Terror mit Terror bekämpfen?
Nach schweren militärischen Niederlagen traten die Führungsriegen der islamistischen Terrororganisationen "IS", "Hai’at Tahrir ash-Scham" und "Al-Qaida" fast gleichzeitig an die Öffentlichkeit und verkündeten, ihren Kampf in Syrien und dem Irak, der seit einigen Jahren vor allem aus Terror und Zerstörung besteht, fortführen zu wollen.
Diese Gruppierungen haben nicht nur dazu beigetragen, die konfessionalisierte Herrschaft in Bagdad zu festigen und die arabische genauso wie die internationale Öffentlichkeit gegen die Revolution des syrischen Volkes und die Demokratisierung der arabischen Welt im Allgemeinen aufzubringen. Ihre Taten sind auch der Nährboden für die wieder aufkeimende Angst der internationalen politischen Schwergewichte vor jeglichem politischen Wandel im Nahen Osten.
Diese Terrororganisationen haben großen Anteil an der endlosen Perpetuierung der innerstaatlichen Konflikte, die die Gesellschaften in der Region zerreißen. Denn sie bieten ein Einfallstor für Interventionen und externe Akteure, die den Kampf gegen den Terror missbrauchen, um die Forderungen nach politischem Wandel oder Fortschritt in der Region im Keim zu ersticken und vielleicht auch die geopolitische und demografische Lage zu ihren Gunsten zu ändern.
Der Dolch im Rücken der demokratischen Basisbewegungen
Man kann nicht mit Sicherheit sagen, ob diese Gruppierungen das direkte Werk der verschiedenen Sicherheitsapparate sind, die sie instrumentalisieren und als Legitimation für ihre eigenen Taten vorschieben. Es ist jedoch schwerlich zu leugnen, dass sie für die Koalition der Revolutionsgegner in den letzten Jahren Verbündete darstellten, ob nun willkommene oder notgedrungene. So oder so sind und waren sie der Dolch im Rücken der demokratischen Graswurzelbewegungen in der arabischen Welt.
Dabei ist es unerheblich, ob dieses Szenario darauf zurückzuführen ist, dass die Zerstörung der Staaten und die Verbreitung von Angst und Schrecken in der Bevölkerung im Interesse beider Seiten ist, oder ob der Grund die offensichtliche Unterwanderung dieser Gruppierungen durch regionale und internationale Geheimdienste ist. Es gibt insgesamt nicht den geringsten Zweifel daran, dass die Agenda dieser Gruppierungen über weite Strecken mit den Zielen und Strategien der konterrevolutionären Fraktionen harmonisierte.
Die Staaten in West und Ost, die diese Gruppierungen als Rechtfertigung missbrauchen, den Menschen in der arabischen Welt den Zugang zu Freiheit, Demokratie, Frieden und Fortschritt vorzuenthalten, sind allerdings keinesfalls unschuldig. Ihre kolonialistische Politik ist durch schlecht kaschiertes Desinteresse am Wohl dieser Staaten und ihrer Bevölkerung gekennzeichnet. Sie unterstützen unterdrückerische autoritäre Regime, bringen sie sogar bisweilen an die Macht und verteidigen ihre Verfehlungen und Verbrechen, wie man exemplarisch am Regime Assads beobachten kann. All das hat den gärenden Sumpf geschaffen, in dem ein solch zerstörerisches Monstrum entstehen und gedeihen konnte.
Profiteure des Krieges
Dass sich diese Terrororganisationen trotz der - laut Amerikanern und Russen - vernichtender Niederlagen immer noch trauen, alles und jeden zu bedrohen und weiterhin in der Lage sind, die Initiative zu übernehmen, hat einen Grund: Das Unvermögen derjenigen Staaten, die behaupten sie zu bekämpfen, gerechte und dauerhafte Lösungen für die Konflikte in der Region allgemein und Syrien im Speziellen zu finden, lässt ihnen ausreichend Spielraum, um sich wieder zu sammeln und ihren endlosen Zerstörungsfeldzug fortzuführen. Denn diese Gruppierungen leben nicht nur im Krieg, sondern auch von ihm.
Der Kriegszustand in der Region findet kein Ende, weil verschiedene Länder die Kontrolle abgeben, auf wichtige Herrschaftsgebiete verzichten und die betroffenen Staaten und ihre hilflose Bevölkerung destabilisieren. Sie nehmen ihre Verpflichtungen auf dem internationalen Parkett nicht wahr, ignorieren die Beschlüsse der Vereinten Nationen und machen so nicht nur aus der internationalen Legitimität, sondern auch aus dem Völkerrecht und der humanitären Solidarität leere Worthülsen, die kaum eine Hoffnung mehr auf eine Zukunft ohne Unterdrückung, Versklavung und Aggression lassen.
Vor dem Hintergrund der zu erwartenden neuen Konfrontationen in der syrischen Provinz Idlib kommt dieser Erkenntnis gerade jetzt eine besondere Bedeutung zu. Russland und sein Lakaie Assad suchen derzeit nach einem Vorwand, um dort eine Offensive zu starten und die Kontrolle über die Region zu erlangen, ungeachtet der katastrophalen Konsequenzen für die Bevölkerung und die benachbarten Staaten, die dann die Aufnahmen von Millionen neuer Flüchtlinge fürchten müssten.
