Frau ohne Begräbnis
Damals beschimpften viele Assia Djebar als "Hure", als sie 1975 ihren Debütroman "Der Durst" in Frankreich veröffentlichte. Heute würdigen alle die führende Schriftstellerin, Historikerin und Filmemacherin des Maghreb als "Stimme der algerischen Frauen". Damals behandelte sie in ihrem Erstlingswerk die sexuelle Selbstbestimmung der Frau, die "Emanzipation des weiblichen Körpers"- ein zweifaches Tabu in der traditionell-islamischen Gesellschaft ihres Landes. Heute schreibt sie “ein Oratorium schwebender Stimmen“, um den algerischen Widerstandskämpferinnen ein Denkmal zu setzen. Hier handelte sich auch um ein Stück gewagter, emanzipierter und reflektierter Frauenliteratur.
Zoulikha heißt eine dieser Widerstandskämpferinnen. Sie ist die Heldin des jüngsten Buches der algerischen Schriftstellerin Assia Djebar Frau ohne Begräbnis. Die Autorin schreibt im Epilog des Buches, dass Zoulikha immer noch lebt, "aber nur in der Erinnerung ihrer beiden Töchter.“ Um die "Leidensgeschichte" Zoulikhas wachzurufen, kehrt Djebar 1975 -dreizehn Jahre nach der Unabhängigkeit Algeriens- in ihre Heimatstadt Caesarea zurück. Auf deren Hügel hört sie drei Tage lang die Erzählungen Zoulikhas Töchter und ihrer Freundinnen an. 1981 schreibt sie die erste Fassung in Paris und zwanzig Jahre später die endgültige in New York.
Von vielen Stimmen eingeleitet, stellt sich das Oratorium Frau ohne Begräbnis in dreizehn Sätzen dar. Die abenteuerliche Geschichte Zoulikhas verschmilzt mit der Kindheit ihrer Töchter, verbindet sich mit den entrissenen Erinnerungen einer Wahrsagerin und Mitkämpferin, die mit Stolz über die gefährlichen Aktivitäten eines von Zoulikha ins Leben gerufenen geheimen Frauennetzwerkes erzählt.
Das Tonstück Frau ohne Begräbnis schwebt über die historischen und politischen Ereignisse in Algerien, die immer schon Djebars Stil als unbestechliche Chronistin ihres Landes kennzeichneten. Wie in ihren anderen Büchern bettet sie individuelle Schicksale in die kollektive Geschichte ein, verflicht berichtende Überlieferungen mit eigenen Eindrücken aktuellen Geschehens.
Der 1990 erschiene Roman Fantasia z. B. hätte nicht geschrieben werden können, wenn 1827 der algerische Dey (eine Herrschaftsbezeichnung) Hussein bei einer Audienz anlässlich des Beiram-Festes dem französischen Konsul Pierre Deval mit einem Fliegenwedel nicht mehrere Schläge versetzt hätte. Denn diese Schläge bildeten damals den Auftakt der französischen Angriffe gegen Algerien. In diesem Roman schildert die Autorin die barbarische Eroberung Algiers. Eindringlich stellt Djebar die "Ausräucherung" von 1500 rebellischen Männern, Frauen und Kindern in den Höhlen von el Kantara dar. Sie erstickten und verbrannten dort durch eine Feuersbrunst.
In ihrem fünften 1996 erschienenen Roman Weißes Algerien setzt sie ihre literarische Gedächtnisarbeit fort und lässt jene Nordafrikaner auftreten, die ihre Existenz im Kampf für die Freiheit auf Spiel setzten- die Intellektuellen und besonders die Frauen unter ihnen, die sich gegen Verdrängung und für ein widerstandsfähiges Erinnern einsetzten.
Oran-Algerische Nacht , das elfte 2001 erschienene, literarische Werk der 67-jährigen Djebar knüpft thematisch an Weißes Algerien an. Sie schildert in diesem Roman anhand von einfühlsamen und lebendigen Porträts den Algerienkonflikt, der 1991 ausbrach, nachdem die Armee die von der Islamischen Heilfront (FIS) gewonnenen Parlamentswahlen annullierte. Kunstvoll malt Djebar die Auswirkungen des blutigen Kampfes zwischen dem Regime und den in den Untergrund abgetauchten FIS-Anhängern auf das Leben einzelner Frauen aus. Die Geschichten zeigen nicht nur den schrecklichen Terror und die nackte Gewalt, sie stellen auch den Lebensmut und die Stärke der Frauen und Familien dar- über das Entsetzen hinweg.
In Frau ohne Begräbnis blickt Assia Djebar wieder zurück auf den sieben Jahre andauernden Befreiungskrieg Algeriens gegen die Kolonialmacht Frankreich vor ca. 40 Jahren. Ihre Protagonistin Zoulikha stand 1956 und 1957 tatsächlich nicht nur im Zentrum des Kampfes, sondern auch in der Mitte einer Organisation, die wie eine Brücke zwischen Partisanen auf den Bergen und den Stadtbewohnern in Caesarea funktionierte. Sie war zweiundvierzig als sie ihren dritten Ehemann bei den Partisanen verlor. Zoulikha sah sich dann gezwungen, ihre beiden noch kleinen Kinder bei ihrer älteren Tochter anzuvertrauen und sich den Widerstandskämpfern anzuschließen. Kurz danach wird sie von den französischen Soldaten verhaftet, bestialisch gefoltert und dann als Vermisst gemeldet. Nach Recherchen Assia Djebars hielt sie davor eine aufwühlende Rede vor allen. "Mit der sie sich in die Lüfte erhob... Wie eine Vogel-Frau in dem Mosaik der Stadt, erscheint sie ihren Mitbürgern heute halb ausgelöscht zu sein. Doch ihr Lied ist geblieben", schreibt Assia Djebar im Epilog.
Im Tonstück Frau ohne Begräbnis werden aber die historischen Ereignisse von den Sehnsüchten und Hoffnungen der Heldin, Zoulikha, überrollt, weil sie u. a. in diversen Kapiteln lange Monologe über Erlösung und Freiheit ausführt. Assia Djebar, die 2000 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat, verzichtet bewusst auf die genaue Schilderung der seelischen Bewegungen ihrer Figur und lässt sie in einer unaufdringlichen Selbstreflexion ihr existentielles Verlangen nach ewiger Freiheit singen, ohne sich vorstellen zu wollen, wie sie in Zukunft aussehen könnte/sollte. Der Heldin gilt in jeder Hinsicht die ermutigende Zuneigung der Autorin, die sich schon als Kind mit der französischen Kultur auseinandersetzen musste. Obwohl sie ihre Bücher ausschließlich in Französisch schreibt, schwingt sie immer noch die Feder gegen das Grauen kolonialen Terrors, gegen das Schweigen und das Vergessen. Heute und auch damals.
Fahimeh Farsaie
Quelle: Zeitschrift für Kulturaustausch 1/03, © 2003