arbeit macht mir Spaß, ich lerne ständig etwas dazu. Und die Kollegen sind alle nett zu mir." Er ist nicht der einzige Flüchtling, der derzeit beim Technischen Hilfswerk geschult wird. Insgesamt rund 30 Flüchtlinge sind dabei – darunter Syrer, Iraker und eben auch Afghanen, erklärt Michael Walsdorf, Pressesprecher für Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland.
Seit 2015 läuft das Projekt – das THW sieht sich als Integrationshelfer, so Walsdorf. "Viele Flüchtlinge sind dankbar dafür, dass sie mitmachen können. Sie können mit Technik arbeiten, und gleichzeitig lernen sie Menschen kennen." Beide Seiten profitieren davon, ist er überzeugt. Das THW bekomme neue Helferinnen und Helfer, und die Flüchtlinge würden so ganz natürlich Kontakte zur deutschen Bevölkerung knüpfen.
Aus Flüchtling wird Helfer
Natürlich gebe es auch Sprachprobleme, gibt Walsdorf zu. Meist könne man sich zwar auf Englisch verständigen. Doch das sei nur ein Notbehelf. "Ziel ist es, dass die Flüchtlinge unsere Sprache erlernen und dann ihre Aufträge auf Deutsch empfangen können." Viele Flüchtlinge würden sich aber recht schnell relativ gut auf Deutsch verständigen können – und könnten dann wiederum für andere übersetzen. Denn im Einsatz für das THW haben sie eines Tages auch selbst wieder mit anderen Flüchtlingen zu tun.
"Sie werden auch beim Einrichten oder beim Bezug von neuen Flüchtlingsunterkünften eingesetzt, hauptsächlich in Bereichen, für die man keine besondere technische Ausbildung braucht", so Walsdorf. Aus seiner Sicht ist das Projekt bislang ein voller Erfolg. Integrationsprobleme habe er noch keine beobachtet. Stattdessen hätten beide Seiten sich angenähert und mehr über die Kultur und das Leben des jeweils anderen kennengelernt. "Grundsätzlich haben wir alle das gleiche Interesse: Es geht darum, Menschen zu helfen.
"Emdad helfen – das ist auch die Aufgabe von Peter Recktenwald. Er ist Pädagoge und stellvertretender Leiter der Jugendwohngruppe, in der Emdad lebt. Er war es auch, der ihm vorschlug, sich beim THW zum Katastrophenhelfer ausbilden zu lassen. Nicht zuletzt, um etwas für das eigene Selbstbewusstsein zu tun.
"Als Flüchtling ist man ja erstmal Hilfsempfänger. Man braucht Hilfe bei Amtsgängen, bekommt Kleidung, eine Unterkunft." Das sei auf Dauer für viele sehr belastend. Durch die Arbeit beim THW könnten die Flüchtlinge etwas zurückgeben. "Emdad kann jetzt sagen: Ihr habt mir geholfen, jetzt tue ich etwas für andere, die Hilfe brauchen. So etwas macht stolz."
Damokles-Schwert Abschiebung
"Emdad ist ein sehr freundlicher Mensch, immer hilfsbereit", sagt Ruth Müller-Albrecht, "ein richtiges Teammitglied." Vielleicht ist Emdad ein bisschen stolz in diesem Moment. Er lächelt. Aber trotzdem ist da der Eindruck, dass das Lächeln nicht in seinen Augen ankommt. Die sehen traurig aus, resigniert. Denn Emdad gehört trotz allem nicht wirklich dazu.
Er weiß nicht, wie lange er Teil des Teams bleiben kann. Bis zum Sommer hat er Bleiberecht, dann ist seine dreijährige Ausbildung an der Berufsschule, die er zurzeit besucht, vorbei. Was danach kommt? Emdad zuckt die Schultern. Wenn er keinen Ausbildungsplatz vorweisen kann, sieht es schlecht aus für ihn. Er träumt davon, KFZ-Mechaniker zu werden. Oder Dachdecker.
Oder auch etwas ganz anderes. "Müll wegräumen oder auf der Baustelle arbeiten – egal", sagt er. "Ich kämpfe. Einfach, damit ich arbeiten und Steuern zahlen kann. Aber bis heute habe ich kein Asyl bekommen, obwohl ich schon so lange hier bin.
"Meistens gehe es ihm deshalb nicht gut, fügt er noch hinzu. Pädagoge Recktendorf findet deutlichere Worte. "Emdad hat alles gemacht, um zu zeigen, dass er sich integrieren will. Er hat Alphabetisierungs- und Sprachkurse belegt." Er gehe zur Berufsschule, engagiere sich beim THW. Und nichts führe zum Ziel. "Ständig ist da dieses Damokles-Schwert im Hintergrund: dass er jederzeit abgeschoben werden kann. Das macht den Mann langsam verrückt. Und ich kann ihm nicht böse sein deshalb."
