Improvisation und straffe Komposition

Die Karriere des in Tunesien geborenen Oud-Meisters Anouar Brahem zeichnet sich mitunter dadurch aus, dass er sich der Erwartungshaltung des Publikums stets verweigert. Mit seinem neuen Album "Blue Maqams" stellt er dies erneut unter Beweis. Von Richard Marcus

Von Richard Marcus

Anouar Brahem sah es schon immer als seine Aufgabe an, den bedeutsamen Ruf der traditionellen arabischen Musik wiederherzustellen. Bereits in jungen Jahren hatte er in seiner Geburtsstadt Tunis damit begonnen, Oud zu spielen. Damals faszinierten ihn auch andere Genres, die mit der klassischen arabischen Musik nur wenig gemeinsam hatten. Hierzu gehörten Klangwelten aus Indien, der Türkei und dem Balkan. Im Alter von 17 Jahren wandte er sich schließlich dem Jazz zu. Und obwohl die Ästhetik des Jazz völlig anders ist als die der arabischen Musik, fühlte sich Brahem doch immer wieder zu ihr magisch angezogen.

Vielleicht lag es auch daran, weil in beiden Genres auf ähnliche Art mit Improvisation umgegangen wird. Die Musiker müssen für einen gewissen Grad an Spontaneität offen sein. Sie können der ursprünglichen Komposition treu bleiben und gleichzeitig ihre Gefühle ausdrücken.

Wie Brahem allerdings im Begleitheft seines Albums deutlich macht, bevorzugt er immer noch, wenn sich die Interpreten seiner Stücke an die Noten halten – trotz der gängigen Tendenz vieler Jazzmusiker zu spontaner Kreativität. Improvisationen sollten seiner Meinung nach die Komposition oder das Arrangement nicht verändern, sondern der persönlichen Reaktion der Interpreten auf die Musik Ausdruck verleihen.

Musikalischer Balanceakt

Cover of Anouar Brahem's "Blue Maqams" (released by ECM Records)
Blue Maqams stellt mit seinen vier außergewöhnlich talentierten Musikern ein Juwel von einem Album dar. Anouar Brahem hat neun fantastische Stücke geschrieben – und auf diesem Album werden sie mit wunderbarer Kunstfertigkeit und Anmut interpretiert.

Wenn man Brahems neuen Album Blue Maqams lauscht, ist es natürlich schwierig, zwischen der Interpretation der Musiker und dem tatsächlichen Notenwerk einen Unterschied herauszuhören. Immerhin besteht das Trio, das Brahem um sich versammelt hat, mit Dave Holland (Kontrabass), Jack DeJohnette (Schlagzeug) und Django Bates (Piano) aus namhaften Jazzinterpreten.

Holland und DeJohnette hatten bereits zusammen mit Miles Davis gespielt und in Europa bemerkenswerte Karrieren gemacht, während Bates musikalisches Œuvre zum festen Bestandteil der britischen Jazzszene zählt.

Brahem spricht dieses Dilemma auch direkt in seinem Begleitheft an. Er schreibt darin, er habe versucht, in seinen Kompositionen viel Raum für Improvisation zu lassen. Wenn man sich das Ergebnis anhört, wird deutlich, dass ihm dies gelungen ist. In jedem der neun Stücke glänzt jedes Instrument zeitweise mit einem Solopart.

Und jedes Mal fragt man sich von Neuem: Hat der Komponist dies ursprünglich auch wirklich genauso verfasst? Wie vermittelt man diesen besonderen Tastenschlag auf dem Klavier, diesen komplexen Bürstenstrich über das Becken des Schlagzeugs oder diesen speziellen Bogensatz für den Bass?

Natürlich kann man die Notation eines Musikstücks unbegrenzt verfeinern. Aber es so zu schreiben, dass es sich anhört, als habe sich die Darbietung spontan entwickelt, ist eine unglaubliche Leistung. Wenn man die einzelnen Stücke hört, ist es kaum vorstellbar, dass sie bei einer anderen Aufführung unterschiedlich interpretiert werden könnten. Dies ist nicht nur ein erstaunlicher Hinweis auf das musikalische Können der Interpreten, sondern auch auf Brahems Fähigkeiten als Komponist.

Wie man es von einem Zusammentreffen derart erfahrener und begnadeter Musiker erwarten würde, ist die Qualität der Aufnahme hier nicht nur beispielhaft, sondern schlichtweg erstaunlich.

Von den einzelnen Soli bis hin zum Zusammenspiel der Instrumente musizieren diese vier Männer auf eine Weise und in einer Qualität, die man nur selten erlebt hat. Ihnen zuzuhören erinnert uns daran, dass Jazz nicht nur eine der vielen Formen populärer Musik darstellt. Auf seine eigene Art kann dieses Genre genauso verfeinert sein wie die großen klassischen Kompositionen.

Neue Bedeutung der Oud

Hat man die Oud oftmals nur als zentrales Instrument der klassischen arabischen Musik wahrgenommen, ist die Magie, die Brahem ihr auf dem Album Blue Maqams entlocken kann, eine Offenbarung. Obwohl er dem Instrument seinen typischen Klang lässt, verleiht er ihm einen gänzlich neuen Ausdruck. Seine Soli sind wunderbar komplex und entlocken jeder Note und Melodie alle möglichen Bedeutungen. Außerdem neigt Brahem dazu, im Stil von Glenn Gould gleichzeitig zu singen, was seinem Spiel als Kontrapunkt dient.

Hollands Kontrabass bietet Brahems Oud den perfekten Kontrapunkt. Er unterstützt sie nicht nur in ihrer Eigenschaft als Soloinstrument, sondern führt das Ensemble aus Höhen und Tiefen heraus stets in die gewünschte Richtung. Bates entlockt seinem Piano eine erstaunliche Kaskade von Noten, die nicht nur für sich genommen fasziniert, sondern wunderbar harmonisch mit Brahems Spiel im Einklang steht.

Blue Maqams stellt mit seinen vier außergewöhnlich talentierten Musikern ein Juwel von einem Album dar. Anouar Brahem hat neun fantastische Stücke geschrieben – und auf diesem Album werden sie mit wunderbarer Kunstfertigkeit und Anmut interpretiert.

Richard Marcus

© Qantara.de 2017

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff