Kommt jetzt der Aufstand gegen Kais Saied?

Erneut war die Wahlbeteiligung bei Parlamentswahlen in Tunesien extrem niedrig. Die Bevölkerung scheint entmutigt, der autoritär regierende Staatspräsident Kais Saied zunehmend unpopulär. Wohin bewegt sich das Land? Von Cathrin Schaer und Tarak Guizani

Von Cathrin Schaer & Tarak Guizani

Tunesien hat einen weiteren Schritt weg von der Demokratie und hin zu einer stärker autoritären Herrschaftsform getan. Die zweite Runde der Parlamentswahlen am 30. Januar bezeichnen manche Tunesier als "Geisterwahl", eine Wahl, an der sich kaum jemand beteiligte: Gerade einmal gut elf Prozent der rund acht Millionen Wahlberechtigten entschieden sich zur Stimmabgabe, ähnlich wie schon beim ersten Durchgang im Dezember.

Laut dem "International Institute for Democracy and Electoral Assistance" in Stockholm gab es womöglich weltweit noch nie zuvor eine Parlamentswahl, an der so wenige Stimmberechtigte teilnahmen. Beobachter sehen in der geringen Beteiligung ein Anzeichen von zunehmender Politikverdrossenheit der Tunesier.

Dabei schien dem kleinen Maghreb-Land nach der Revolution von 2011, die dann auch auf andere Länder der Region übersprang, zunächst durchaus Erfolg beschieden. Diktator Zine el-Abidine Ben Ali stürzte, Tunesien schien auf dem Weg zu einer echten Demokratie.



Nicht zuletzt bei vielen westlichen Partnern wurde diese Entwicklung als positives Einzelbeispiel für einen gelingenden Arabischen Frühling wahrgenommen - während in vielen anderen Ländern der Region schon bald  frühere Machteliten zurückkehrten oder gewaltsame Konflikte ausbrachen. 

Doch die Wahlen vom vergangenen Wochenende sind nur der jüngste Hinweis darauf, dass das tunesische Experiment zu scheitern droht.

Tunesiens Präsident Kais Saied bei der Stimmabgabe; Foto: Reuters
Tunesien hat einen weiteren Schritt weg von der Demokratie und hin zu einer stärker autoritären Herrschaftsform getan. Die zweite Runde der Parlamentswahlen am 30. Januar bezeichnen manche Tunesier als "Geisterwahl", eine Wahl, an der sich kaum jemand beteiligte: Gerade einmal gut elf Prozent der rund acht Millionen Wahlberechtigten entschieden sich zur Stimmabgabe, ähnlich wie schon beim ersten Durchgang im Dezember. Laut dem "International Institute for Democracy and Electoral Assistance" gab es womöglich weltweit noch nie zuvor eine Parlamentswahl, an der so wenige Stimmberechtigte teilnahmen. Beobachter sehen in der geringen Beteiligung ein Anzeichen von zunehmender Politikverdrossenheit der Tunesier.

Boykott und Protest

Eine der stärksten politischen Parteien des Landes, die als vergleichsweise moderat geltende islamisch-konservative Ennahda (Renaissance), zuvor die größte Fraktion im inhzwischen aufgelösten tunesischen Parlament, boykottierte die Wahlen ebenso wie andere, mehr weltlich orientierte Oppositionsparteien und zivilgesellschaftliche Gruppen. Sie alle brachten damit ihren Protest gegen den von Staatspräsident Kais Saied eingeschlagenen politischen Kurs des Landes zum Ausdruck.

Saied war 2019 zum tunesischen Staatspräsidenten gewählt worden, bei einer Wahlbeteiligung von rund 55 Prozent. Im Sommer 2021 löste er kurzerhand das tunesische Parlament auf. Interne Kämpfe zwischen Parlamentariern, politischer Stillstand, Korruption und Wirtschaftskrise sowie die Corona-Pandemie erforderten einen Neustart - so begründete Saied seinerzeit seinen Schritt.

Danach setzte er seinen autoritären Kurs fort. Er brachte die Justiz-, Wahl- und Antikorruptionsbehörden des Landes unter seine Kontrolle, ließ politische Gegner verfolgen und verhaften.