Wachsende Frustration und Skepsis
Emdad könne nicht verstehen, warum er bis heute kein Asyl bekommen habe. Er habe sich sehr verändert im Laufe der Zeit, erzählt Peter Recktenwald. Anfangs war der Teenager misstrauisch, dann aber gelang es, sein Vertrauen zu gewinnen. "Er war ein netter, zu Scherzen aufgelegter junger Mann mit guten Manieren. Aber mittlerweile ist er verbittert – und auch uns gegenüber wieder misstrauisch geworden, weil wir als Hauptansprechpartner diejenigen sind, an denen er seinen Unmut festmacht." Er frage sich, warum syrische Flüchtlinge nach wenigen Monaten Asyl bekommen und das erreichen, was ihm seit Jahren verwehrt bleibe.
Auch die Kollegen beim THW kennen die Sorgen, die Emdad plagen. "Ich spreche viel mit Emdad", sagt die Ortsbeauftragte Müller-Albrecht. "Er hat mir einiges von sich erzählt. Ich weiß, dass er Angst hat, natürlich hat er Angst. Und er hat wirklich viel Schlimmes erlebt."
Aufgewachsen ist Emdad in einem Dorf der Nähe von Jalalabad im Osten Afghanistans. Er hat vier Geschwister, und ist der älteste Sohn. Sein Vater arbeitete auf dem Land und hatte wohl auch Kontakt zu den Taliban. So erzählt es Emdad. Aber Genaues weiß er nicht. "Eines Tages gab es wohl einen Militäreinsatz in dem Ort. Dabei wurde sein Vater erschossen", erläutert Pädagoge Recktenwald. Und daraufhin hätten Vertreter der Taliban vor der Tür der Familie gestanden. Sie wollten Emdad mitnehmen, sagten, sie würden ihn zur Schule schicken. "Ich habe mich gefreut, weil ich ja nie zur Schule gehen konnte", sagt er. Die Mutter war zwar skeptisch, ließ ihn aber ziehen.
Tatsächlich aber landete Emdad nicht im Klassenzimmer, sondern in einem Ausbildungslager für künftige Kämpfer. "Sie gaben mir eine Jacke, mit der ich üben sollte. Ich musste lernen, wie man sie zumacht und trägt. Da waren Kabel und eine Bombe drin." Emdad trug eine Sprengstoffweste. Er bekam Angst und lief fort.
Die Flucht gelang, Emdad schaffte es nach Hause zu seiner Mutter. Sie machte ihm klar, dass er nicht bleiben könne, weil die Taliban ihn sicher suchen würden. Gemeinsam mit dem Sohn wandte sie sich an einen Onkel. Die Familie verkaufte Land, um seine Flucht zu finanzieren. 15 bis 16.000 US-Dollar habe das Ganze gekostet, meint Emdad.
Mehr als ein Dreivierteljahr war er danach unterwegs, völlig allein, von Schleusern abhängig, fast noch ein Kind mit seinen 14 Jahren. Über den Iran und die Türkei ging die Flucht, dann mit dem Boot weiter nach Griechenland. In Frankreich bestieg Emdad schließlich einen Reisebus, der ihn nach Deutschland bringen sollte.
"Im Saarland hat die Polizei den Bus angehalten und kontrolliert. Sie wollten die Pässe sehen. Aber ich konnte nur sagen: No passport, no passport." Die erste Nacht in Deutschland blieb er auf dem Polizeirevier, zum Essen brachten ihm Beamte einen Cheeseburger aus einem Schnellimbiss.
Scheitern an der Bürokratie
Nach drei Monaten in einem sogenannten "Clearing House" landete Emdad schließlich in der Obhut von Recktenwald und seinen Kollegen. Wie viele Versuche er seitdem unternommen hat, um einen Aufenthaltstitel für den jungen Mann zu bekommen, kann der Pädagoge gar nicht mehr zählen. Zwei Ordner voll mit Schriftstücken habe er angesammelt, sagt er. Alles ohne Erfolg. Emdad hat keinen afghanischen Pass, nie einen besessen. Das afghanische Generalkonsulat in Bonn stellt ihm keinen aus – da seine Nationalität nicht eindeutig geklärt sei.
Recktenwald setzt seine Hoffnungen jetzt auf Paragraf 25a des Aufenthalts-Gesetzes. Danach kann einem jugendlichen Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich seit vier Jahren geduldet in Deutschland aufhält, eine Schule besucht oder einen anerkannten Schul- oder Berufsabschluss erworben hat und zum Zeitpunkt des Antrags noch keine 21 Jahre alt ist. Außerdem soll es "gewährleistet erscheinen", dass der Antragssteller sich in Deutschland integrieren und zur "freiheitlich demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt".
All das trifft zu auf Emdad, davon sind seine Kollegen beim Technischen Hilfswerk überzeugt. Und Peter Recktenwald auch. "Wir wollen zeigen, was er alles geleistet hat, um in Deutschland Fuß zu fassen, wir wollen all seine Aktivitäten - besonders die beim THW - hervorheben und so darauf hinweisen, dass es wirklich allerhöchste Zeit ist, ihm Asyl zu gewähren. Er hat es verdient."
Emdad steht neben seinem Pädagogen, hört, was er sagt. Wieder lächelt er. Dankbar – und gleichzeitig auch ein bisschen traurig.
Esther Felden
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