Europa kann noch etwas bewirken

Nahaufnahme eines Menschen, der eine Kerze hält. Hinter ihm ein Schild auf dem durchgestrichen "Krieg" steht
Foto: NurPhoto | Artur Widak via picture alliance

Die Europäische Union steht vor der Herausforderung, eine gemeinsame Linie gegenüber dem Nahen Osten zu finden, die sowohl die unterschiedlichen nationalen Positionen berücksichtigt als auch eine kohärente Außenpolitik fördert. Wie kann dies realisiert werden?

Von Ehud Yaari

Europa spielt im Nahen Osten, einer Region, die einst von den Nachkriegsmächten des Ersten Weltkriegs dominiert wurde, nur noch die zweite Geige und kämpft seit Jahren darum, eine neue Rolle für sich selbst zu entwickeln. Der Nahe Osten ist Zeuge eines erbitterten Wettbewerbs zwischen den USA und Russland, die beide auf militärische Präsenz in verschiedenen Ländern setzen, sowie eines Konflikts zwischen den USA und China im Bereich Technologie und Wirtschaft.

Die zentrale Frage für die Europäische Union und das Vereinigte Königreich ist, wie sie genau und in welchem Umfang die amerikanische Politik mitgestalten und sich an einer koordinierten Anstrengung beteiligen können. Das Ziel ist es, den Zusammenbruch arabischer Länder in einem sich ständig ausweitenden Kreislauf von Gewalt zu verhindern und die akute Gefahr einer Implosion in Verarmung, Bankrott und massive Flucht in Richtung der nördlichen Küsten des Mittelmeers abzuwenden.

Vergebliche Versuche

Versuche mehrerer europäischer Regierungen, unabhängig voneinander Lösungen für Krisen in der Region zu initiieren, haben sich als vergeblich erwiesen: Frankreich und Italien verfolgten in Libyen eine widersprüchliche Politik und scheiterten gemeinsam an der Wiedervereinigung des geteilten Landes unter einer effektiven Regierung. 

„Frankreich und Italien verfolgten in Libyen eine widersprüchliche Politik und scheiterten gemeinsam an der Wiedervereinigung des geteilten Landes unter einer effektiven Regierung.”

Frankreichs Beharren auf einer Vermittlerrolle im Libanon erwies sich als bedeutungslos. Das Engagement der EU – einschließlich finanzieller Investitionen – für die Vision einer Zweistaatenlösung im israelisch-palästinensischen Konflikt konnte die anhaltende Verschlechterung an dieser Front nicht aufhalten. Ähnlich erfolglos blieb die europäische Diplomatie in Syrien seit dem Ausbruch des verheerenden Bürgerkriegs im Jahr 2011. Kurz gesagt: Europa sind die Grenzen seines Engagements aufgezeigt worden. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Kontinent keine entscheidenden Interessen in der Region hat oder dass er keine wesentlichen Beiträge leisten kann, um Risiken zu mindern und die Region in eine friedlichere und hoffentlich wohlhabendere Zukunft zu führen.

Iran

Kein anderes Land hat seit über 30 Jahren versucht, Atomwaffen zu erwerben, ohne tatsächlich eine Bombe zu bauen. Die Islamische Republik verfügt sicherlich über das Material und das Know-how, um sich ein Arsenal an Atomwaffen zu beschaffen, hat jedoch entschieden, sich aggressiv an den Rand der Atommacht vorzuarbeiten, ohne die rote Linie zu überschreiten.

„Die Islamische Republik verfügt sicherlich über das Material und das Know-how, um sich ein Arsenal an Atomwaffen zu beschaffen, hat sich jedoch entschieden, sich aggressiv an den Rand der Atommacht vorzuarbeiten, ohne die rote Linie zu überschreiten.“

Ein Grund für dieses Verhalten ist die Angst, dass andere – Saudi-Arabien, Ägypten, die Türkei und sogar die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) – sich ihre eigenen Bomben besorgen werden. 

Der zweite Grund ist aus Sicht des Iran das Risiko eines viel umfassenderen internationalen Sanktionsregimes. Daher sollte die E3 (informelle außen- und sicherheitspolitische Kooperationsvereinbarung zwischen Großbritannien, Deutschland und Frankreich) Druck auf Washington ausüben, damit die USA unmissverständlich die Option einer Rücknahme der Sanktionen und zusätzliche Maßnahmen auf den Tisch bringen, um diejenigen in Teheran zu stärken, die vor dem Vorstoß der IRGC (Islamische Revolutionsgarden) zur Atombombe warnen.

