Profiteure der autoritären Fäulnis

Der ägyptische Politologe Khalil al-Anani kritisiert in seinem Essay, dass nach dem Sturz der autokratischen Herrscher in Tunesien und Ägypten noch immer kein umfassender gesellschaftlicher Wandel erfolgt sei und dieselben alten Männer das politische Sagen hätten.

Von Khalil al-Anani

"Ich ging einmal mit einem Freund durch ein Arbeiterviertel Manchesters und sprach mit ihm über den scheußlichen Zustand des Stadtteils. Ich erzählte ihm, nie eine so schlecht gebaute Stadt gesehen zu haben. Der Mann antwortete daraufhin: 'And yet, there is a great deal of money made here' – und doch wird hier enorm viel Geld verdient."

Dieser Auszug aus dem bekannten Buch von Friedrich Engels "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" (1844) beschreibt gut die Situation der aktuellen Revolutionen und Aufstände in der arabischen Welt. Die Revolutionen werden von den Armen und Schwachen gemacht, ihre Früchte aber pflücken die Reichen und Starken.

Das Ziel von Revolutionen ist nicht allein die Beseitigung der autokratischen Regime, sondern auch die Errichtung alternativer Ordnungen, in denen die Würde des Einzelnen geachtet wird und seine Freiheiten geschützt sind. Wäre dies nicht der Fall, hätten wir ein grundsätzlich fehlerhaftes Verständnis von Revolutionen.

Keine frohe Botschaft des "Arabischen Frühlings"

Somit kann das, was zur Zeit in der arabischen Welt geschieht, als "Minimalrevolution" bezeichnet werden, da sie die erste Hälfte dieser Definition erfüllt haben, nämlich den Sturz der autokratischen Regime. Der zweite Teil aber steht als harte Prüfung noch bevor.

Ohne den Toten und Verletzten, der Avantgarde des Volks, seinen Rosen, die nach Jahrzehnten der Erniedrigung und Demütigung in den Gärten der Freiheit und Würde erblühten, die ihnen gebührende Achtung zu versagen, ist festzustellen, dass das, was gegenwärtig geschieht, keine frohe Botschaft eines "Arabischen Frühlings" ist, der zu einer fest verwurzelten Demokratie führen kann.

Revolutionsgraffiti auf der Gebäudefassade des tunesischen Premierministers; Foto: AP
Khalil al-Anani betont, dass die Revolutionen in Ägypten und Tunesien die Grundpfeiler der Gesellschaft unangetastet gelassen und nicht in ihre Lebensadern eingegriffen hätten, um die politische in eine soziale Revolution zu überführen.

​​Die Revolutionen in Tunesien und Ägypten verfolgten nicht allein den Zweck, elende, von alt gewordenen Männern geführte Regime, deren Wurzeln längst verdorrt waren und deren Sturz für jeden freien und dazu fähigen Bürger zur individuellen Pflicht geworden war, loszuwerden, sondern auch den Zweck, eine neue Gesellschaft aufzubauen, die garantiert, dass nicht wieder Mechanismen und Kulturen der Willkür entstehen.

Was wir nunmehr in diesen beiden Ländern erleben, vermittelt den Eindruck, dass die dortigen Revolutionen bisher lediglich an der Oberfläche der Gesellschaft gekratzt haben, aber noch nicht in ihr Inneres vorgedrungen sind. Die Jugend hat "weiße Revolutionen" erkämpft, die in beiden Ländern zum Sturz des Oberhaupts des jeweiligen Regimes geführt haben.

Diese revolutionäre Flut ist aber noch nicht ins tiefste Innere der Gesellschaft vorgestoßen. Noch immer leben die traditionellen Kräfte, die Parteien und politischen und religiösen Gruppierungen, die Klasse der Begüterten, die Unternehmer sowie die bürokratischen Institutionen von der autoritären "Fäulnis", wie sie von den repressiven und demütigenden Regimes hinterlassen wurde.

Kein Wandel im Denken

Insofern ist es normal, Streit und Auseinandersetzungen unter den Gruppierungen und politischen und religiösen Kräften in beiden Ländern zu erleben, denn weder haben sie sich selbst noch haben sie ihr Denken und ihren Duktus geändert, nachdem sie annehmen konnten, dass die Revolution mit dem bloßen Sturz der Ordnungen erledigt sei.

Spielende Kinder in einem verarmten Vorort von Kairo; Foto: AP
Vor der Revolution ist nach der Revolution: Die soziale Misere am Nil hält weiter an und trifft nach wie vor insbesondere die ärmsten Einkommensschichten.