Zivilisten als Schutzschilde
Vielleicht aber ist das auch genau die Absicht. Und angesichts dessen reiben sich der IS und seine Waffenbrüder bereits in der Erwartung die Hände, dass der Kampf um Idlib ihnen eine Chance bietet, ihren Widersachern eine vernichtende politische und moralische Niederlage beizubringen, wenn schon keine militärische. Dadurch könnten sie ein bisschen verlorenen Boden und strategische Glaubwürdigkeit wiedergutmachen. Um diesen "Sieg" zu erreichen, missbrauchen sie die Zivilisten als Schutzschilde, so dass es im Zweifelsfall ihre Gegner sind, die sie töten und vertreiben.
Es ist keine Lösung für das Terrorproblem, Zivilisten mit Gegenterror zu überziehen und mehr Massengräber anzulegen als die Terrormilizen selbst. Auch die in den vergangenen Jahren praktizierte gleichgültige Inkaufnahme hoher ziviler Verluste und die Opferung ganzer Städte und Regionen, um den IS und seine Gesinnungsgenossen zum Ortswechsel zu zwingen und sie in manchen Fällen mit klimatisierten Bussen der russischen Regierung in andere Gebiete zu bringen, trägt nicht zur Lösung bei.
Wie kürzlich in Suweida, werden die Islamisten teils sogar als Druckmittel gegen die Bevölkerung eingesetzt, um sie angesichts der hohen Opferzahlen unter den Zivilisten zur Kapitulation zu bewegen. Der Kampf gegen den Terror kann aber nicht gewonnen werden, indem man mehr Zivilisten tötet als die Terroristen selbst. Im Gegenteil, dieses Vorgehen stärkt sie und hilft ihnen bei der Rekrutierung neuer Kämpfer, denn es fördert den Hass und den Rachedurst, den sie brauchen, um ihre verabscheuungswürdigen Taten zu rechtfertigen.
Terrorismus kann nicht besiegt werden, wenn er als Vorwand dient, Volksaufstände und Proteste der marginalisierten und hoffnungslosen Bevölkerungsteile niederzuschlagen. Er kann auch nicht mit seinen eigenen Waffen bekämpft werden: Aus den Sicherheitsbehörden und dem Militär terroristische Gegenmilizen zu machen, den Staat wie eine kriminelle Bande zu führen, seine rechtlichen und moralischen Fundamente möglicherweise unwiderruflich zu zerstören und Millionen von Menschen aus politischem Kalkül zu vertreiben, all das ist kontraproduktiv, um den Terror zu überwinden.
Idlib zu zerstören und möglicherweise Millionen von Menschen samt ihrer Lebensgrundlage zu opfern, um einen Teil der Kämpfer der "Hai’at Tahrir ash-Scham" auszuschalten, wird weder die Basis von Terror und Extremismus schwächen, noch helfen sie einzudämmen. Es nährt stattdessen den gärenden Sumpf und den offenen wie verdeckten Groll, den sie brauchen, um weiter zu gedeihen.
Extremismus und Terror aus eigener Kraft abschütteln
Die einzige Möglichkeit dem Extremismus Einhalt zu gebieten und dem Terrorismus den Garaus zu machen, ist die ernsthafte Arbeit an politischen Lösungen, die die Wiedervereinigung der Menschen und die Reintegration der Gesellschaften ermöglichen. Sie müssen in die Lage versetzt werden, Extremismus und Terror aus eigener Kraft abzuschütteln und zu bekämpfen. Leider versucht Moskau genau das zu verhindern, indem es den in Resolution 2254 der Vereinten Nationen festgelegten politischen Übergangsprozess ablehnt, und Assad um jeden Preis an der Macht halten will.
Aber solange die Gesellschaften selbst sich nicht aktiv an der Bekämpfung von Extremismus und der Eindämmung des Terrorismus beteiligen, gibt es keine Hoffnung sie zu überwinden. Genauso wenig kann man die Menschen für dieses Anliegen gewinnen, indem man ihre Dörfer und Städte flächendeckend bombardiert und ihre Häuser mitsamt den Bewohnern dem Erdboden gleichmacht.
Der Nährboden für Extremismus und Terror kann nicht trockengelegt werden, wenn man die tatsächlichen Probleme ignoriert und berechtigte Forderungen beiseite wischt. Einen Teil der opportunistischen Elite auf Linie zu bringen, den Konflikt um die Macht bis zum Ende auszufechten und die Ressourcen nach militärischer Macht zu verteilen, wird daran nichts ändern.
Das syrische Regime ist verantwortlich für die Verwüstung des Landes, den Tod tausender und die Vertreibung von Millionen seiner Bürger. Ohne Zweifel können auf Friedfertigkeit, Versöhnung und gegenseitiges Verständnis ausgerichtete Bestrebungen in den Gesellschaften nicht gestärkt werden, indem man bis zum letzten Mann ein solch offensichtlich gescheitertes und moralisch bankrottes Regime verteidigt – und es mit Gewalt den Menschen aufzwingt, die darunter schon so lange gewaltig gelitten haben.
Keine Reproduktion des Terrors!
Die Frage nach der Bedeutung der nationalen Interessen, die Russland in Syrien vertritt und der Legitimität oder Nicht-Legitimität der seit einigen Jahren von Moskau verfolgten Strategie, der Politik des Westens auf Kosten der Syrerinnen und Syrer etwas entgegenzusetzen, ist damit noch nicht einmal angesprochen. Es sei denn natürlich, das Ziel des Kampfes gegen den Terror ist es eigentlich, ihn immer wieder zu reproduzieren und die Fundamente der Gesellschaften durch langwierige interne Konflikte zu zerstören, um ihre Ressourcen an sich zu reißen oder die Kontrolle über die geostrategischen Orte, an denen sie liegen, zu gewinnen.
Burhan Ghalioun
© Qantara.de 2017
Aus dem Arabischen von Thomas Heyne