„Ein Raum für schwierige Fragen“

Ein Topf wird in die Höhe gehalten, die andere Hand hält einen Löffel
Mit Löffeln und Töpfen Krach zu machen, ist zu einer Form des Protests gegen den Krieg im Gazastreifen geworden. (Foto: Picture Alliance / Anadolu | S. Qaq)

Amira Mohammed und Ibrahim Abu Ahmad begannen mit ihrem Podcast nach dem 7. Oktober 2023. Im Interview erklären die beiden, warum auch in der zweiten Staffel der gewaltfreie Aktivismus im Zentrum ihrer Arbeit steht.

Interview von Anna-Theresa Bachmann

Ihr habt mit der Produktion des Podcast Unapologetic: The Third Narrative (UTTN) direkt nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober und dem Beginn des Gazakrieges begonnen. Wie würdet ihr das „dritte Narrativ“ beschreiben, das ihr im Kontext von Israel und Palästina stärken wollt?

Ibrahim Abu Ahmad: Die Debatten über Israel und Palästina sind extrem polarisiert, auf lokaler wie internationaler Ebene. Das „dritte Narrativ“ ist eine einzigartige, inklusive Community für alle, die nach echten, gewaltfreien Lösungen suchen. Es geht nicht nur darum, zwischen zwei Seiten zu vermitteln – sondern die Art der Diskussion grundsätzlich zu verändern und den Weg für echten Wandel zu ebnen.

Portrait of Ibrahim Abu Ahmad
Co-host von Unapologetic: The Third Narrative

Ibrahim Abu Ahmad ist ein palästinensisch-israelischer politischer Aktivist, Friedensaktivist, Redner und Schriftsteller. Ibrahim hat einen Master-Abschluss in Nationaler Sicherheit von der Universität Haifa und einen Bachelor-Abschluss in Internationalen Beziehungen, den er an der American University in Kairo und der James Madison University in Virginia, USA, erworben hat. Ibrahim ist in Nazareth geboren und aufgewachsen und lebt derzeit im Norden Israels.

Und was bedeutet „unapologetic“ – also unverblümt, kompromisslos – für euch?

Amira Mohammed: Wir machen in Bezug auf zwei Themen keine Kompromisse: unsere palästinensische Identität, die weiter reicht als an nationalstaatliche Grenzen und die Erfahrung von Leid, und zweitens, unsere Forderung nach Gerechtigkeit, kollektiver Befreiung und echtem Frieden. 

Der Podcast soll die Menschen hinter den Parolen und Flaggen sichtbar machen und jenen Stimmen Raum geben, die sonst unterdrückt, falsch dargestellt oder zum Schweigen gebracht werden. Wir wollen einen Raum schaffen, in dem schwierige, auch triggernde Fragen gestellt werden können.

Israelische und palästinensische Identitäten werden oft als Gegensätze gesehen, unsere Geschichtsschreibungen scheinen einander zu widersprechen – obwohl sie sich auf dasselbe Stück Land und denselben Zeitraum beziehen. Wir können das nicht einfach ignorieren und müssen deshalb darüber sprechen. Wir wollen keinen weiteren 7. Oktober – aber auch nicht zurück in die Situation am 6. Oktober.

Portrait of Amira Mohammed
Co-host von Unapologetic: The Third Narrative

Amira Mohammed ist eine palästinensische Moderatorin, Aktivistin und Erzählerin aus Sheikh Jarrah, die sich für ein Ende der israelischen Besatzung und der systematischen Unterdrückung einsetzt. Mit ihrer Expertise in den Bereichen Führungskräfteentwicklung, interkultureller Dialog und Moderation arbeitet sie mit NGOs und Organisationen in der gesamten MENA-Region zusammen, um Inklusion und sozialen Zusammenhalt zu fördern.

Im September läuft die zweite Staffel von UTTN an – was erwartet eure Hörer:innen?

Mohammed: In Staffel eins haben wir uns auf die verschiedenen Identitäten konzentriert, die zwischen dem Jordanfluss und dem Mittelmeer existieren. Im Nachhinein haben wir festgestellt, dass viele unserer Gesprächspartner:innen Männer und jüdische Israelis waren. Gleichzeitig hatten wir ein breites internationales Publikum, weil wir die Episoden überwiegend auf Englisch aufgenommen haben, und wir durch unsere Reisen – etwa in die USA, nach Großbritannien und Deutschland – ein Netzwerk aufbauen konnten.

Aber Dialog allein reicht nicht aus. Die Zahl der Getöteten in Gaza steigt stetig an, die Hungersnot breitet sich aus, die Gewalt im Westjordanland eskaliert und die Geiseln sind immer noch nicht zuhause. Deshalb fokussieren wir uns in der zweiten Staffel stärker auf Aktivismus, insbesondere auf palästinensische Aktivist:innen. Die meisten Gäste werden Frauen sein. Wir fragen sie: Wer bist du? Was machst du? Und wie können wir helfen?