Der iranische Außenminister Ali Bagheri (links) und der irakische Außenminister Fuad Hussein (rechts) treffen sich in Bagdad, Irak vor den landesflaggen und schütteln sich die Hände
"Iran und Irak sind zwei Säulen der regionalen Stabilität und tragen Verantwortung für die Stärkung von Frieden und Stabilität in der Region", sagte der iranische Außenminister Ali Bagheri (l) bei seinem Treffen mit dem irakischen Amtskollegen Fuad Hussein (r) in Bagdad, Irak am 13. Juni 2024. Eine weitere Priorität Europas sollte daher in der Stärkung jener politischen Kräfte in Bagdad liegen, die sich den Ambitionen des Iran widersetzen, Foto: Zumapress.Com | Iranian Foreign Ministry via picture alliance.

Die „Achse des Widerstands“

Durch das Quds-Korps der IRGC (Islamischen Revolutionsgarden) setzt der Iran die sogenannte Moqawama-Doktrin um, die vom inzwischen verstorbenen General Qassem Soleimani entwickelt wurde. Diese Doktrin zielt darauf ab, die Levante durch Stellvertretermilizen im Libanon, in Syrien, im Irak und im Jemen zu beherrschen, mit der Absicht, der De-facto-Hegemon des arabischen Ostens zu werden und Israel mit einem „Feuerring“ einzukreisen.

Sie drohen bereits damit, ein EU-Mitglied, Zypern, anzugreifen, und erklären offen ihre Absicht, in einem Radius von 10.000 Kilometern militärisch einsatzfähig zu sein, was auch Europa einschließen würde. Um diese Strategie zu durchkreuzen, müssen gemeinsame Schritte der USA und Europas oberste Priorität haben, um zu verhindern, dass der Irak (einschließlich der kurdischen Autonomie) zu einer Marionette wird.

„Sie drohen bereits damit, ein EU-Mitglied, Zypern, anzugreifen, und erklären offen ihre Absicht, in einem Radius von 10.000 Kilometern militärisch einsatzfähig zu sein.”

Eine weitere Priorität Europas sollte in der Stärkung der politischen Kräfte in Bagdad liegen, die sich weiterhin den Ambitionen des Iran, seine Nachbarn zu kontrollieren, widersetzen. In Zusammenarbeit mit den Golfstaaten könnten wirtschaftliche Anreize die Übernahme des Landes durch iranische Agenten in der „Popular Mobilization“, einer vom Iran unterstützten Miliz-Armee, verzögern. Diese wurde ursprünglich zum Kampf gegen den Islamischen Staat formiert und wird nun von der schwachen irakischen Regierung subventioniert. Selbst Figuren wie der eigenwillige Kleriker Muqtada Sadr könnten als potenzielle Partner angesehen werden. Sadr ist ein radikaler irakischer Geistlicher, Milizenführer und schiitischer Politiker, dessen Streitkräfte von 2004 bis 2008 gegen US-amerikanische und irakische Truppen kämpften.

Wenn der Irak vor der kompletten iranischen Kontrolle bewahrt wird, würde dies Teherans Kampagne zur Einrichtung von Landkorridoren nach Westen, von seiner Grenze bis zum Meer, behindern. Die EU könnte auch die Vor- und Nachteile der Entsendung kleiner Truppenkontingente abwägen, um denjenigen, der im November ins Weiße Haus einzieht, davon abzuhalten, sich aus dem Irak zurückzuziehen.

Syrien

Der Iran unterhält komplexe Beziehungen zu Russland in Syrien: Trotz ihres engen Bündnisses im Angriffskrieg in der Ukraine hat Präsident Putin dem Obersten Führer des Iran, Ali Khamenei, untersagt, das Assad-Regime in die aktuelle Konfrontation mit Israel zu verwickeln. Es kann aber mehr getan werden, um die Macht des Iran über Syrien zu beschneiden. Wie im Irak kann Europa kleine Kontingente nach Nordostsyrien und in die südöstliche Tanf-Enklave entsenden, einem von den USA genutzten Militärstützpunkt, um diejenigen in Washington zu unterstützen, die davor warnen, Assad zu erlauben, die fruchtbaren, ölreichen Gebiete jenseits des Euphrat zu erobern, die derzeit von den Kurden gehalten werden. Diese beiden Zonen dienen auch als wichtige Barrieren für iranische Waffenlieferungen, nicht nur an die Hisbollah und (durch Schmuggel) in das Westjordanland.

