Bestands-Aufnahmen
Die Bilder der Erhebungen in Tunesien und Ägypten in den Jahren 2010/11 sind von friedlich demonstrierenden Massen bestimmt, aufgenommen aus der Vogel- oder der Panoramaperspektive, manchmal halbnah in der Menge. Es gibt Videos von Polizeigewalt, gefilmt aus der sicheren Distanz der extremen Totalen.
Die Arbeiten zeigen, dass viele Menschen sich gegen das Versammlungsverbot der seit Jahrzehnten geltenden Notstandsgesetze auflehnten und ihren Unmut auf die Straße trugen. Warum genau es zu den Erhebungen kam, die die Demonstrierenden als Revolutionen bezeichnen, was sie notwendig machte und in welche Gesellschaftsordnung sie führen sollten, vermitteln die Dokumentationen zumeist nicht.
Die Mühen der Ebene
Was kann man von Revolutionsfilmen erwarten? Sergei Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin (UdSSR 1925) und Gillo Pontecorvos Die Schlacht um Algier (DZ/IT 1966) gehören zu den international bedeutendsten Filmen dieses Genres. Beide wurden nach Revolutionen produziert: Panzerkreuzer Potemkin von Goskino, dem staatlichen Komitee der UdSSR für das Filmwesen und Die Schlacht um Algier von Casbah Films, der Produktionsfirma von Saadi Yacef, dem Kommandanten der Algerischen Nationalen Befreiungsarmee, ALN, der 1957 die Schlacht um Algier anführte und bis heute als Held verehrt wird.
Beide Filme rekonstruieren eine Etappe des revolutionären Kampfes, namentlich verlorene Gefechte. Sie dienten nach Innen dazu, eine neue kollektive Identität zu schaffen und nach Außen, Definitionshoheit über die Geschichte zu proklamieren. Die Frage um Notwendigkeit und Legitimität revolutionärer Gewalt ist dabei essentiell. Trotz des propagandistischen Anliegens, lassen die Vielschichtigkeit und Zeitlosigkeit der Streifen unterschiedlichste Lesarten zu.
Ein grundlegendes Merkmal von revolutionären Filmen der antikolonialen Befreiung ist die Selbstvergewisserung und Wiederaneignung der eigenen Kultur nach endlosen Jahren der Fremdbestimmung. Sie sind Filme des Suchens und der Bestandsaufnahme. Sie muten an wie ein neuer Spiegel, dessen Reflexion noch der Einordnung bedarf. Viele Protestierende auf dem Kairoer Tahrirplatz sahen hierin die enorme Bedeutung der Videos von sich selbst, die sie auf Großleinwände im Protestcamp projizierten.
Die Mühen der Gebirge
Einige Filmschaffende haben im Zuge der Erhebungen ihre Objektive aufgezoomt und die Umgebung in den Blick genommen. Andere haben probiert, sich mit Hilfe der Kamera zu fokussieren. Die tunesische Drehbuchautorin Hinde Boujemaa lernte auf einer Demonstration die Obdachlose Aida Kaabi kennen. Eine Person, der sie ohne die Massenproteste nie begegnet wäre. Sie habe sich, so Boujemaa beim Ayam Beirut Filmfestival, spontan entschieden Regisseurin zu werden und einen Film zu drehen. Weil die Parolen der Massen ein besseres Leben für alle forderten und weil Kaabi sagte, für sie würde sich nichts ändern. It Was Better Tomorrow (TN 2011) ist ein rohes Portrait geworden, mit Zügen von Exploitationkino. Auf einer unsichtbaren Ebene dokumentiert er Fremdheit und den dringenden Wunsch der Regisseurin, die eigene Gesellschaft kennenzulernen.
Babylon (TN 2012) von Ismael, Youssef Chebbi und Ala Eddine Slim, die sich ein Kollektiv im Aufbau nennen, ist eine dreiwöchige Beobachtung des temporären UNHCR-Flüchtlingslagers Choucha in der Wüste an der tunesisch-libyschen Grenze. Unmittelbar nach Beginn der Aufstände in Libyen im Februar 2011 fanden dort bis zu einer Millionen afrikanische und südostasiatische Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter Zuflucht. Der Film besticht durch seine Ruhe inmitten der hysterischen Lagersituation und durch die präzise Beobachtung der Strukturen, die in der riesigen Notgemeinschaft entstanden: seien sie politisch, kulturell, ökonomisch oder religiös. Dem Kinopublikum werden keine Orientierungshilfen gegeben, weder Zeit noch Ort sind genannt. Gesagtes wird nicht übersetzt.
Brüche und Kontinuitäten
Tahani Rached arbeitet seit vierzig Jahren als Dokumentaristin. Ihr Film A Deep Long Breath (EG 2012) wurde bisher wenig beachtet. Die libanesische Zeitung Al-Akhbar fand ihn erschreckend banal und konventionell. Die Bedeutung der Arbeit wird später vielleicht grade in diesen Eigenschaften liegen. Am Beispiel der Familie von Rascheds Tonmann fängt die Regisseurin in den Monaten nach Mubaraks Rücktritt alltägliche Zusammenkünfte und Gespräche ein, familiäre und politische.
Im Zentrum des Films stehen die Eltern des Kollegen, die das Zeitgeschehen allein aufgrund ihrer Lebenserfahrung ganz anders kontextualisieren können als die meist jungen Protestierenden, die während der 18 Tage des eingekesselten Sit-Ins auf dem Tahrirplatz Anfang 2011 gefilmt und interviewt wurden. Die vergleichsweise unaufgeregte Situation während Rasheds Dreharbeiten ermöglicht ihr den Versuch, Brüche und Kontinuitäten im Alltag zu erkennen und zueinander in Bezug zu setzen. Diese Zusammenhänge werden im Rückblick wichtig sein, um ein Verständnis der Gesamtsituation zu bekommen, während die Abbilder der Massendemonstrationen der Euphorisierung dienten.
On the Road to Downtown (EG 2011) ist ein Portrait des Kairoer Stadtteils in dem viele Intellektuelle leben und arbeiten und in dessen Zentrum der Tahrirplatz liegt. Anhand von sechs Personen und der Architektur zeichnet der Film Geschichte und Alltag des Ortes nach.Sherif Elbendary hat ihn vor den Erhebungen geplant und den Dreh, der Ende Januar 2011 stattfinden sollte, verschoben.
Da wo die Proteste in den Alltag der Charaktere hineinspielen finden sie auch im Film ihren Platz, das Konzept an sich hat Elbendary nicht geändert. Genaues Betrachten von Orten, ihrer Historie und ihrem Wirken auf das Jetzt charakterisiert den Großteil des ägyptischen Dokumentarfilmschaffens der letzten Jahre. Es begann mit dem politischen Aufbruch im Zuge der umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2005 und ist Teil eines Prozesses der Bestandsaufnahme und Wiederaneignung der eigenen Kultur nach Jahren der Unterdrückung.
Irit Neidhardt
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de