Inzest-Vorwurf mit Tradition

Am Wochenende haben in Köln rund 20.000 Aleviten gegen den "Tatort" protestiert. Das Thema Inzest ist für Aleviten sensibel, weil es in der Vergangenheit instrumentalisiert wurde, sie zu verfolgen.

Von Andreas Gorzewski

Als der TV-Moderator Güner Ümit 1995 im türkischen Fernsehen einen üblen Scherz über angeblichen Inzest unter Aleviten machte, erntete er einen Proteststurm. Die Wellen der Entrüstung schlugen damals so hoch, dass der Moderator für geraume Zeit von den Bildschirmen verschwand. Ümit dürfte gewusst haben, dass er mit seinem missglückten Witz eine uralte Verleumdung aufgriff.

Die "Tatort"-Drehbuchautorin ahnte dagegen nach eigenen Aussagen nicht, welchen empfindlichen Punkt sie mit ihrer Krimihandlung traf, in der ein alevitischer Vater seine Tochter missbraucht. Laut eigener Aussagen hat sie für das Drehbuch intensiv recherchiert, ohne indessen auf diese Hintergrundinformation zu stoßen.

"Es hat uns entsetzt, dass ausgerechnet ein öffentlich-rechtlicher Sender Jahrhunderte alte Vorurteile aufgreift und bedient", schimpfte der Generalsekretär der Alevitischen Gemeinde Deutschland, Ali Ertan Toprak. Ein alevitischer Verein kündigte eine Klage wegen Volksverhetzung gegen den Sender an. In Köln demonstrierten rund 20.000 Aleviten und forderten eine Entschuldigung von der ARD, die diese bisher verweigert und auf die Freiheit der Kunst verweist.

Vogelfreiheit für die "Ungläubigen"

Mit dem Inzest-Vorwurf und anderen Vorurteilen verbinden die Aleviten eine lange Leidensgeschichte. Seit ihre Religionsgemeinschaft im Mittelalter im Gebiet der heutigen Türkei entstand, wurden die Aleviten von den sunnitischen Muslimen immer wieder diskriminiert und blutig verfolgt. Dabei spielte auch der bis heute andauernde Streit eine Rolle, ob Aleviten Muslime sind oder nicht. Die Aleviten verehren zwar Gott, den islamischen Propheten Mohammed und dessen Schwiegersohn Ali, von dem sie auch ihren Namen ableiten.

Aber anders als sunnitische oder schiitische Muslime besuchen Aleviten in aller Regel keine Moscheen. Sie pilgern nicht nach Mekka und fasten nicht im islamischen Fastenmonat Ramadan, sondern zu einem anderen Zeitpunkt. Mit anderen Worten: Sie befolgen nicht alle der so genannten "Fünf Säulen des Islam". Im 16. Jahrhundert erklärte der ranghöchste sunnitische Rechtsgelehrte des Osmanischen Reichs, Ebussuud Efendi, die Aleviten für vogelfrei. Sie seien Ungläubige und müssten getötet werden.

Neben die theologische Verteufelung trat die gesellschaftliche Ausgrenzung der Aleviten, die nach unterschiedlichen Schätzungen 20 bis 35 Prozent der türkischen Bevölkerung ausmachen. Ihnen wurde unterstellt, dass sie unrein seien und in den Kaffee spuckten, den sie zubereiteten. Besonders schwer wog der Inzestvorwurf. Demnach sollen Aleviten bei ihren religiösen Zeremonien die Kerzen auslöschen und dann Orgien feiern, bei denen auch Väter und Töchter miteinander schlafen.

"Einer, der Blutschande begeht"

"Dieser Vorwurf ist vergleichbar mit dem Vorurteil über einen Ritualmord an christlichen Kindern, der den Juden Jahrhunderte lang in Europa angedichtet wurde", erklärte Aleviten-Vertreter Toprak.

Ursprung der wilden Phantasie dürfte sein, dass alevitische Männer und Frauen bei ihren Cem genannten Zeremonien gemeinsam beten, anders als Sunniten. Dabei wird auch zur Musik eines Saiteninstruments gesungen und ein besonderer Tanz aufgeführt. Beides ist in einer Moschee undenkbar. Hinzu kam, dass diese Zeremonien aus Furcht vor Übergriffen über Jahrhunderte nur im Verborgenen stattfanden.

Das türkische Wort Kizilbas ("Rotkopf") bezeichnet Aleviten, die einst an ihrer typischen roten Mütze erkennbar waren. In der anti-alevitischen Polemik wurde daraus "einer, der Blutschande begeht".

Cem-Zeremonien sind längst nicht mehr geheim. Die heutige türkische Religionsbehörde, die dem sunnitischen Islam verpflichtet ist, sieht das Alevitentum als Teil des Islam an. Als eigenständige Religionsgemeinschaft sind die Aleviten jedoch nicht anerkannt. Außerdem halten sich die alten Vorurteile bei vielen Türken hartnäckig. Noch bis in die 90er Jahre kam es in der Türkei zu Übergriffen und Pogromen gegen Aleviten.

Eine der Verleumdungen von fanatisierten Fundamentalisten war dabei laut Toprak, dass Aleviten ihre Kinder missbrauchten. Nur vor diesem Hintergrund sei die große Empörung über den "Tatort" zu verstehen.

Aleviten gegen Sunniten

Die Krimihandlung schmerzt viele Aleviten auch, weil sich die missbrauchte Tochter ausgerechnet in den sunnitischen Islam flüchtet und ein Kopftuch umbindet. Während Aleviten betonen, dass ihre Frauen gleichberechtigt seien, unterstellen sie Sunniten zuweilen pauschal eine Unterdrückung der Frau.

"Dass gerade der Schleier als die Rettung für eine junge und weltoffene Frau dargestellt wird, trifft den Nerv der Aleviten", erklärte Toprak. Es gehe den Aleviten nicht darum, mit ihrem Protest die Presse- oder Kunstfreiheit in Frage zu stellen. Allerdings dürften die religiösen Gefühle nicht auf diese Weise verletzt werden, betonte der Generalsekretär der Alevitischen Gemeinde.

Unterstützung für ihren Protest bekamen die Aleviten von der türkischen Religionsbehörde. Das staatliche Religionspräsidium in Ankara und die mit ihr eng verbundene Türkisch-Islamische Union (DITIB) in Deutschland forderten eine Entschuldigung der deutschen Sendeanstalt gegenüber den Aleviten und allen Muslimen. Da die Aleviten zum Islam gehörten, so die offizielle Sicht in Ankara, seien alle Muslime durch die Krimifolge beleidigt worden.

Das wies Toprak jedoch empört zurück. Von einer Institution, die den sunnitischen Islam vertritt und das Alevitentum gar nicht als eigenständige Religionsgemeinschaft anerkennt, wollen sich die Aleviten nicht vereinnahmen lassen.

Andreas Gorzewski

© Qantara.de 2007

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