Ein Bartók der Turkmusik
Marc Sinan, Sie haben sich in Ihrem neuen Musiktheaterstück mit "Dede Korkut", einem großen Epos der Turkvölker, beschäftigt. Sind Sie selbst in Ihrer Kindheit damit aufgewachsen?
Marc Sinan: Leider nicht. Zunächst bin ich ja in Deutschland groß geworden. Darüber hinaus gehörte meine Mutter zur Generation der Atatürk-Türken, die vor allem eine Hinwendung zum Westen kultivierten. Wobei das eine etwas widersprüchliche Aussage ist, weil der Stoff erst 1928 wieder eine wirkliche Relevanz in der Türkei bekam, indem er - im Sinne der nationalen Politik - eine Anknüpfung an vorosmanisches Kulturgut ermöglichte.
In der Türkei, aber auch Kasachstan und Aserbaidschan gehört das Epos zum Volksgut. Welchen Stellenwert hat es dort, wenn Sie beispielsweise Vergleiche mit dem deutschen Nibelungenlied oder der finnischen Kalevala heranziehen?
Sinan: Ich habe den Eindruck, dass es deutlich breiter gestreut ist. Man kennt die verschiedenen Charaktere aus "Dede Korkut" eher wie bei uns Märchenfiguren. Die einzelnen Geschichten sind also vielleicht am ehesten mit Grimms Märchen zu vergleichen. Dabei werden aber viele Geschichten in persönlichen Varianten weiter gesponnen. Dede Korkut, der Erzähler, ist ein Weiser und eine übliche Formulierung ist: "Mein Dede Korkut hat gesagt ...", dann folgt ein Lehrspruch für Kinder. In der Türkei gibt es auch eine Zeichentrickserie dazu.
Was fasziniert Sie an dem Stoff?
Sinan: Ich wollte mich mit einem Mythos oder Märchen beschäftigen, einem Stoff, der tief in der Türkei verankert ist, aber sie auch geographisch verlässt. Ich habe mich dazu von Martin Greve, einem in Istanbul lebenden Orientalisten und Musikethnologen beraten lassen. Er meinte, da gäbe es eigentlich nur "Köroğlu" oder "Dede Korkut" zur Auswahl. Wenn man sich mit "Korkut" beschäftigt, ist eine der ersten Informationen, die man bekommt, dass in der sächsischen Landesbibliothek das einzig vollständig erhaltene Manuskript liegt. Da ich mein Werk im Auftrag des Dresdner Festspielhaus Hellerau und der Dresdner Sinfoniker machte, war das natürlich eine gute Verbindung.
Ich habe mir dann die aktuelle Übersetzung – das Manuskript ist wie damals üblich in arabischer Schrift verfasst – von Henrik Boeschoten beschafft und bin auf zwei Geschichten gestoßen, die mich faszinierten: den "Deli Dumrul"- und den "Tepegöz"-Text. Ersteren hat der bekannte türkischsprachige Autor Murathan Mungan in seinem Buch "Der Palast des Ostens" schon in einer sehr lesenswerten homoerotischen Abwandlung neu, das heißt, aus einer radikalen, heutigen Perspektive erzählt. Also blieb mir "Tepegöz".
Sie haben sowohl die Texte als auch die zum Stoff gehörende traditionelle Musik in Ihrer eigenen Tonsprache ausgedeutet. Aber es spielen auch traditionelle Musiker aus Usbekistan, Kasachstan und Aserbaidschan auf ihren originalen Instrumenten mit. Nach welchen Kriterien wurden sie ausgewählt?
Sinan: Wichtig war mir, dass alle Vorlagen, die ich benutzte, etwas mit dem Epos zu tun haben. Das heißt, alle Musiker sollten selbst einen Bezug zu dem "Dede-Korkut"-Stoff haben. Es gab zwei Möglichkeiten: entweder haben sie Stücke gespielt, die konkret den Stoff verarbeiten oder die sich auf bestimmte Gefühle des Textes beziehen – Rache oder Verführung etc. Besonders in Kasachstan ist ein Repertoire verbreitet, das mit dem Stoff direkt in Verbindung steht, also tatsächlich vom historischen Korkut stammt und sich bis heute erhalten hat. Das lässt sich mit den Inhalten liturgischer Traditionen der katholischen Kirche durchaus vergleichen.
