Zivilgesellschaft im Überlebensmodus

Ein Mann im Anzug geht auf einen vergoldeten Stuhl zu.
Kais Saied bei seiner Vereidigung für seine zweite fünfjährige Amtszeit als Präsident Tunesiens, 21. Oktober 2024. (Foto: Picture Alliance / Anadolu | Y. Gaidi)

Seit 2024 zieht der tunesische Präsident Kais Said das Tempo an: seine autoritäre Kontrolle nimmt Andersdenkende und gesellschaftliche Minderheiten ins Visier. Die EU sollte die Zivilgesellschaft fördern, anstatt Saids populistische Rhetorik zu verstärken.

Von Sophia Hiss

Im Oktober 2024 wurde Präsident Kais Saied in einem streng überwachten politischen Umfeld wiedergewählt. Im Wahlkampf zuvor wurden Oppositionskandidat:innen mundtot gemacht und die unabhängige Wahlaufsicht de facto blockiert.

Damals veröffentlichte die Bertelsmann Stiftung eine Analyse, die zwei mögliche Szenarien für die zukünftigen Beziehungen zwischen Tunesien und der EU skizzierte. In dem einen folgt auf zunehmenden Autoritarismus auch Isolation, das andere Szenario ging von fortgesetzter autoritärer Herrschaft aus, jedoch begleitet von selektiven Verbesserungen in der Regierungsführung und wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Wo stehen wir nun, fast ein Jahr später? 

Ein Punkt aus der damaligen Analyse bedarf der Korrektur: Es kam durch eine Gesetzesänderung, die eine automatische Registrierung von 18-Jährigen im Wahlregister einführte, zu einem plötzliche Anstieg von 700.000 registrierten Wähler:innen vor der Wahl. Diese Entscheidung wurde in Tunesien viel diskutiert, aber von der Wahlkommission ISIE nicht erklärt. Dies ist relevant, da es die Wahlbeteiligung verzerrt, sie erschien historisch niedrig. Tatsächlich konnte Saied seine stabile Unterstützerbasis weitgehend halten, insbesondere außerhalb der urbanen Elite – dieser Fakt wird in der akademischen Analyse oft übersehen. 

Eingeschränkte Wahlfreiheit

Schon im Vorfeld der Wahl war klar, dass Saieds neue Amtszeit einen weiteren Abbau von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung bedeuten würde. 

Im April 2022 hatte Präsident Saied die ISIE umstrukturiert und alle sieben Mitglieder selbst ernannt. Vor der Wahl schloss die ISIE rechtswidrig 14 Kandidat:innen vom Rennen um die Präsidentschaft aus – eine Entscheidung, die das Verwaltungsgericht, das höchste Gericht Tunesiens und einzig zuständig für Kandidatenfragen, aufhob. Doch die ISIE ignorierte das Urteil, was Saieds Wiederwahl effektiv absicherte. 

Nur wenige Tage vor der Abstimmung wurde Ayachi Zammel, einer von Saieds zwei verbliebenen Konkurrenten, inhaftiert. Dieser Zusammenbruch der Kontrollmechanismen spiegelt sich im Bertelsmann Transformation Index (BTI 2024) wider, wo Tunesien bei „Freien und fairen Wahlen“ nur 4 von 10 Punkten erhält. Im BTI 2026* (wird Anfang 2026 veröffentlicht) fällt dieser Wert weiter auf nur 2 von 10 – ein klares Zeichen für den beschleunigten Verfall der Wahlintegrität und der demokratischen Aufsicht. 

Schrumpfender zivilgesellschaftlicher Raum

Zivilgesellschaft und Medien stehen unter massivem Druck, und führende Oppositionsfiguren und Aktivist:innen sitzen im Gefängnis oder wurden zum Schweigen gebracht. Unter ihnen bekannte Persönlichkeiten wie die renommierte Menschenrechtsaktivistin Sihem Bensredine und die Anwältin Sonia Dahmani – letztere wurde verhaftet. Auch Familienangehörige, die öffentlich ihre Freilassung forderten, wurden später zu Gefängnisstrafen verurteilt. 

