Politisierte Religion
Während der Gouverneurswahlen 2017 in Jakarta wurde der zur Wiederwahl angetretene amtierende Gouverneur Basuki Tjahaja Purnama (bekannt unter seinem Spitznamen "Ahok") der Blasphemie für schuldig befunden und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Basuki ist Christ chinesischer Abstammung.
Im Vorfeld der diesjährigen indonesischen Präsidentschaftswahlen gab es eine weitere medienwirksame Verurteilung: Meliana, eine buddhistische, chinesischstämmige Frau, wurde zu achtzehn Monaten Gefängnis wegen Blasphemie verurteilt. Sie hatte sich über die Lautstärke der Gebetsrufe beschwert, die per Lautsprecher von einer Moschee in ihrer Nachbarschaft in Nord-Sumatra übertragen werden.
Im Oktober 2018 lehnten die Richter des Obersten Gerichtshofs von Nord-Sumatra die Berufung gegen das Urteil ab. Dieser Fall ist ein Indikator für die steigende Zahl von Blasphemieurteilen im Kontext einer zunehmenden Politisierung religiöser Fragen in der präsidentiellen Demokratie Indonesien.
Die Hintergründe
Der Fall Meliana nahm im Juli 2016 seinen Anfang, als sich die Frau bei einer Nachbarin über die Lautstärke der Lautsprecher einer angrenzenden Moschee beklagte. Zuerst versuchte der Dorfvorsteher die Beschwerde von Meliana im Rahmen einer Mediation zu lösen.
Obwohl bereits andere Anwohner Meliana Gotteslästerung vorgeworfen hatten, verzichtete der Verantwortliche der Moschee laut ihrem Anwalt Ranto Sibarani darauf, gegen Meliana vorzugehen. In ihrer Nachbarschaft kursierte jedoch das Gerücht, dass Meliana grundsätzlich gegen den Gebetsruf sei. Dies wiederum löste erboste Reaktionen aus, worauf in der folgenden Woche Randalierer zahlreiche buddhistische Tempel verwüsteten. Acht Randalierer wurden zu Gefängnisstrafen von ein bis vier Monaten verurteilt.
Nach Untersuchung der Unruhen bezichtigte die örtliche Polizei Meliana der Provokation und beschuldigte sie der Blasphemie. Im August 2016 erklärte der Leiter der Strafverfolgungsbehörde der indonesischen Nationalpolizei (Bareskrim Polri) jedoch, dass Melianas Beschwerde wegen der lauten Gebetsrufe keine Blasphemie sei. Sechs Monate nachdem Meliana sich über den Lärm der Moscheelautsprecher beschwerte, erstattete die Polizei dennoch Anzeige wegen Blasphemie.
Mobilisierung militanter Islamisten
Im gleichen Zeitraum organisierten die militante islamische Massenorganisation "Front Pembela Islam" (dt.: Front der Islam-Verteidiger) sowie politische Gegner des amtierenden Gouverneurs Ahok eine Reihe von Massenkundgebungen in Jakarta mit dem Ziel, die Polizei dazu zu drängen, Ahok der Blasphemie zu beschuldigen. Dies veranlasste wiederum die "Aliansi Mahasiswa dan Masyarakat Independent Bersatu" (dt. Allianz der Studierenden und unabhängigen Gemeinschaften) in Nord-Sumatra dazu, Anfang Januar 2017 beim "Rat der indonesischen islamischen Geistlichen" (MUI) der Region Tanjungbalai eine Fatwa zum Fall Meliana wegen Beleidigung des Islam zu erwirken.
Die MUI ist eine quasi-staatliche Organisation, die für die Ausarbeitung von Rechtsauskünften zu Religionsfragen zuständig ist. Deren Fatwas dienen der Polizei als maßgebliche Referenz bei Verdacht auf Blasphemie. Zum damaligen Zeitpunkt sah das MUI jedoch von einer Fatwa ab. Der nord-sumatraische Zweig der zweitgrößten islamischen Organisation Indonesiens, Muhammadiyah, veröffentlichte jedoch eine Erklärung, wonach Meliana für den Aufstand verantwortlich gemacht wurde.
Mitte Januar 2017 besuchte der Vorsitzende der "Front der Islam-Verteidiger", Rizieq Shihab Medan, die Hauptstadt Nord-Sumatras. Dort warb er um Unterstützung der islamischen Protestbewegung, die die Kundgebungen gegen Ahok ausgelöst hatten. Eine Woche später, am 24. Januar 2017, sprach das MUI von Nord-Sumatra schließlich eine Fatwa gegen Meliana wegen Blasphemie aus.
