Drehscheibe für lebendigen Kulturaustausch
Das Publikum wollte seinen Ohren nicht trauen. Immer wieder mussten die Berliner Jazzmusiker Nikolaus Neuser und Philipp Bernhardt, den Zuschauern des Ruttmann-Filmes "Berlin – Symphonie der Großstadt" versichern, dass die gerade zu dem Stummfilm-Klassiker aus den 20er Jahren vorgetragene Musik nicht nur ihre eigene Komposition, sondern völlig frei improvisiert war.
"Die originale Partitur existiert nicht mehr", erklärte Schlagwerker Bernhardt, "wir haben uns nur auf einige grundsätzliche Themen geeinigt und ansonsten den Rhyhtmus des Schnitts aufgenommen und intuitiv begleitet." Und der Computer, den Trompeter Neuser während der Darbietung ständig bediente? "Wir haben nichts vorher programmiert", bestätigte Neuser, "ich habe während der Show einzelne Takes von Phillip und mir direkt gesampelt und dann in einen Loop geschickt."
Libanesisch-deutsches "Crossover"
Recht glauben mochten es die meisten noch immer nicht, begeistert waren jedoch alle: "Das müssen meine Schüler unbedingt sehen", drängte Greta Naufal, Lehrerin am prestigeträchtigen Beiruter "Collège Protestant": "Ihr müsst bei uns auftreten!" Ein Ansinnen, dem die Künstler nur zu gerne nachkamen "aber das gleiche wird es nicht", warnte Bernhardt den neugewonnenen Fan.
Mehr als achtzig Besucher zog das Event, Auftakt des von der Berliner Arabistikstudentin Lotte Fasshauer im Monat März organisierten Berlin-Beiruter Festivals "Cut Memories", am veranstaltungsfeindlichen Montagabend in das Beiruter Kulturzentrum "Zico House". So zahlreich kamen die Interessierten, dass für die Musiker kaum noch Platz blieb und Verspäteten der Zutritt verweigert werden mußte. Ein Zuspruch, von dem etwa das altehrwürdige Goethe-Institut bei ähnlichen Anlässen nur träumen kann.
Symbolträchtiger Veranstaltungsort
Der Erfolg dieser und aller anderen Veranstaltungen des Festivals geht nicht zuletzt auf den Ruf des Veranstaltungsortes selbst zurück. Seit 1994 hat Mustafa Yamout, der seinen von der brasilianischen Fußball-Ikone Zico inspirierten "nom de guerre" aus Bürgerkriegszeiten als Künstlername beibehalten hat, das historische Gebäude in der Westbeiruter Rue Spears systematisch zu einem autonomen Kulturzentrum ausgebaut.
Unabhängige Projekte finden hier eine Operationsbasis. Veranstaltungsräume und Unterkunft für Künstler, Kontakte zur Diaspora und zu Gleichgesinnten in Jordanien, Ägypten und Tunesien öffnen die Tür für internationale Präsenz auf einer "Low"- und oft auch "No-Budget" Ebene.
"Während des 'Homeworks'-Festivals im letzten Sommer war ich fast jeden Tag hier“, erzählt Kuratorin Fasshauer, "irgenwann hat Zico mich einfach rundheraus gefragt, warum ich nicht selber etwas organisiere."
Für die Siebenundzwanzigjährige ein Sprung ins kalte Wasser kärglicher Mittel und bürokratischer Prozeduren. "Die Vorlaufzeiten für Förderanträge sind einfach zu lang für solche spontane Ideen, und ohne eine etablierte Institution im Rücken war oft gleich gar nichts zu machen", berichtet Lotte. "Unser Filmprojekt ist immerhin in die letzte Runde der Filmförderung NW gekommen (die kulturelle Filmförderung des Landes NRW – Anm. der Redaktion) – ein schönes Gefühl, aber Flugtickets kann ich davon auch nicht kaufen."