Politische Diskussionen im öffentlichen Raum sind selten geworden; Kulturveranstaltungen werden oft von Zivilpolizisten besucht und ein Klima der Angst hat sich ausgebreitet, in dem sensible Themen nur noch im Flüsterton angesprochen werden. Im Zentrum dieser Repression steht das Dekret 54, insbesondere der umstrittene Artikel 24. Diese Bestimmung kriminalisiert die Verbreitung sogenannter „Falschinformationen“ im Internet, wenn von staatlicher Seite angenommen wird, dass Schaden entstehe – ohne, dass für den Schaden Nachweise erbracht werden.  

Obwohl der Gesetzgebungsausschuss des Unterhauses im Juli 2025 das Gesetz zur Prüfung akzeptierte, bleibt dessen Verfassungsmäßigkeit stark zweifelhaft. Der Artikel verstößt klar gegen grundlegende verfassungsrechtliche Prinzipien, da er vermutete Absicht bestraft und Staatsanwält:innen weitreichende Ermessensbefugnisse einräumt. 

Entsprechend verzeichnet der BTI 2026 einen weiteren Rückgang sowohl bei der Meinungsfreiheit als auch bei den Versammlungs- und Vereinigungsrechten – jeweils nur noch 4 von 10 Punkten, nach 5 Punkten im BTI 2024. Dieser Abbau wird auch durch andere internationale Pressefreiheitsrankings bestätigt. 

Unterdrückung von Dissens und Verfolgung von Minderheiten

Ein ähnliches Muster von Rechtsüberschreitungen und Exekutiveingriffen zeigt sich in der sogenannten „Staatsstreich-Affäre“ (Affaire du complot contre l’État), die zum Symbol für die autokratische Machtausweitung geworden ist. Seit Anfang 2023 führt die Regierung eine Verhaftungswelle gegen Oppositionspolitiker:innen, Anwält:innen, Medienschaffende und Geschäftsleute. Oft unter dem Vorwurf des „Komplotts gegen die Staatssicherheit“ und meist ohne klare Beweise. Prozesse werden wiederholt verschoben oder unter Ausschluss der Öffentlichkeit – oder sogar der Angeklagten – durchgeführt. 

Die Anklagen bleiben vage und Beobachter:innen sprechen von politisch motivierten Verfahren. Während der BTI 2026 bei den Indikatoren „Gewaltenteilung“ (3 Punkte) und „Unabhängige Justiz“ (4 Punkte) noch keinen weiteren Rückgang zeigt, deuten Entwicklungen in der „Staatsstreich-Affäre“ und anderen weniger bekannten Fällen – in denen Richter:innen politische Entscheidungen aus Angst vor Entlassung meiden und Häftlinge jahrelang in Untersuchungshaft sitzen – auf eine baldige Abwertung hin. Im Gegensatz dazu ist Tunesiens Wert in der Kategorie Bürgerrechte stark gesunken: von 6 auf 3 Punkte, was den Abbau von Schutzrechten für persönliche Freiheit, Rechtsgleichheit und Zugang zur Justiz – sowohl de jure als auch de facto – widerspiegelt. 

Über politische Gegner hinaus betrifft dieser Rückschritt auch gesellschaftlich marginalisierte Gruppen: Die tunesischen Behörden haben ihre Hetze und Repression gegenüber vor allem subsaharischen Migrant:innen verstärkt. Die Rhetorik von „Bevölkerungsaustausch“ mündete mehrfach in gewalttätige Übergriffe, einschließlich der Zerstörung von Lagern in Sfax durch Sicherheitskräfte im April 2025. Internationale Organisationen meiden das Thema weitgehend – aus Angst oder Resignation – doch Tunesien ist für subsaharische Migrant:innen kein sicherer Ort mehr.

Gesellschaft im Überlebensmodus

Parallel dazu haben sich Tunesiens wirtschaftliche Bedingungen weiter verschlechtert. Der Alltag ist geprägt von schwankenden Preisen für Importwaren, steigenden Lebenshaltungskosten und unsicherem Zugang zu grundlegenden Gütern. Die staatliche Verwaltung funktioniert in vielen Bereichen kaum noch, bedingt durch Saieds fortgesetzte Säuberungen. 