Doch auch mit diesen Schritten schaffte er es nicht, das Land aus der Dauerkrise zu führen. Seitdem hat der Präsident massiv an Popularität verloren. Nach anfänglich durchaus wahrnehmbarem Zuspruch in Teilen der Bevölkerung  sank die Zustimmung zu seiner Politik stark, sichtbar etwa an der ebenfalls sehr niedrigen Wahlbeteiligung bei einem Verfassungsreferendum im Sommer des vergangenen Jahres sowie an der ersten Runde der Parlamentswahlen im Dezember. Immer wieder kommt es zu größeren Kundgebungen gegen die Politik des Präsidenten.

"Prognose sehr düster"

"Angesichts der geringen Wahlbeteiligung halten wir den von Saied initiierten politischen Prozess für illegitim", sagte Ennahda-Sprecher Imed Khemiri der Deutschen Welle (DW). "Dieser Prozess hat eine ohnehin schon komplexe Situation zusätzlich verschärft. Die Mehrheit der Tunesier lehnt Saids Weg entschieden ab."

Befürchtet wird nicht zuletzt, dass Saied trotz offenkundig mangelnder Unterstützung weiterhin Schritt für Schritt Demokratie und Pluralismus abbauen oder zumindest stark einschränken wird. "Wir können mit großer Sicherheit sagen, dass Tunesiens kurzfristige Prognose sehr düster ist - wirtschaftlich, politisch und sozial", urteilt im DW-Interview auch eine Beobachterin aus dem Ausland, Monica Marks, Tunesien-Expertin und Professorin an der New York University in Abu Dhabi.

Dennoch dürfte Saied zumindest kurzfristig an der Macht bleiben, erwartet sie. Und die ohnehin seit geraumer Zeit in Schwierigkeiten steckende tunesische Wirtschaft werde weiter zu kämpfen haben.

Parlamentswahlen in Tunesien; Foto: AFP
Was kommt als nächstes in Tunesien? Nach der schwindenden Popularität des Präsidenten sehen manche Beobachter Anzeichen für eine kommende soziale Explosion. Aber nicht alle sehen das so. Die tunesische Opposition sei nicht geeint genug, um Saied aus der Macht zu drängen, sagt Tunesien-Expertin Monica Marks von der New York University Abu Dhabi. Sie rechnet eher mit weiterer Desillusionierung vieler Bürger: "Viele Tunesier sind einfach nur erschöpft", meint sie. "Sie sehen keine inspirierenden politischen Alternativen." Das Land fühle sich für sie nur noch orientierungslos, düster und erschöpft an.



Weniger pessimistisch sieht dies Ines Jaibi, eine tunesische Anwältin und Demokratieaktivistin. Ereignisse wie die boykottierten Parlamentswahlen würden tunesische Oppositionsgruppen weiter zusammenbringen, ist sie überzeugt. Als Beispiel verweist sie auf eine derzeit entstehende Initiative, die engere Beziehungen zwischen dem sehr einflussreichen tunesischen Gewerkschaftsbund (UGTT), der Tunesischen Menschenrechtsliga, der Anwaltskammer des Landes und mehreren politischen Parteien zu knüpfen versucht.



Zwar gebe es innerhalb der Opposition zahlreiche Meinungsverschiedenheiten, räumt sie ein. "Doch angesichts der sich verschlechternden Wirtschaftslage gibt es auch eine neue Dynamik. Wir haben jetzt ein Ziel, und das ist, Saieds autoritäre Herrschaft abzuschaffen. Die Opposition ist nicht tot. Im Gegenteil, sie wird stärker."

Hoffnung auf gemeinsamen Kandidaten

Hoffnung ziehen Aktivisten wie Jaibi aus der schwindenden Popularität des Präsidenten. "Said hat ernsthafte Reformen versprochen, doch davon haben wir nichts gesehen", sagt sie. "Die Leute sind dieser Versprechen überdrüssig. Deshalb haben sie die letzten beiden Wahlen boykottiert." Die meisten Tunesier glaubten nicht mehr, dass das Land unter Saied eine Antwort auf ihre Probleme finden könne, insbesondere die wirtschaftlichen Probleme blieben ungelöst, so Jaibi.