Nach zwei Jahren gewaltfreier Massenmobilisierung, die ein Ende des Krieges fordert, bemängeln manche Stimmen, dass Gewaltlosigkeit kaum Wirkung gezeigt hat. Was antwortet ihr auf diese Kritik?

Mohammed: Viele halten gewaltlosen Widerstand für naiv oder wirkungslos. Aber mit Einheit und Durchhaltevermögen kann Gewaltlosigkeit unglaublich stark werden. Das Thema Palästina ist heute überall – auf den Straßen, in Cafés, in den sozialen Medien, in den Schlagzeilen. Das ist nicht selbstverständlich, gerade wenn man die Region mit anderen Teilen der Welt vergleicht, in denen Menschen ebenfalls unter Hunger, Massenmord oder Genozid leiden.

Die Flotillen, die versuchen, nach Gaza zu segeln, Boykotte, Streiks – das ist gewaltfreier Widerstand und er funktioniert. In Israel gibt es wöchentliche Proteste. Menschen, die vor Oktober 2023 noch in ihrer Blase in Tel Aviv oder Netanya gelebt haben, können die Realität nicht länger ignorieren. 

Gleichzeitig gibt es Hungerstreiks von Palästinenser:innen im Westjordanland – zum Beispiel traten nach der Ermordung des Aktivisten Awdah Hathaleen etwa 70 palästinensische Frauen in den Hungerstreik, bis sein Leichnam freigegeben wurde.

Abu Ahmad: Gewaltfreier Aktivismus hat viele Gesichter. Als Siedler:innen versuchten, humanitäre Hilfstransporte nach Gaza zu blockieren, haben palästinensische und israelische Aktivist:innen Straßensperren entfernt oder sich an den Straßenrand gestellt, um die Siedler:innen aufzuhalten. Sie haben sich auch als menschliche Schutzschilde zwischen angreifende Siedler:innen und palästinensische Dörfer gestellt, sowohl im besetzten Westjordanland als auch in Ostjerusalem. Wir dürfen nicht aufgeben.

Wenn wir diesen gefährlichen Politiker:innen weiterhin freie Hand lassen, machen wir uns mitschuldig. Wir verdienen etwas Besseres. Gewalt hat unsere Realität nur verschlimmert – und wir weigern uns, in eine Gewaltspirale gezogen zu werden, die nur noch mehr Zerstörung bringt.

Ihr seid Teil der jüngeren Generation der Friedensbewegung in Israel und Palästina – online wie offline. Wie hat die Bewegung sich seit dem 7. Oktober verändert? 

Mohammed: Es gibt eine große Sehnsucht nach Leben und nach Veränderung. Genau das bewirkt die Konfrontation mit dem Tod – sie erschüttert dich und treibt dich dann dem Leben in die Arme. Ich finde, die jungen Aktivist:innen sind wirklich bewundernswert. Sie halten an ihren Werten fest und fordern von Politiker:innen ein, Verantwortung zu übernehmen. Diese Bemühungen schaffen es nicht immer in die Nachrichten, aber es passiert viel Positives. Die Bilder aus Gaza haben viele Menschen aufgerüttelt.

Abu Ahmad: Der 7. Oktober hat vieles verändert. Manche haben sich dadurch in ihrer Haltung bestärkt gefühlt, andere sind in eine tiefe Krise geraten. Wir haben einige Partner:innen verloren, aber auch neue gewonnen. Es war definitiv ein Weckruf für Friedensorganisationen. 

Vergangene Bemühungen waren schlichtweg nicht genug – das zeigt die jetzige Realität nur allzu deutlich. Deshalb müssen wir jetzt noch härter arbeiten, den vielen mutigen Menschen vor Ort Anerkennung zollen und die Energie von Graswurzelbewegungen nutzen, um Wandel von innen heraus zu bewirken.

Wie habt ihr euch persönlich in den vergangenen zwei Jahren verändert?

Mohammed: Wir haben mehr Verantwortung übernommen – gerade als jüngere Mitglieder der Friedensbewegung, vor allem durch unser Verständnis von Social Media. Ich bin selbstbewusster geworden und bin mir unserer „Privilegien“ stärker bewusst. Ich setze sie gezielter ein, um andere zu stärken und für jene einzutreten, die Unterstützung brauchen.

Abu Ahmad: Für mich geht es darum, aus den Fehlern früherer Generationen zu lernen – zu verstehen, warum ihre Ansätze nicht funktioniert haben. Trotz aller Herausforderungen haben wir Mitstreiter:innen gefunden, die unser inneres Feuer neu entfacht haben. Wenn man Menschen mit einem Leuchten in den Augen trifft, dann gibt das einem Kraft, gerade wenn man selbst am Boden ist. Friedensarbeit ist nicht einfach – sondern harte Arbeit. Und wir müssen uns ständig daran erinnern, dass wir alles, was wir machen, im Interesse unseres Volkes tun.