Dutzende Minister:innen, Generaldirektor:innen und Gouverneure wurden oft über Nacht und ohne Begründung entlassen. Ein besonders anschauliches Beispiel ist das Gouvernorat Ben Arous, welches innerhalb von 48 Stunden drei verschiedene Gouverneure erlebte – einer davon trat sein Amt nie an. Der Premierminister Kamel Madouri wurde im März 2025 nach weniger als einem Jahr im Amt entlassen und über Nacht durch den Infrastrukturminister ersetzt. Unter Saied sind Schlüsselpositionen im Staat kurzlebig besetzt, eine erratische Kommunikation und undurchsichtige Entscheidungsprozesse treten an die Stelle institutioneller Kontinuität. 

Für viele Tunesier:innen ist der Alltag inzwischen von individueller Existenzsicherung geprägt – jeder ist zunehmend nur noch darauf bedacht,  über die Runden zu kommen. Viele Familien sind auf Überweisungszahlungen von Verwandten im Ausland angewiesen, die 2023 rund 6 Prozent des tunesischen BIP ausmachten. Vertrauen in öffentliche Institutionen ist gering, private Alternativen werden für Gesundheitsversorgung, Bildung und andere zentrale Strukturen zunehmend bevorzugt. 

Massenproteste sind selten geblieben, aber es gab Momente kollektiver Wut – am deutlichsten wurde dies im April 2025, als in der Provinz Sidi Bouzid ein Schulgebäude einstürzte und drei Schüler starben. Die Tragödie löste gewaltsame Proteste und einen Generalstreik in einer Region aus, die seit Langem unter Vernachlässigung leidet. Es war ein symbolisches Echo der Revolution von 2011, die in derselben Region ihren Ausgang nahm. Auch wenn dieser Ausbruch der Wut keinen landesweiten Aufstand auslöste, machte er die ungelösten Spannungen und potenziellen gesellschaftlichen Brandsätze im tunesischen Landesinneren deutlich. 

Eine Chance für die EU zur Neuausrichtung

Der Fokus der EU liegt mittlerweile auf anderen Krisen – von Syrien bis Gaza – während Kürzungen in der Entwicklungshilfe, insbesondere nach der Wiederwahl von Donald Trump in den USA, die Unterstützung lokaler Initiative schwächen. Viele Tunesier:innen verloren Arbeitsplätze, die an Geberprojekte gebunden waren.

Während sich der Autoritarismus vertieft und Tunesien sich stärker nach innen wendet, darf die Zivilgesellschaft nicht allein gelassen werden. Eine erneuerte und glaubwürdige EU-Strategie – basierend auf Vertrauen, Reaktionsfähigkeit und langfristiger Zusammenarbeit – ist jetzt wichtiger denn je. 

In den letzten zwei Jahren zielte die Unterstützung der EU für die tunesische Regierung – angeführt von Italien – primär darauf ab, irreguläre Migration einzudämmen, was unbeabsichtigt Saieds populistische und spaltende Narrative verstärkte. Wenn Veränderung kommt, wird sie wahrscheinlich nicht aus den Eliten, sondern aus dem Herzen Tunesiens entstehen – aus den vernachlässigten Regionen, der frustrierten Jugend und widerstandsfähigen Gemeinschaften.

Dafür braucht es ein ehrliches Engagement und vor allem einen Dialog auf Augenhöhe. EU-Mitgliedsstaaten treffen aufgrund ihrer ambivalenten und zersplitterten Haltung gegenüber Israel in Tunesien auf besonderes Misstrauen. Dies untergräbt ihre Glaubwürdigkeit und beeinträchtigt ihr Engagement vor Ort. Wenn die EU Tunesiens demokratische Kräfte unterstützen will, muss sie Vertrauen zurückgewinnen und jene Kräfte fördern, die echten Wandel herbeiführen können.

 

Mit freundlicher Genehmigung des BTI-Blogs der Bertelsmann-Stiftung. Übersetzung aus dem englischen Original durch die Blog-Redaktion.

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