Mosaik der Stimmen
Ali Ghandtschi ist ein Mensch, der durch seine offene, sympathische Art normalerweise leicht Türen öffnet. Doch sein Israelprojekt erwies sich als heikel. Zwar gelang es ihm, viele bedeutende Persönlichkeiten vor das Mikrophon zu bekommen, doch er erfuhr auch Ablehnung, wenn er am Telefon um einen Gesprächstermin bat. Einige jüdische Intellektuelle feindeten ihn an, als sie hörten, was er plane. Viele Araber sagten höflich, doch bestimmt ab – aus Angst, Ärger in der arabischen Welt zu bekommen, wenn sie mit Juden zusammen in einem Buch erscheinen.
Ghandtschi gibt zu, dass er zu Beginn seines Vorhabens ziemlich ahnungslos war und das Konfliktpotential seines Vorhabens unterschätzte. Wie gut, dass er sich letztlich nicht davon abhalten ließ! Sonst hätten wir von dem scheinbar unlösbaren Dilemma und dem tiefen gesellschaftlichen Graben zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen niemals auf derart anschauliche und konkrete Weise erfahren.
Die Aufforderung etwas aus ihrer Kindheit zu erzählen, löste bei den Gesprächspartnern die Zunge, doch schnell wurde klar, dass alles in Israel – auch Kindheitserinnerungen – mit Politik zu tun hat. Einerseits spielt die besondere Entstehung des Staates Israel eine entscheidende Rolle, andererseits sind die geschilderten autobiographischen Erlebnisse geprägt von Flucht, Vertreibung, erzwungenem Ortswechsel und den Einwanderungswellen, die Israel seit seiner Gründung erfahren hat. Meist reichen die Erinnerungen bis ins Leben der Eltern und Großeltern zurück, und es wird klar, welches Maß an Verdrängung, Schuld und Selbsttäuschung auf diesem Weg lag und liegt.
"Dies ist mein Land"
Mohammad Bakri, ein arabisch-israelischer Schauspieler und bedeutender Dokumentarfilmer, fühlt sich in Israel in seiner Heimat. "Dies ist mein Land", sagt er. "Ich bin hier geboren worden. Aber die israelischen Behörden behaupten, dieses Land sei für die Juden bestimmt (…) Sie können sagen, was sie wollen, dieses Gefühl können sie mir nicht wegnehmen.“ Das "Gefühl, benachteiligt zu sein", hat Bakri dazu gebracht, "Fragen zu stellen, die ich nicht gestellt hätte, wenn ich so wäre wie die anderen."
Während Bakri aus der Situation der Unterlegenheit kreative Energie für die eigene Arbeit bezieht, erzählt der 1984 geborene Romanautor und Journalist Ayman Sikseck, dass seine Eltern zu ihrer Vergangenheit schwiegen und nie von sich aus, auch nicht auf Nachfrage, davon erzählten, was während der „Nakba“ (der palästinensischen Katastrophe) passiert war. Erst als er alt genug war, recherchierte er seine Familiengeschichte. Zu dieser problematischen Verdrängung, die unter vielen arabischen Israelis verbreitet zu sein scheint, tritt ein "Schuldgefühl" gegenüber den Palästinensern, "die in den besetzten Gebieten geboren sind", die ihrerseits wiederum in den in Israel lebenden Arabern "Verräter" sehen.
Es sind diese komplizierten biographischen Verflechtungen, die in "Mein Israel" ein einzigartiges "Mosaik von Stimmen" hervorbringen. Nicht anders als auf der arabisch-palästinensischen Seite werden auch von den jüdischen Gesprächsteilnehmern sehr unterschiedliche Auffassungen vom Leben in Israel geäußert.
Allerdings muss man sagen, dass es bislang nicht viele jüdische Intellektuelle gab, die sich intensiv mit den Arabern und der arabischen Sprache beschäftigt haben. Eine Ausnahme bildet freilich der ehemalige Knessetabgeordnete Uri Avnery (geb. 1923). Er äußert "große Sympathie für arabische Kultur, arabische Sprache (…) für arabische Geschichte." Er sieht jedoch ebenso wie viele seiner Landsleute schwarz, was eine Versöhnung zwischen Juden und Arabern in der offiziellen Politik Israels betrifft.
Der berühmte Romanautor Yoram Kaniuk (geb. 1930, gest. 2013) ist geradezu verzweifelt, was die Zukunft Israels betrifft: "Wir rutschen immer mehr nach rechts und werden immer religiöser, und das hat nichts mit der Vision zu tun, mit der wir diesen Staat gegründet haben (…) wir können in Tel Aviv leben, ohne jeglichen Bezug zu den besetzten Gebieten( …) Doch dahinter verbirgt sich Verzweiflung."
Von Kindesbeinen an einer Gehirnwäsche unterzogen
Diese Verzweiflung gestehen viele der jüdischen Künstler und Autoren offen ein und sehen wenig Hoffnung für eine Lösung des Konflikts. "Wir werden von Kindesbeinen an einer Gehirnwäsche unterzogen", sagt der Jazzpianist Yaron Herman. Die fehlende "intellektuelle Unabhängigkeit" verstelle in Israel den Blick auf die Vergangenheit und die Probleme mit den palästinensischen Nachbarn.
Scandar Copti, ein arabisch-christlicher Filmemacher, gibt der dreijährigen Militärzeit, die jeder jüdische Israeli durchläuft, die Hauptschuld für diese Form der Anpassung: "Du darfst nicht nach rechts oder links gehen. Es gibt eine klare Linie, und wenn du abweichst, bist du ein Verräter (…) So funktioniert dieses Land. Das ist das Problem."
Sicher existieren auf beiden Seiten Organisationen und Anstrengungen für eine Verständigung und Annäherung, aber – so betont Ali Ghandtschi im Gespräch – "für Israel und die Palästinenser gibt es keine einfache Lösung, so wie es keine allgemein gültige Wahrheit über dieses Land und seine Bewohner gibt." In diesem Sinn sei auch der Titel seines Buches zu verstehen: "Jede erzählte Geschichte könnte heißen 'Mein Israel' – jede ist anders und jede enthält eine unterschiedliche reale Wahrheit."
Für uns Leser ist dieses Buch ein seltener Glücksfall. Auf engstem Raum öffnet sich ein Kaleidoskop unterschiedlicher Lebensläufe, Familiengeschichten und Jugenderlebnisse, die alle ein Land eint, das sicher zu den widersprüchlichsten Ländern der Erde zählt. Man kann beim Lesen nicht genug von diesen Geschichten bekommen.
Volker Kaminski
© Qantara.de 2015
Ali Ghandtschi: "Mein Israel - Juden und Palästinenser erzählen", Suhrkamp-Verlag, Berlin 2015, 158 Seiten, ISBN: 978-3-518-46578-3