Darum setzt sie darauf, dass die Tunesier die Opposition künftig stärker unterstützen werden. Gleichzeitig hofft sie, dass sich die Oppositionsparteien für die kommenden, für 2024 geplanten Präsidentenwahl auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen werden. "Das wäre ein wichtiger Schritt."

Ähnlich sieht es der tunesische Politologe Mohamed-Dhia Hammami von der Syracuse University in New York. "Im Moment ist die politische Landschaft Tunesiens hochgradig fragmentiert", so Hammami. Unter Saieds Anhängern beobachte er zunehmende Machtkämpfe. "Das wird jede Art von Stabilisierung nahezu unmöglich machen, ganz gleich, ob sie nun auf demokratischem oder autokratischem Wege erfolgt."

Doch wie immer sich die Politik des Landes entwickeln werde, eine entscheidende Rolle dürfte die schwächelnde Wirtschaft des Landes spielen - hier sind sich Hammami und viele andere Analysten einig.



Deren Verfall setzt den Menschen immer weiter zu. Zuletzt wurden sogar Grundnahrungsmittel wie Milch und Butter knapp, die Preise für Grundnahrungsmittel wie Speiseöl verdoppelten sich.

Supermarkt in Tunesien; Foto: picture-alliance
Kommt es zur sozialen Explosion? Der Niedergang der Wirtschaft setzt den Menschen in Tunesien immer weiter zu. Zuletzt wurden sogar Grundnahrungsmittel wie Milch und Butter knapp, die Preise für Grundnahrungsmittel wie Speiseöl verdoppelten sich. Die Regierung des Landes bemüht sich indessen weiter um ein Rettungspaket des Internationalen Währungsfonds (IWF). Eine entsprechende Vereinbarung war im Oktober vergangenen Jahres angekündigt worden, ist aber immer noch nicht abgeschlossen. Doch selbst wenn die Rettungsaktion zustande kommt, könnten die vom IWF geforderten Bedingungen - etwa Begrenzung der Staatsausgaben und Subventionskürzungen - gerade die Ärmsten des Landes treffen.



Doch auch der Abbau demokratischer Rechte beschäftigt viele Bürger: "Tunesien befindet sich in einer schwierigen Situation, da die Demokratie hier seit Juli 2021 aufgekündigt ist", beklagt etwa Murad al-Bakhti, 35, Inhaber eines Unternehmens für digitales Marketing. Außerdem haben der Präsident und seine Regierung bisher keine klare Vision zur Überwindung der Wirtschaftskrise geliefert."

Warnzeichen einer drohenden Explosion

Die Regierung des Landes bemüht sich indessen weiter um ein Rettungspaket des Internationalen Währungsfonds (IWF). Eine entsprechende Vereinbarung war im Oktober vergangenen Jahres angekündigt worden, ist aber immer noch nicht abgeschlossen. Doch selbst wenn die Rettungsaktion zustande kommt, könnten die vom IWF geforderten Bedingungen - etwa Begrenzung der Staatsausgaben und Subventionskürzungen - gerade die Ärmsten des Landes treffen.

"Trotz reichlicher Beweise scheint Saied die Warnzeichen einer drohenden sozialen Explosion nicht wahrzunehmen", deutete der tunesische Kolumnist Haythem Guesmi die Wahlen vom vergangenen Wochenende in einem Kommentar für die Website des Nachrichtensenders Al Jazeera. Er prophezeit: "Diese Explosion wird seine Diktatur stürzen. Es wird einen weiteren tunesischen Aufstand geben."

Nicht alle sehen das so. Die tunesische Opposition sei nicht geeint genug, um Saied aus der Macht zu drängen, sagt Tunesien-Expertin Monica Marks von der New York University Abu Dhabi. Sie rechnet eher mit weiterer Desillusionierung vieler Bürger: "Viele Tunesier sind einfach nur erschöpft", meint sie. "Sie sehen keine inspirierenden politischen Alternativen." Das Land fühle sich für sie nur noch orientierungslos, düster und erschöpft an.

Cathrin Schaer und Tarak Guizani



© Deutsche Welle 2023



Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.