Ein Zuschuss des Goethe-Insituts für die ebenfalls ins Programm eingebauten Workshops des Filmteams mit Studenten der "Académie Libanaise des Beaux-Arts" (ALBA) fiel schließlich üppig genug aus, um wenigstens die Grundkosten für den von Fasshauers Bruder Elmar zusammen mit Markus Tomsche realisierten Film über den Alltag von Frauen in Beirut zu decken.
Erinnerungen an den Bürgerkrieg
Als Schauplatz wurde ein geschichts- und erinnerungsträchtiger Ort gewählt: Gleich an der "Green Line", der ehemaligen Frontlinie zwischen den Bürgerkriegsparteien, wollte das Team im Friseursalon Ephrem Zogheib einen Querschnitt Beiruter Frauen an einem gemeinsamen Ort ihres Alltags treffen, filmen und dann in ihre unterschiedlichen Alltagswelten begleiten.
Der Salon selbst befindet sich in dem einzigen renovierten Teil des "Barakat Gebäudes", einer Kriegsruine, die verschiedene Epochen moderner Beiruter Architekturgeschichte in sich vereint. Nach jahrelangem Tauziehen zwischen Verteidigern historischer Bausubstanz und den Verwertungsinteressen der Eigentümer soll das Baudenkmal nun mit ausländischer Finanzhilfe restauriert und in ein Museum verwandelt werden.
"Beim Anblick der Fassade gruselt es mich noch immer", erzählt Greta Naufal, die Ruttmann-begeisterte Lehrerin am "Collège Protestant". "Wir lebten genau auf der anderen Seite der Front, und eines Tages hat mich einer der Scharfschützen von dort in den Fuss getroffen. Ich konnte drei Monate nicht laufen und hatte noch ein Riesenglück, denn bei diesen Typen war sonst fast jeder Treffer tödlich."
Ephrem Zogheibs Erinnerungen an den gleichen Ort erscheinen in einem entschieden freundlicheren Licht. "Ich habe den Laden hier vor vierzig Jahren eröffnet, mit Fünfundzwanzig hatte ich vier Salons und die libanesische Miss World Georgina Rizk war meine Stammkundin. Eine Goldgrube, wie das ganze Land damals", erinnert sich der heute 59jährige schwermütig. "Heute? Heute vergehen ganze Tage, an denen meine Angestellten sich nur gegenseitig die Haare machen. Ich betreibe den Laden eigentlich nur noch, um mein Recht auf Kompensation zu wahren."
Zogheibs Erinnerung enden dort, wo Naufals beginnen – im Jahre 1975, als zwischen ihrer und seiner Welt der Graben des Bürgerkrieges aufgerissen wurde.
"Cut Memories" im Wortsinne, Erinnerungen an die "haircuts", die Zogheibs und Beiruts goldene Ära symbolisieren, der Einschnitt oder Bruch zwischen den Erinnerungen der Menschen auf beiden Seiten, in Beirut wie im Berlin der Mauerzeit, das Fasshauer in einer ebenfalls gezeigten Serie von Super8 - Filmen aus der späten DDR aufleben liess, der "Cut" schliesslich als stilprägendes Formelement innovativer Filmkunst wie in "Symphonie der Großstadt" – die Analogien und Wortspiele lassen sich im losen Reigen fortführen, ohne sich dabei notwendig zu substantieller Bedeutung zu verdichten. Wie auch das Filmprojekt feststellen musste.
Treffpunkt für kulturelle Begegnung
"Die ursprüngliche Idee war, Frauen aus ganz verschiedenen Gesellschaftsschichten dort zu treffen, ihnen von dort in ihren Alltag zu folgen und ihre sehr verschiedenen Erinnerungen zu erforschen", berichtet Lotte Fasshauer. "Aber sehr schnell wurde klar, dass nur Frauen aus einer bestimmten Gesellschaftsschicht es sich überhaupt leisten können, dort hinzugehen."