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Würden Sie jetzt in die "Randgebiete" fahren, in denen die Revolution ihren Ausgang nahm, also nach Sidi Bouzid, in die Vororte von Kairo, Suez, Beni Suef und El-Mahalla, fänden Sie dort alles so wie immer vor, vielleicht sogar noch schlimmer als vor der Revolution.

Auf dem Markt von Sidi Bouzid würden Sie den Gemüsekarren sehen, hinter dem Mohamed Bouazizi gestanden hatte, bevor er sich selbst verbrannte und damit das Feuer der Revolutionen des "Arabischen Frühlings" entfachte, und sie würden wieder einen solchen Bouazizi in ebenso schäbiger Aufmachung erblicken.

In den Vororten von Kairo und Suez würden Sie zwischen den Blechhütten in den Slums des El-Arbaeen-Viertels umherstolpern, wo es die ersten Opfer der ägyptischen Revolution gab. Sie würden dieselben armen Familien vorfinden, dieselben elenden Gesichter, welche das Feuer der Revolution entzündet haben, deren Armut und Ängste aber noch größer geworden sind, seit die Straßen nicht mehr sicher sind, weil sich Rowdytum und Kriminalität ausgebreitet haben, so als ob sich nichts geändert hätte.

Würden Sie sich dagegen ins "Zentrum", also nach Tunis oder Kairo begeben, würden Ihnen wieder die Gesichter, Personen und kraftlosen Strukturen begegnen, die sich während der gesamten Revolution verborgen gehalten hatten und erst nach dem Sturz des Kopfes des Regimes wieder auftauchten. Jetzt versuchen sie, die Früchte der Revolution zu ernten und den Platz der abgedankten Regimes einzunehmen.

Kein wirklicher Dialog

In Kairo genügt es, auf dem Tahrir-Platz zwei geräuschvolle Äußerungen zu machen und zwei Erklärungen für die nachts "umherstreifenden" TV-Stationen abzugeben, um sich mit einem Schlag von der Masse abzuheben und zur Teilnahme an den Sitzungen des nationalen Dialogs eingeladen zu werden.

Die Jugend der Revolution ist nur noch schemenhaft erkennbar. Ihre Identität ist uns unbekannt, und wer und was sie tatsächlich sind, wissen wir nicht. Die alten Haudegen der Revolution leiden unter politischer Pubertät. Inzwischen haben in Ägypten drei Dialogveranstaltungen stattgefunden, und sie alle nehmen für sich in Anspruch, das Wissen und die Fähigkeiten zu besitzen, die Angelegenheiten des Landes erörtern zu können.

Sie alle sprechen im Namen der revolutionären Volksmassen und ihrer Jugend, werden aber von Überbleibseln der Generation der Revolutionen von 1919 und 1952 geleitet. Die erste dieser Konferenzen trug den Titel "Nationaler Dialog" und wurde von Abd El Aziz Hegazy (Jahrgang 1923 und somit 88 Jahre alt) geleitet, der vor 40 Jahren ägyptischer Ministerpräsident war. Seine Gesprächsleitung hatte viel von Familiengeschwätz.

Die zweite Konferenz unter der Bezeichnung "Nationale Übereinkunft" moderierte der gegenwärtige stellvertretende Ministerpräsident Yahia El Gamal (1930 geboren, also 81 Jahre alt), der unter Mubarak Staatsminister für die Angelegenheiten des Ministerrats war. Er leitete die Diskussion auf sich selbst bezogen und von oben herab, so dass für einen wirklichen Dialog kein Platz blieb.

Der eine, Hegazy, behauptete, vom Fenster seines Hauses aus an der Revolution teilgenommen zu haben, denn von dort habe man die Qasr-el-Nil-Brücke und den Tahrir-Platz im Blick. Der andere, El Gamal, wiederum stellt sich als Gralshüter der ägyptischen Revolution dar, und unter Hinweis auf Forderungen nach seiner Absetzung erklärte er, ein unerschütterlicher Fels in der Brandung zu sein.

Die dritte Konferenz hatte die Überschrift "Erste Ägyptenkonferenz". Geleitet wurde sie von Ing. Mamdouh Hamza (Jahrgang 1947 und somit 64-jährig), der den Dialog nach der Methode "Freizeitbelustigung" moderierte.

Dieselben alten Gesichter

Die Gesprächsteilnehmer waren dieselben alten Gesichter, die von den Bühnen des Tahrir-Platzes herabgestiegen waren, wobei einige von der Revolution aus der Dunkelheit des Vergessens hervorgeholt worden sind und man von anderen erst über die TV-Stationen gehört hat. Veränderung gibt es nur bei den Namen und Gesichtern, nicht aber in der Art und Weise der Auswahl der Teilnehmer oder den Empfehlungen und Politikansätzen.