Rückblickend: Welche Fehler wurden in der Vergangenheit gemacht, die den Friedensprozess behindert haben?

Abu Ahmad: Ein schwerer Fehler im Oslo-Prozess war, eine Verbindung zwischen Tel Aviv und Ramallah aufbauen zu wollen, bevor man Verbindungen zwischen Tel Aviv und Nazareth geschaffen hat. Wie sollen Menschen über Grenzen hinweg zueinanderfinden, wenn sie sich schon innerhalb derselben Grenzen kaum kennen oder sich gegenseitig nicht wirklich anerkennen?

Bis heute sprechen palästinensische Bürger:innen Israels oft sowohl Hebräisch als auch Arabisch – das Bildungssystem ist jedoch hauptsächlich auf Hebräisch, auch wenn beide Gemeinschaften Seite an Seite leben. Wie soll man sich wirklich verstehen, wenn man die Sprache des Anderen nicht spricht? 

Auch ich als palästinensischer Staatsbürger Israels hatte Schwierigkeiten, mich in Menschen im Westjordanland oder in Gaza reinzuversetzen, ihre Realitäten wirklich zu begreifen. Wie soll da Frieden entstehen, wenn solche Gräben bestehen bleiben? Am Ende haben viele die Hoffnung verloren – gerade in Momenten, in denen wir kurz vor einer Lösung standen. In solchen Momenten der Annäherung werden jedoch radikale Kräfte oft noch einmal stärker.

Du beziehst dich hier auf die Mitte der 1990er Jahre, die von palästinensischen Anschlägen auf Busse und der Ermordung des israelischen Premierministers Itzhak Rabin durch einen rechtsradikalen Israeli geprägt waren. Heute dominiert die extreme Rechte Israels Politik, während die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) im Westjordanland als machtlos gilt und bei Palästinenser:innen nicht gerade beliebt ist.

Abu Ahmad: Leider fehlen uns heute mutige politische Führungspersönlichkeiten. Vielleicht gibt es sie, aber sie brauchen Unterstützung und Raum zur Entfaltung. Dafür muss die internationale Gemeinschaft helfen, den Extremismus zu bekämpfen und palästinensische Stimmen zu stärken, die viel zu lange zum Schweigen gebracht wurden. Die Welt hat nicht genug getan, um diese Menschen zu unterstützen – gegen eine politische Führung, die seit Jahrzehnten an der Macht ist und kaum Platz für neue, diverse palästinensische Perspektiven lässt.

Angesichts der Vielfalt an Identitäten in Israel und Palästina – rechtlich, sozial, religiös – wie inklusiv ist die Friedensbewegung aktuell?

Abu Ahmad: Um sich gegen die aktuelle israelische Regierung und ihre radikalen Stimmen zu stellen, braucht es eine stärkere Koalition – und das geht nicht ohne die palästinensischen Bürger:innen Israels. Wir machen 20 Prozent der Bevölkerung aus, aber die israelische Linke hat uns nie wirklich als gleichberechtigte Partner.innen angesehen – nur dann, wenn es ihr nützlich war. 

Die Rechte benutzt uns dagegen als politisches Druckmittel. Netanyahus Wahlslogan von 2015, „Die Araber strömen in die Wahllokale“, sollte jüdische Israelis in Angst versetzen. Und 2020 hieß es dann „Bibi gegen Tibi“ – gemeint waren er selbst und der palästinensische Politiker Ahmad Tibi.

Mohammed: Dem stimme ich zu – es braucht eine echte Partnerschaft. Gleichzeitig müssen wir auch innerhalb der palästinensischen und israelischen Communities mehr Einheit schaffen. Dabei würden auch die vielen internen Identitäten Gehör finden, die durch unterschiedliche Erfahrungen und Trennungen geprägt sind. 

Das fördert Inklusion. Immer mehr Menschen wollen Stereotype durchbrechen – etwa christliche Palästinenser:innen oder nicht-weiße, jüdische Israelis mit Wurzeln in Westasien und Nordafrika.

Es gibt viele Grautöne, viele Nuancen. Aber es gibt auch schwarz-weiß: Besatzung, das Töten von Zivilist:innen oder Geiselnahmen sind nicht in Ordnung. All das ist nicht verhandelbar. Leider benutzen politische Führungsköpfe wie Netanyahu oder Donald Trump das Wort „Frieden“, um ihr Handeln zu rechtfertigen. 

Aber egal, welche politische Lösung wir künftig finden – Frieden wird es nicht ohne Gerechtigkeit und kollektive Befreiung geben. Und genau darum wird es in der zweiten Staffel von UTTN gehen. 

 

Dies ist eine bearbeitete Übersetzung des englischen Originals. Aus dem Englischen von Anna-Theresa Bachmann.

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