Wie zu erwarten, waren nicht alle Besucherinnen des Salons bereit, Interviews zu geben. Wer doch zustimmte, zog zuweilen ein kontrolliertes Umfeld vor – zum Beispiel in der eigenen Wohnung. Was nicht immer hilfreich war, meint Markus Tomsche: "Zuweilen war dann beim Interview der Ehemann dabei und hat nach zwei Sätzen das Gespräch an sich gerissen."
Versuche, über andere Orte in andere Gesellschaftsschichten einzutauchen waren auch nicht immer erfolgreich. Tagelang unterhielt und bemutterte eine Pizzabäckerin die Crew mit Manoushe und Anekdoten - doch vor der Kamera versagten ihr Witz und Worte.
"Vielleicht war die Fragestellung 'Alltag von Frauen in Beirut' zu offen, zu wenig präzise", räumt Filmemacher Elmar Fasshauer ein. "Vielleicht haben manche unserer Interviewpartnerinnen das weniger als Angebot wahrgenommen, sich frei auszudrücken und sich stattdessen gefragt, was wir wirklich wollen."
Der frische, historisch unbelastete Blick auf die Szenerie führte die Filmer zuweilen auch direkt in eher offensichtliche Fettnäpfe. Dass sie eine ihrer Interviewees in den Diskussionen als "the muslim woman" bezeichneten, erntete Stirnrunzeln und Rückfragen.
"Mehr als die Hälfte unserer Interviewpartner waren Muslime, aber vermutlich traf diese Frau genau das Klischeebild einer Muslimin, das in unseren Hinterköpfen steckt", räumte Tomsche ein.
Fallgruben des gesprochenen Wortes, mit denen die Musiker Neuser und Bernhardt keine Probleme hatten. Und auch die musikalische Kommunikation mit Beiruter Musikern, wie dem Oudisten Ziyad Ahmadieh, lief nach nur zwei Proben reibungslos.
Musikalisches Zusammenspiel grenzenlos
"Ziyad ist einfach ein fantastischer Musiker", meinte Niklas nach dem Konzert im erneut überfüllten Zico Haus, "uns sind diese orientalischen Skalen natürlich fremd, aber alles hat sich wunderbar ineinander gefügt."
Von altehrwürdigen Institutionen, wie dem legendären Jazzclub "Blue Note" über eine eher abseitig anmutende Session mit dem libanesischen Militärorchester (wo Neusers Atemtechnik auf das besondere Interesse der Bläserkompanie stieß), führte die Neugierde schließlich bis auf den Souk El-Ahad, den "Sonntagsmarkt" am östlichen Stadtrand. Beliebt für seine reiche Auswahl an spottbilligen China-Importen, offeriert der Markt auch eine garantiert copyright-freie und entsprechend preisgünstige Einführung in alle Varianten orientalischer Musik.
"Da saßen wir nun im Café und versuchten, unsere neu erworbenen CDs zu sortieren", erzählt Neuser, "bis der Besitzer auftauchte und unsere Auswahl kritisch inspizierte. Ein paar Minuten später saßen wir beim Tee im Büro der Marktleitung, während einer der Angestellten draussen unterwegs war, um unsere Sammlung zu komplettieren. Aber noch bevor der wieder auftauchte, hatte der Marktleiter zwei Kumpel herbeitelefoniert, die mit Oud und Congas ankamen. Das gab dann erstmal eine Stunde ‚Jamsession’."
Für Lotte Fasshauer kein Zweifel, dass sie weitermachen will. Ihr nächstes Ziel: Ziyad Ahmadieh für einen Auftritt nach Berlin zu holen, wenn möglich noch bis September.
Eine knappe Kalkulation, um Finanzierung, Veranstaltungsort und nicht zuletzt um Visa zu organisieren – wovon sie sich allerdings nicht abschrecken lässt. "All dieses Gerede von Dialog führt doch nur zu was, wenn Leute von hier und dort endlich was zusammen machen."
Heiko Wimmen
© Qantara.de 2004