Fouad Mebazaa; Foto: dpa
Mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet: Der alternde Übergangspräsident Mebazaa kann bis zur Wahl des Verfassungsrates im Oktober eigenmächtig Gesetze per Dekret erlassen.

​​In Tunesien ist tatsächlich noch immer der 78-jährige Fouad Mebazaa Staatspräsident, während das Amt des Premierministers vom 85-jährigen Beji Caid el Sebsi ausgeübt wird. Beide sind Überbleibsel der Kolonialzeit. Bisher hat es in Tunesien keine wirklichen Veränderungen dergestalt gegeben, dass die Ziele der Revolution Realität werden können.

Nicht einmal die Minimalforderungen der Revolution wurden erfüllt, nämlich die Symbolfiguren der alten Zeit, insbesondere Zine el-Abidine Ben Ali und seine Familiemitglieder für die in den vergangenen Jahrzehnten verübten Verbrechen vor Gericht zu stellen. Gleichzeitig aber wachsen unter Islamisten und Säkularen in der Frage der Identität des Landes und seiner zukünftigen politischen Ordnung Polarisierung und Ungeduld, so als ob sich nichts geändert hätte.

Auch in Ägypten sind die politischen Kräfte noch immer unfähig zur Einigung und zum nationalen Konsens bei der Festlegung einer "Roadmap" für die demokratischen Umgestaltungen, während der Militärrat als bloßer Wächter der Staatsmacht erscheint, der befürchtet, dass diese sich von ihm entfernt oder andere sich ihrer bemächtigen.

"Logik des Minimums"

Das Denkschema aller folgt noch den vor der Revolution des 25. Januar vorherrschenden Mustern, nämlich der "Logik des Minimums". Was fehlt sind revolutionäre Ideen, revolutionäre Werte und revolutionäres Denken. Was es gibt, sind lediglich alte Gesichter, verbrauchte Ideen und überkommene Vorstellungen.

Mitglieder der Ikhwan al-Muslimin vor ihrer Parteizentrale in Kairo
Beherrscht vom Streben nach Stärke und Dominanz in Staat und Gesellschaft: Aktivisten der Muslimbruderschaft (Ikhwan al-Muslimin) vor ihrer Parteizentrale in der Innenstadt von Kairo.

​​Die Muslimbrüder, die sich nicht einen Finger breit geändert haben, bereiten sich darauf vor, die Früchte der Revolution zu ernten. Ihre Erklärungen und ihr Handeln werden in fataler Weise von der Logik des Strebens nach Stärke und Dominanz beherrscht, während die "papierenen Parteien" falsche Wettbewerbe um ihren Anteil an der Macht austragen. Und die politische und geistige Elite ist offenbar damit beschäftigt, ihre persönlichen Interessen zu sichern.

In Tunesien ringen die traditionellen Gruppen und Gesichter noch immer miteinander um die Reservierung ihres Sitzes in der konstitutionellen Versammlung, die ursprünglich am 24. Juli zusammentreten sollte, deren Verschiebung auf den 16. Oktober aber inzwischen verkündet wurde. Ernsthafte Gespräche, um sich über die Grundzüge der neuen Verfassung zu einigen, hat es zwischen den politischen Kräften bisher nicht gegeben.

Gleichzeitig ist die tunesische Revolution daran gescheitert, Jahrzehnten des gegenseitigen Misstrauens ein Ende zu setzen, so dass die Islamisten, die wiederholt betont hatten, den zivilen Charakter des Staates zu respektieren, in Hyperaktivismus verfallen sind.

Die Revolutionen in Ägypten und Tunesien ließen die Grundpfeiler der Gesellschaft unangetastet und griffen nicht in deren Lebensadern ein, um sich von einer politischen, auf die Beseitigung des Kopfes des Regimes und seines Gefolges abzielenden Revolution zu einer sozialen Revolution zu wandeln, so dass die Hinterlassenschaften des Regimes in der Kultur, der sozialen Struktur und dem Wertekanon beseitigt werden können, welche die Gesellschaft in Leichenstarre – des Denkens und Handelns unfähig – versetzten.

Die einzige Option besteht also darin, diese Revolutionen zu vollenden, indem sie an alle Türen klopfen, jeder ihren heißen Atem im Nacken spürt und ihre neuen Werte (Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit) den Platz des leeren Wertekanons einnehmen, der sich über lange Jahre der Unterdrückung und Willkürherrschaft herausgebildet hat.

Khalil al-Anani

© Qantara.de 2011

Übersetzung aus dem Arabischen von Gert Himmler

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de