Die Polizei zog diese Fatwa als Grundlage für ihre Ermittlungen heran und brachte den Fall vor Gericht. Sie diente auch dem Richter als Hauptbeweismittel bei der Feststellung der Schuld Melianas.
Orientierungshilfe, aber keine Vorschrift
An vielen Orten Indonesiens werden vor und nach den fünf täglichen Gebetsrufen Rezitationen aus dem Koran über Moscheelautsprecher übertragen. Dies ist zwar seit Langem gängige Praxis, aber nicht selten wird über die Lautstärke gestritten.
Erstmals hat ein Streitfall jedoch zur strafrechtlichen Verfolgung der Beschwerdeführerin geführt. Es gab einen Zivilprozess im Zusammenhang mit einem ähnlichen Thema 2013 in Aceh. Die Anklage wurde damals jedoch auf Druck der Anwohner zurückgenommen.
Die Regierung versucht, solche Streitigkeiten durch Anweisungen des Generaldirektors für Fragen der Islamgemeinschaft im Ministerium für religiöse Angelegenheiten zu verhindern. Die Nutzung der Lautsprecher einzuschränken, geht auch auf Vorschläge führender islamischer Persönlichkeiten zurück, darunter des verstorbenen Abdurrahman Wahid. Wahid war ein ehemaliger Führer der größten islamischen Nicht-Regierungsorganisation „Nahdlatul Ulama“ (NU) und galt als gemäßigt-islamischer Denker.
Vizepräsident Jusuf Kalla – ein Mitglied des NU-Beirats – empfahl ebenfalls, die Gebetsrufe mit moderater Lautstärke zu übertragen. Doch dieser Vorschlag wird von Moscheen kaum umgesetzt, auch nicht von denen, die der NU angehören. Viele verwenden immer noch Hochleistungslautsprecher.
Eine neue Art der Blasphemie
Melianas Verurteilung reiht sich in eine wachsende Zahl von Blasphemieurteilen. Mehr als 130 Menschen wurden seit Beginn der demokratischen Reformen 1998 wegen Blasphemie verurteilt. Das entspricht einer Verzehnfachung gegenüber der vorherigen autoritären Periode.
Das indonesische Blasphemiegesetz (Artikel 156a des Strafgesetzbuches) definiert Blasphemie als eine Handlung, die "dadurch gekennzeichnet ist, dass sie gegenüber einer in Indonesien ausgeübten Religion feindselig gesinnt ist, sie missbraucht oder befleckt" und in der "Absicht geschieht, eine Person daran zu hindern, einer Religion anzugehören, die auf dem Glauben an den allmächtigen Gott beruht".
Die Definition bezieht sich rein theoretisch auch auf Gotteslästerung gegenüber einer der anderen in Indonesien anerkannten Religionen, nämlich Protestantismus, Katholizismus, Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus, aber in den meisten Fällen werden Menschen wegen Blasphemie gegen den Islam verurteilt.
Vor Melianas Verurteilung hatten vor allem drei Tatbestände zur Formulierung von Blasphemievorwürfen geführt. Erstens im Zusammenhang mit unterschiedlichen Auslegungen der Religion, wenn ein Mitglied einer religiösen Minderheit eine Idee vorantreibt, die die Mehrheit für abweichend hält. Zweitens Fälle, in denen der Beschuldigte einen Teil einer Religion oder eines religiösen Symbols anfechtet, so wie im Falle Ahoks, der einen Koranvers zitierte und unterstellte, dieser Vers werde von seinen politischen Gegnern dazu benutzt, Wähler zu täuschen. Und drittens Fälle von Missionierungsversuchen.
Melianas Fall kann als eine neue Art von blasphemischem Tatbestand verstanden werden. Da die Blasphemie nicht umfassend definiert ist, kann das Urteil zu einem neuen Präzedenzfall werden, wonach Klagen über zu laute Moscheelautsprecher als Blasphemie ausgelegt werden. Dabei sollte jedoch berücksichtigt werden, dass solche rechtlichen Probleme nicht ohne die Politisierung der Religion auftreten würden. Eine solche Politisierung dient den Akteuren zunehmend als Strategie zur Mobilisierung konservativer Muslime im Wettbewerb um die politische Macht.
Rafiqa Qurrata A'yun
Aus dem Englischen von Peter Lammers