Rückschritt für die Menschenrechte
Die Übergangsregierung unter Präsident Adli Mansur hatte einen Ausnahmezustand verhängt, der zunächst bis Mitte September in Kraft bleiben soll. Er stattete Polizei und Armee mit weitreichenden Befugnissen aus, so dass sie im Interesse einer vermeintlichen nationalen Sicherheit jederzeit Zivilisten festnehmen und die Medien zensieren dürfen.
Das ist nichts Neues in Ägypten: Das Land wurde in den letzten 30 Jahren bis zum Sturz Mubaraks 2011 durchgängig im Ausnahmezustand regiert. Für die Menschenrechtsorganisaton "Human Rights Watch" in Kairo ist das ein fataler Rückschritt angesichts der langen Geschichte des Machtmissbrauchs durch die ägyptischen Sicherheitskräfte. "Sie werden die Entscheidung als eine Lizenz zu noch mehr rücksichtslosem und ungesetzlichem Einsatz von Gewalt auffassen", schreibt die Organisation in ihrem jüngsten Bericht zur Lage in Ägypten.
Nach dem Attentat auf Innenminister Mohammed Ibrahim in der vergangenen Woche ist zu befürchten, dass der Anschlag auf den Politiker benutzt wird, um den Ausnahmezustand über den September hinaus zu verlängern.
Die Rückkehr der verhassten Sicherheitsdienste
Mohammed Ibrahim gilt nicht nur als einer der Hauptverantwortlichen für das rücksichtslose Vorgehen der Sicherheitskräfte bei der Räumung von Sit-Ins der Muslimbrüder am 14. August in Kairo. Er hat auch offiziell die verhassten "Mabahith Amn ad-Dawla" wieder eingeführt, eine Spezialeinheit der Polizei, die nominell nach dem Sturz Mubaraks aufgelöst worden war. Ob sie danach wirklich nicht mehr existierte, darf allerdings bezweifelt werden.
Doch die offizielle Wiedereinsetzung des gefürchteten Sicherheitsdienstes ist ein Schritt zurück in die Mubarak-Ära unter dem Deckmantel der nationalen Rettung. Dabei war die brutale Polizeigewalt eine der entscheidendsten Ursachen für die Entstehung der Protestbewegung im Jahr 2011.
Für ägyptische Menschenrechtsaktivisten liegt das Grundproblem mit den Sicherheitskräften, egal ob unter einem islamistischen Präsidenten Mursi oder unter der neuen Übergangsregierung, im "Fehlen jeglicher Rechenschaftspflicht für die Verantwortlichen". Neun führende Organisationen, unter anderem das "Cairo Institute for Human Rights" und die "Egyptian Initiative for Personal Rights" haben in einer gemeinsamen Erklärung das blutige Vorgehen der Sicherheitskräfte scharf verurteilt.
Stärkung des politischen Übels
"Der wiederholte Einsatz übermäßiger und tödlicher Gewalt durch die ägyptischen Sicherheitskräfte vor dem Hintergrund des anhaltenden politischen Protests wird nur die politischen Übel stärken, welche die ägyptische Gesellschaft dazu veranlasst hatte, gegen die Politik von Mubarak, den Obersten Militärrat und die Muslimbruderschaft zu rebellieren", heißt es in ihrem Statement.
Die Täter müssen nicht damit rechnen, von einem Gericht verurteilt zu werden. Bis jetzt wurden lediglich in Ausnahmefällen Polizisten unterer Dienstgrade wegen der Opfer aus dem Jahr 2011 zu geringfügigen Haftstrafen verurteilt. Die eigentlichen Drahtzieher im Hintergrund gingen stets straffrei aus.
Als Initiator der Erklärung gilt der Anwalt Gamal Eid, Direktor des 2004 gegründeten "Arabic Network for Human Rights Information" (ANHRI). Eid ist als unparteiisch anerkannt, weil er stets das Fehlverhalten von Militärs und Muslimbüdern angeprangert hat. Für ihn bewegen sich beide Konfliktparteien in einem Teufelskreis, in dem sie den jeweils anderen als Sündenbock für eigenes, gewalttätiges Verhalten benutzen.
"Bislang liefern die Islamisten dem Militär die Rechtfertigung dafür, mit Gewalt gegen sie vorzugehen", sagt Eid. "Sie müssen damit aufhören, zur Gewalt aufzurufen, egal ob dies in Kairo oder auf dem Sinai."
Von den Behörden verlangt er mehr Transparenz und Kooperation bei der umfassenden Aufklärung aller Vorfälle, die seit dem Sturz von Mursi zu mehr als tausend Toten und zahllosen Verletzten geführt haben. ANHRI zeigt sich außerdem sehr besorgt, dass die Übergangsregierung mit neuen Gesetzesvorhaben der Opposition „unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terrorismus willkürliche Restriktionen auferlegt.“
Für Heba Morayef von "Human Rights Watch" in Kairo kann von einer systematischen Gewaltpraxis unter den Muslimbrüdern keine Rede sein. Sie spricht von einer "kleinen Minderheit" unter den Islamisten, die sich während der Demonstrationen nach dem Juli 2013 gewalttätig verhalten haben. Die Reaktion der Staatsmacht hält sie für "völlig überzogen". Der Staat sei verpflichtet, Gewalttäter zu verhaften, dürfe aber nicht ihr Leben gefährden.
Schauprozesse und drakonische Haftstrafen
Rund 2.000 Mursi-Anhängern wurden inhaftiert und teilweise misshandelt. Die gesamte Führungsriege der "Partei für Freiheit und Gerechtigkeit" sitzt im Gefängnis und soll zusammen mit dem Ex-Präsidenten vor Gericht gestellt werden, politisch motivierte Schauprozesse sind zu befürchten. Eine Gruppe von 64 Islamisten wurde bereits letzte Woche zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
Bei der angekündigten Überarbeitung der Verfassung wird diskutiert, in Artikel 6 ein Verbot von politischen Parteien auf der Basis von Religionen aufzunehmen – das würde den Muslimbrüdern qua Verfassung die Möglichkeit nehmen, sich politisch zu organisieren.
Die Presse- und Meinungsfreiheit ist ebenfalls drastisch eingeschränkt. Journalisten und Medien, die den Muslimbrüdern nahestehen, werden eingeschüchtert, Fernsehsender der Muslimbrüder und Salafisten wurden geschlossen, der Bruderschaft selbst droht ein Verbotsverfahren.
Die freie Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen unter der Übergangsregierung wird gezielt behindert. ANHRI setzt sich für kritische Journalisten ein, die aus fadenscheinigen Gründen verhaftet wurden. Bei der gewaltsamen Räumung der Protestlager von Mursi-Anhängern am 14. August in Kairo wurden vier Journalisten getötet. Wer die Täter im Einzelnen waren, wurde bisher nicht ermittelt.
Unter Präsident Mursi verunglimpfte die islamistische Presse politische Gegner gerne als Ungläubige. Das hat sich inzwischen allerdings verändert. Jetzt wird jedes oppositionelles Aufbegehren pauschal als "nationaler Verrat" diffamiert, was sich gegen alle richtet, die sich überhaupt noch trauen, Kritik an der Übergangsregierung und am Militär zu üben.
Claudia Mende
© Qantara.de 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
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