Aus der Hölle in die Hölle
"Wenn das Regime Aleppo wieder einnimmt, sind Zivilisten Geschichte", hatte bereits im November 2014 die syrische Bloggerin Marcell Shehwaro gesagt. Geschätzte 200.000 Menschen sind seit Anfang Juli 2016 in Ost-Aleppo eingeschlossen. Mit Hilfe der kurdischen PYD hat das Assad-Regime die Kontrolle über die letzte Zufahrtsstraße, die Castello-Road, übernommen. Gleichzeitig verstärkten das Regime und seine Alliierten die Luftangriffe auf die Stadt sowie auf Orte im Umland, wie zum Beispiel Atareb, das seit mehreren Wochen in bislang ungekanntem Ausmaße bombardiert wird.
Russland weist jede Verantwortung für die dramatische Zuspitzung der Lage von sich. Rein humanitär sei das Engagement Russlands in Aleppo, sagte der stellvertretende russische Außenminister Sergej Ryabkov am 3. August: "Unser einziges Interesse ist, die humanitären Probleme der Bewohner von Aleppo zu lösen, um eine Fortsetzung der Waffenruhe zu ermöglichen", erklärte er und wies alle "Spekulationen" darüber zurück, es gebe eine Offensive des Regimes oder der russischen Luftwaffe in Aleppo. Diese Informationen seien "komplett falsch und eine rufschädigende Interpretation dessen, was wir tun", so Ryabkov.
Ein "Terminator" für Hilfseinsätze?
Wenige Tage zuvor war ein Hubschrauber abgeschossen worden, der russischen Quellen zufolge nur unterwegs gewesen sei, um humanitäre Hilfe zu leisten. Der Syrien-Experte Michael Weiss warf in seinem Beitrag für die englisch- und arabischsprachige Webseite NOW die Frage auf, weshalb Russland Helikopter vom Typ "Terminator" entsandt habe, um angeblich humanitäre Hilfe zu leisten. Schließlich sei der Hubschrauber für Kampfhandlungen bestens geeignet, dagegen sei nicht wirklich erkennbar, ob er auch für Versorgungsflüge genutzt werden könne.
Es ist ein Muster des Kriegs in Syrien, dass offensichtliche Fakten unverfroren verneint werden, zumeist von Russland und dem Assad-Regime. So behauptete etwa Baschar al-Assad, als schon Tausende von Fassbomben gefallen waren und sein eigener Verteidigungsminister im Staatsfernsehen sich mit der Erfindung dieser "preiswerten Waffe" gebrüstet hatte, es gäbe überhaupt keine Fassbomben. "Wir haben keine Fässer", so Syriens Machthaber.
Angesichts solcher Propaganda-Qualitäten spielt es auch gar keine Rolle mehr, ob man sich in Widersprüche verstrickt. Denn wenn es überhaupt keine Offensive auf Aleppo gegeben haben soll, wozu müssen dann eigentlich noch die von Putin und Assad angekündigten Fluchtkorridore aus Aleppo geöffnet werden?
Es gibt keinerlei Zweifel daran, dass das Regime und seine Verbündeten die Einwohner der Stadt und die zivile Infrastruktur, insbesondere Krankenhäuser, ins Visier nehmen. Von Beginn des Konfliktes an mussten Ärzte, die verletzte Oppositionelle behandelten, um ihr Leben fürchten.
Krankenhäuser unter Beschuss
Anfang Juni 2016 entgingen neun Neugeborene nur knapp dem Tod, als sie wegen eines Luftangriffs auf das Krankenhaus aus den Brutkästen geholt werden mussten – Brutkästen, von denen es in der umkämpften Stadt gerade noch 18 geben soll. Es ist in anderen Kriegen üblich, die Koordinaten von Krankenhäusern weiterzugeben, damit diese nicht zufällig getroffen werden. In Syrien weigern sich inzwischen Organisationen wie "Ärzte ohne Grenzen", die Daten der von ihnen unterstützten Gesundheitseinrichtungen weiterzugeben – eben weil das Regime sie gezielt angreift.
"Sechs Krankenwagen gibt es noch", heißt es in einem Artikel des SWR-Korrespondenten Martin Durm über Aleppo: "Aber die Rettungstrupps ziehen es vor, die Verwundeten mittlerweile auf dreirädrigen Pickup-Trucks zu transportieren. Die sind für Scharfschützen schwerer zu treffen und wendiger in den Gassen."
