Authentisch verwurzelte Versöhnung

„Karin” ist der musikalische Dialog zweier Virtuosen, die mit ihren Instrumenten die Seelen ihrer Heimatländer miteinander versöhnen möchten. Marian Brehmer hat sich das zweite Album des armenischen Dudukvirtuosen Vardan Hovanissian und des türkischen Bağlama-Meisters Emre Gültekin angehört.

Von Marian Brehmer

Bereits die eng verwobene Tonalität des ersten Stücks zeigt, dass die Instrumente Bağlama und Duduk einander bei Weitem nicht fremd sind, sondern ihre volle Klangschönheit gar erst im Duett zu entfalten scheinen. Die türkische Langhalslaute und die armenische Aprikosenholzoboe sind mehr als nur zwei Instrumente aus Kleinasien. Mit ihren Klängen sind sie die kulturellen Botschafter zweier Länder, die in einem komplizierten historischen Verhältnis zueinander stehen.

„Karin" heißt das neueste Album, das aus der Kooperation des armenischen Dudukvirtuosen Vardan Hovanissian mit dem türkischen Bağlama-Meister Emre Gültekin entstanden ist. Das zweite Duoprojekt nach „Adana” bringt zwei Musiker zusammen, die zwar Kosmopoliten, musikalisch jedoch gänzlich in ihrer Heimat verwurzelt sind.

Im Spannungsfeld historischer Machtkämpfe

Die Platte beginnt so beschwingt und heiter, dass der unbedarfte Hörer sich erst einmal kein Bild davon machen dürfte, welch tiefe Tragik sich hinter dem Titel „Karin” verbirgt. Was wie ein Frauenname klingt, ist in Wirklichkeit die alte Bezeichnung für die ostanatolische Gebirgsstadt Erzurum. Über Jahrhunderte befand sich Erzurum im Spannungsfeld armenischer, russischer, iranischer und osmanischer Machtkämpfe - eine Stadt auf 1.900 Meter Höhe, am Kreuzungspunkt von Kulturen und Großreichen. Im armenischen Gedächtnis jedoch ist die Metropole vor allem aufgrund der Massenmorde an den Armeniern zur Zeit des Ersten Weltkriegs verankert geblieben.

Karin ist auch die Geburtsstadt von Hovanissians Großvater – einer von gerade einmal 200 Überlebenden nach der Deportation von rund 40.000 armenischen Bürgern im Zuge des damaligen Genozids.

Vor diesem familiengeschichtlichen Hintergrund erscheinen die Anstrengungen um Versöhnung, welche der armenische Virtuose im Einklang mit seinem musikalischen Partner unternehmen will, umso authentisch verwurzelter und bedeutender. Hovanissian wuchs in der armenischen Hauptstadt Yerevan auf, wo er durch den renommierten Klangmeister Khachik Khachatryan an die Duduk herangeführt wurde. Die Geschichte des Doppelrohrblattinstruments reicht auf über 2.500 Jahre zurück, weshalb sie oft auch als das Seeleninstrument Armeniens bezeichnet wird.

Seit nunmehr dreizehn Jahren ist Hovanissian befreundet mit dem türkischen Bağlamaspieler Emre Gültekin, den er in einem Brüsseler Tonstudio kennenlernte. Gültekin wuchs in Belgien als Sohn eines bekannten Bağlamaspielers auf. Im Zusammenspiel mit seinem armenischen Freund knüpft Gültekin bewusst an die Zeiten an, in denen das kulturell flüssige Erbe Anatoliens den Ton angab, lange bevor es in den rigiden Strukturen der Nationalstaatlichkeit erstarrte. “Karin” soll deshalb auch eine Erinnerung an die Jahre vor den großen Traumata sein, als Erzurum Zentrum einer künstlerisch-intellektuellen Multikultur war.

Dementsprechend enthält das Album neben armenischen, türkischen und kurdischen auch persische und georgische Elemente, die allesamt harmonisch miteinander verwoben sind. So beginnt etwa der Track „Karin” mit einer gemeinsamen Melodielinie von Saz und Duduk. Dann ertönt plötzlich eine Frauenstimme, die auf Persisch ein Gedicht des zeitgenössischen iranischen Dichters Ali Akbar Sheyda singt. Mit dem Track „Qamla Damtskevla” fühlt sich der Hörer dann plötzlich in eine georgische Gebirgslandschaft versetzt.

Grenzen scheinen sich aufzulösen

Dank der gefühlstragenden Vibes von Bağlama und Duduk, verschmelzend mit den Schlägen der Rahmentrommel Daf scheinen sich vor dem inneren Auge die weiten Gebirgspanoramen und gelbbraunen Felder Anatoliens aufzutun. Grenzen beginnen sich aufzulösen, Lied und Gedicht überbrücken Raum und Zeit, so wie sie es eh und je getan haben.

Kurzum: Man nimmt Hossanivian und Gültekin ihr Anliegen ab und möchte beim Hören der ebenso lebensbejahenden wie zuweilen melancholischen Musik den Wunsch aufrechterhalten, dass ein friedliches, post-ethnozentrisches Zusammenleben von Türken, Armeniern und Kurden möglich ist. Wenn auch die politische Ebene komplex und festgefahren erscheint, so ist der kulturelle Direktaustausch von Projekten wie diesem doch wegweisend und hoffnungsbringend.

Marian Brehmer

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