"Diese beiden Zonen dienen auch als wichtige Barrieren für iranische Waffenlieferungen, nicht nur an die Hisbollah und in das Westjordanland."

Der Rückzug aus Tanf würde eine zunehmende Bedrohung für die Stabilität Jordaniens darstellen. Der massive Drogenhandel aus dem Libanon und Syrien würde noch größere Ausmaße annehmen und die arabische Halbinsel sowie weit darüber hinaus überschwemmen. Eine weitere mögliche Option für Europa wäre, gemeinsam mit den USA die Öffnung eines drei Kilometer langen humanitären Korridors von Jordanien zum nächsten drusischen Dorf zu unterstützen, um die unbewaffnete Revolte in der Provinz Sweida gegen Assad und seine iranischen Schutzherren zu fördern.

Libanon

In absehbarer Zukunft kann der Libanon bedauerlicherweise nicht als funktionierender Staat wiederhergestellt werden oder sich aus dem Griff der Hisbollah befreien. Es sollte erneut darauf hingearbeitet werden, anti-iranische politische Parteien zu unterstützen, einschließlich der Rivalen von Scheich Hassan Nasrallah innerhalb der schiitischen Gemeinschaft. Gemeinsam mit den USA sollten sie dabei unterstützt werden, die Wahl eines pro-iranischen Präsidenten und die Ernennung eines pro-iranischen Kabinetts zu verhindern.

Europa sollte die Teilnahme an einer nach dem Krieg aufgerüsteten UNIFIL (United Nations Interim Force in Lebanon) erwägen und Bedingungen für die Bereitstellung von Ausrüstung für die libanesische Armee festlegen, um sie so weit wie möglich aus den Manipulationen der Hisbollah herauszuhalten. 

"Europa sollte die Teilnahme an einer nach dem Krieg aufgerüsteten UNIFIL erwägen und Bedingungen für die Bereitstellung von Ausrüstung für die libanesische Armee festlegen."

Wenn die Zeit reif ist, kann Europa in Erwägung ziehen, seine guten Dienste für die endgültige Festlegung der Grenze zu Israel anzubieten. Ein wesentliches Projekt, das bisher nicht in Gang kam, ist das Pumpen von „ägyptischem“ (in Wirklichkeit israelischem) Gas von Jordanien in den Libanon, der unter akutem Strommangel leidet.

Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA)

Europa, als einer der Hauptgeber der PA und des UNRWA (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees), sollte ein starkes Interesse daran haben, Präsident Mahmud Abbas dazu zu bringen, folgende Maßnahmen zu ergreifen: Ernsthafte Reformen einzuführen, um die Kultur der Korruption und Verschwendung auszumerzen, eine neue Regierung zu bilden, die in den Aufbau anständiger sozialer Dienste investiert, eine produktive Wirtschaft fördert und die Sicherheitsdienste reorganisiert.

„Als Hauptgeber der PA und des UNRWA sollte Europa ein starkes Interesse daran haben, Präsident Abbas dazu bringen, ernsthafte Reformen einzuführen, um die Kultur der Korruption und Verschwendung auszumerzen und eine neue Regierung zu bilden.“

Die Pläne für Reformen liegen auf dem Tisch, aber der 87-jährige Abbas widersetzt sich dem Druck der USA und der Golfstaaten, zumindest einen Teil seiner Verantwortung abzugeben und Befugnisse an politisch unabhängige und fähige Experten zu übertragen. Die anhaltende Stagnation der PA und die Verschlechterung ihrer Popularität gefährden ihre Überlebenschancen. 