Das Musiktheater ist auch die Folge einer Feldforschung, die Sie zusammen mit Markus Rindt, dem Intendanten der Dresdner Sinfoniker, unternommen haben. Sie haben 40-60 Stunden Material gesammelt, die nun vom ethnologischen Museum in Dahlem archiviert werden. Sind Sie damit nun eine Art digitaler Bartók oder Komitas der Turkmusik?
Sinan: In Dahlem würde man das jetzt wahrscheinlich sofort relativieren, weil wir sehr unwissenschaftlich gesammelt haben. Wobei das wohl sogar auch auf Bartók und Komitas zutrifft.
In den Text Ihres Musiktheaters flossen auch Interviewauszüge von türkischen Experten ein. Die Autorin und Mythologin Sema Kaygusuz liefert eine sehr politische Interpretation. Für sie bildet die Tatsache, dass der Vergewaltiger, der den Einäugigen und damit das Unglück gezeugt hat, erst im Laufe der Überlieferung zu einem Fremden gemacht wurde, eine Analogie zur Gedenkpolitik der Türkei. Die Nichtanerkennung der eigenen Schuld bringt sie unter anderem mit dem Genozid an den Armeniern in Zusammenhang.
Sinan: Sie sagt übrigens nicht "Völkermord", sondern hält sich hier an die Formulierung der verantwortlichen Jungtürken selbst: Massaker. Ich hatte eigentlich gar nicht vor, mich auf die armenische oder kurdische Geschichte zu beziehen, erst im Gespräch ergab sich das. Sema Kaygusuz hat verschiedene Aspekte des Stoffes analysiert, aber als sie dann auf diesen Punkt kam, liefen mir, weil es meine eigene Geschichte reflektiert, die Tränen herunter.
Ihre Mutter ist armenisch-türkischer Herkunft. Sind Sie mit diesem Bewusstsein aufgewachsen?
Sinan: Das wurde in der Familie totgeschwiegen. Meine Mutter hat selbst relativ spät realisiert, was das eigentlich für eine Geschichte ist, die dahinter steht. Schon meine Großmutter verdrängte dieses Thema. Sie war eine gläubige Muslima, die sogar nach Mekka gepilgert ist. Kurz vor ihrem Tod kam das Gespräch darauf, und meine Mutter sagte zu ihr: "Aber Du warst doch als Kind Christin." Und meine Großmutter antwortete daraufhin: "Sag'das nicht so laut, das ist eine Sünde." Sie hatte es so verinnerlicht, dass ihre Herkunft eine Sünde sei, dass sie es genauso weitergegeben hat.
Kaygusuz berührt einen wesentlichen Punkt, den des Umgangs mit kollektiver Schuld…
Sinan: Alle Kulturen haben große Schwierigkeiten, damit umzugehen. Und es ist hier interessant, wie diese Tatsache sich in einem Text niederschlägt, der nicht durch einen einzigen Autor, sondern im Sinne oraler Traditionen von einer ganzen Gesellschaft geschrieben worden ist. Ein Mythos ist ja darum so aufgeladen mit kulturellem Gedächtnis, weil er über Jahrhunderte hinweg weitererzählt und verändert wurde.
In unserem Fall steht am Anfang des Textes eigentlich eine Vergewaltigung. Interessanterweise aber wird diese Ausgangssituation kaum thematisiert. Von der Gewalt gegen die Nymphe spricht niemand mehr, sondern alle nur noch von dem "Monster", das dadurch zustande kam und das reihenweise die Helden der Oghusen (des Turkstamms, Anm. AK) abschlachtet. Er muss nun gerichtet werden, und das ist so spannend, dass sich niemand mehr fragt, wo die Sache eigentlich angefangen hat. Würde man die Sache juristisch aufarbeiten, müsste man sich mit dem eigentlichen Täter beschäftigen, der Mutter müsste Gerechtigkeit widerfahren, und das arme Kind müsste von der Gesellschaft erzogen und ertragen werden.
Interview: Astrid Kaminski
© Qantara.de 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de