Befragte Zeugen im Osten der Stadt sowie im Umland verneinten alle, dass die Wege wirklich offen sind. Hunderte von Flüchtlingen, die angeblich entkommen seien, sind nirgends aufgetaucht. Ob die Vereinten Nationen oder die zahlreichen NGOs – niemand hat bislang von ihnen gehört.
Die Fassbomben sind ein Fakt, die Fluchtkorridore bislang Fiktion. Drei sollten angeblich für Zivilsten eingerichtet werden, ein weiterer nach Norden für Kämpfer. Russische und staatliche Medien meldeten, mehrere Hundert Zivilisten hätten die Stadt durch diese verlassen und seien in Notunterkünften untergebracht worden. Aus Aleppo selbst gibt es hierfür keine Bestätigung. "Meines Wissens existiert keiner dieser Korridore", meint der politische Analyst Haid Haid. "Doch selbst wenn, so ist schwer vorstellbar, dass jemand diese nutzen sollte. Niemand traut dem Regime. Die Erfahrung mit Homs steckt den Leuten in den Knochen."
Im Januar 2014 hatte das Regime Zivilisten und Kämpfern im Zentrum von Homs freies Geleit zugesagt – unter den Augen der Vereinten Nationen. Aber versprochen und gebrochen: Hunderte von Männern wurden verhaftet, einige von ihnen an die Front geschickt. Von rund 200 von ihnen fehlt bis heute jede Spur.
Kein sicheres Umland
[embed:render:embedded:node:24554]Egal wie aussichtslos die Lage daher an einzelnen Orten wurde: Für viele syrische Rebellen war es keine Option, die Waffen niederzulegen. Wenn man weiterkämpfe, habe man wenigstens noch eine Chance zu überleben, wer aufgebe, unterschreibe damit im Prinzip sein eigenes Todesurteil, so ihre Auffassung. Und vielen Zivilisten war klar: Man schätzt vielleicht nicht jede kämpfende Gruppe, doch ohne sie wäre man schutzlos den Angriffen des Regimes ausgeliefert.
Ganz praktisch stellt sich auch die Frage, wohin die Bewohner Aleppos fliehen und sich in Sicherheit bringen sollten. Sichere Gegenden im Umland von Aleppo gibt es nicht. Die Nachbarstaaten nehmen keine Flüchtlinge mehr auf, und auch die Grenzen zwischen Regime- und Rebellenterritorien für Flüchtende sind immer schwieriger zu überwinden. Ein unbehelligter Abzug aus Aleppo würde folglich noch nichts darüber aussagen, was Flüchtenden danach widerfahren könne.
Dem UN-Sondergesandten Staffan de Mistura ist bewusst, wie problematisch es ist, Fluchtkorridore unter der Kontrolle einer der Kriegsparteien einzurichten und fordert, dass die Evakuierung der Stadt unter UN-Aufsicht gestellt werden solle.
Unterwerfung oder Tod
Das bringt das Hauptproblem westlicher Politik in Syrien auf den Punkt. Schon lange haben die westlichen Staaten den Anspruch aufgegeben, das Grundproblem zu lösen: Baschar al-Assads Herrschaft, an die er sich klammert und für die er bereit ist, auch einen Genozid zu begehen.
Statt über den Weg politischer Verhandlungen, sucht das Regime seine Interessen auf Kosten der Zivilisten in Syrien durchzusetzen. Bedacht darauf, sich selbst nicht engagieren zu müssen, spielt die internationale Gemeinschaft mit. Statt den in der Genfer Konvention vereinbarten Schutz von Zivilisten ernsthaft zu fordern, gibt man sich mit Forderungen nach einer Linderung ihres Leids zufrieden – und seien diese Appelle noch so symbolisch, wie eben den nach einem Fluchtkorridor unter Kontrolle der Vereinten Nationen.
Denn mehr als symbolisch kann eine solche Forderung nach Fluchtkorridoren durch die UN nicht sein, wenn diese von sich selbst erklärt, noch nicht einmal ein Monitoring für einen Waffenstillstand betreiben zu können. Ohne ein robustes Mandat kann die UN keinerlei Garantien für die Unversehrtheit der Flüchtenden übernehmen.
Dass Russland einem solchen zustimmen würde, ist unrealistisch. Schließlich trägt es die Regime-Strategie "Unterwerfung oder Tod" mit und ermöglicht diese durch seine Luftunterstützung erst.
Bente Scheller
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