Die Hamas, die vom Iran unterstützt wird, hat ihre Bemühungen bereits intensiviert, die Legitimität der PA zu untergraben und sich auf die Eroberung des Westjordanlandes vorzubereiten. Eine gründliche Reform der PA ist zu einer dringenden Aufgabe geworden, insbesondere wenn sie mit der Verwaltung des Gazastreifens betraut werden soll. An diesem Punkt scheint nur ein festes Ultimatum eine Änderung herbeizuführen: Die EU mit Norwegen, Japan und anderen sollten Abbas warnen, dass die Geberstaaten den Geldtransfer stoppen werden, bis die Reform im Gange ist, bzw. beginnt. Es gibt vielleicht keinen anderen Weg, ihn zu überzeugen!

Charles Michel und Mahmoud Abbas schütteln sich die Hände bei einem Treffen.
Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rates (l) trifft Mahmoud Abbas, den Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde (r) in Amman, Jordanien am 11.06.2024. Europa sollte Abbas dazu bringen Reformen einzuführen, besonders, wenn die PA mit der Verwaltung des Gazastreifens betraut werden soll, Foto: ROPI | Pignatelli/EUC via picture alliance.

Israel

Ohne auf die komplizierten Spaltungen in Europa in Bezug auf Israel einzugehen, ist es offensichtlich, dass die EU und Großbritannien parallel zum Druck auf die PA von der Regierung Benjamin Netanjahus, solange sich diese an die Macht klammert, Folgendes verlangen müssen: Schritte zu unternehmen, um a) den aktuellen Krieg in Gaza zu beenden, selbst wenn sie die Hamas weiterverfolgt, die von einer terroristischen Armee mit großen Raketendepots in einen unbewaffneten Untergrund umgewandelt wurde. b) zu erklären, dass Gaza der Palästinensischen Autonomiebehörde unterstellt wird, sobald die oben beschriebene Reform im Gange ist. c) zu bekunden, dass sie an der Zwei-Staaten-Vision festhält. d) den weiteren Siedlungsbau auszusetzen. e) die Polizei anzuweisen, rechtliche Schritte gegen die paar Dutzend rechtsradikalen jungen Siedler einzuleiten, die benachbarte Palästinenser schikanieren. f) das Einreiseverbot für palästinensische Arbeiter nach Israel aufzuheben, um die schwierige wirtschaftliche Situation im Westjordanland zu verbessern. 

„Die EU und Großbritannien müssen von Benjamin Netanjahus Regierung verlangen, dass sie, solange sie sich an die Macht klammert, Schritte unternimmt, um den aktuellen Krieg in Gaza zu beenden.“

Solche Schritte würden dazu beitragen, die Spannungen abzubauen und die Zusammenarbeit zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde beim Wiederaufbau des Gazastreifens zu ermöglichen.

Ägypten

Der „Riese am Nil" steht am Rande des Zusammenbruchs, bisher durch Finanzspritzen der Golfstaaten unter Führung der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) gerettet. Eine Implosion eines Landes mit 100 Millionen Einwohnern hätte enorme Auswirkungen auf Europa. Die unmittelbare Aufgabe sollte darin bestehen, Druck auf Präsident Abdel Fatah al-Sisi auszuüben, damit staatliche Unternehmen und die Vielzahl von Firmen, die von den Streitkräften verwaltet werden, privatisiert werden. Eine freie Marktwirtschaft ist unerlässlich, um Ägypten aus der Misere zu führen. Statt Ägyptens endlosen Appetit auf teure militärische Ausrüstung nur zu begrüßen, könnten Europäer davon profitieren, dort wirtschaftliche Investitionen zu tätigen und Gewinne zu erzielen.

„Statt Ägyptens endlosen Appetit auf teure militärische Ausrüstung nur zu begrüßen, würden die Europäer letztlich davon profitieren, dort Gewinne aus wirtschaftlichen Investitionen zu erzielen.“

Die Rettung Ägyptens vor sich selbst ist entscheidend, um mit dem fertig zu werden, was vor uns liegt: dem Schreckgespenst von 300 Millionen arbeitslosen Jugendlichen in der gesamten MENA-Region (Naher Osten und Nordafrika) in zwei Jahrzehnten. Dies ist natürlich eine europäische Angelegenheit, die umso dringlicher wird, wenn sie nicht richtig angegangen wird. Der Nahe Osten ist eine tickende Zeitbombe, die potenziell auch Auswirkungen auf Europa haben könnte.

Ehud Yaari

© Qantara.de 2024

Ehud Yaari ist ein israelischer Journalist, Autor und politischer Kommentator im israelischen Fernsehen.