Kriminelle Doppelstaatler – der stilisierte Feind im Inneren
![Ein Wahlplakat mit Olaf Scholz (SPD) und der Aufschrift Mehr Zeit für dich. Besser für Deutschland steht in Frankfurt am Main Foto: Eibner-Pressefoto/Florian Wiegan Wahlplakate in Frankfurt am Main](/sites/default/files/2025-02/507018926.jpg)
Im Januar ging Deutschlands Debatte um vorgeblich „kriminelle Ausländer“ in die nächste Runde. Friedrich Merz startete mit einem WELT-Interview, in dem er die gesetzliche Möglichkeit zum Entzug der Staatsbürgerschaft bei Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit forderte. Das Narrativ hinter dieser Forderung stellt binationale Menschen in Deutschland unter Generalverdacht. Denn was die Debatten um die doppelte Staatsbürgerschaft trägt, ist der Vorwurf einer mangelnden Loyalität gegenüber dem deutschen Staat und der Gesellschaft.
Gleich vorweg: Einen direkten Zusammenhang zwischen Kriminalität und Herkunft gibt es nicht. Es gibt jedoch verschiedene universale Risikofaktoren, wie zum Beispiel Geschlecht und Alter: Es begehen tatsächlich vor allem (junge) Männer Gewalttaten. Andere Risikofaktoren können mit den Lebensbedingungen von Menschen mit ausländischen Wurzeln oder Menschen mit Einwanderungsbiografie korrelieren. Dazu zählen Armut, ein schlechter Zugang zum Arbeitsmarkt, aber auch Gewalterfahrungen im Herkunftsland, wie Kriminologin Gina Wollinger gegenüber dem Mediendienst Integration erklärte.
![Farbbeutel-Anschlag auf Moschee Farbbeutel-Anschlag auf Moschee](/sites/default/files/styles/uv_image_16_9/public/2024-03/farbanschlag-auf-moschee.jpg?itok=bOBn6UCe)
Zwischen offener und latenter Muslimfeindlichkeit
Der Soziologe und Islamwissenschaftler Imad Mustafa hat im Auftrag des Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit (UEM) die erste wissenschaftliche Untersuchung über den Islamdiskurs der politischen Parteien in Deutschland erstellt.
Vieles hängt damit von den institutionellen Rahmenbedingungen ab, die einwandernde Menschen bei ihrer Ankunft in Deutschland vorfinden. Werden bestimmte Gruppen mit Arbeitsverboten belegt oder ihre Bildungsabschlüsse nicht anerkannt, führt das mit größerer Wahrscheinlichkeit zu prekären Lebensverhältnissen. In diesen wiederum sind Risikofaktoren überdurchschnittlich stark ausgeprägt.
Auch die „unerlaubte Einreise” fließt in die Statistik
Debatten über „Ausländerkriminalität“ entzünden sich immer wieder an Statistiken, da sie scheinbar klar zu erkennende Zusammenhänge darstellen. So zum Beispiel im Frühjahr 2024, nach der Veröffentlichung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für das Jahr 2023. Aus kriminologischer Sicht, müssen sie jedoch kontextualisiert werden. Was am Ende politisch debattiert wird, geht oft genug an der eigentlichen Aussage der Statistiken vorbei.
Die Diskussion um die sogenannte „Ausländerkriminalität“ erfolgt nicht faktenbasiert. Zur Interpretation der Statistik muss einiges berücksichtigt werden. So ist es in der Kriminologie bekannt, dass Menschen, die als ‘fremd’ wahrgenommen werden, häufiger angezeigt werden als Personen, die als weiß und deutsch gelten.
Das heißt, vereinfachend gesagt: Wer Ali heißt, erhält für dieselbe Handlung eher eine Anzeige als jemand, der Christian heißt. Außerdem wissen wir, dass rassifizierte Minderheiten im öffentlichen Raum und migrantisch geprägte Viertel eher von der Polizei kontrolliert werden. Dort, wo mehr gesucht und kontrolliert wird, wird entsprechend mehr gefunden, bestätigt auch Gina Wollinger.
Darüber hinaus gibt es Straftaten, die nur von Ausländern begangen werden können, wie die sogenannte „unerlaubte Einreise ins Bundesgebiet“. Dazu gehören auch die Fälle, in denen Geflüchtete in Deutschland Schutz suchen. Solche Grenzübertritte fließen in die Statistik als Straftat mit ein. Da Deutschland im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention jedoch zusichert, jede Bitte um Schutz zu prüfen, werden die Fälle in der Regel von der Justiz nicht weiterverfolgt.
Die Kategorie der Ausländer umfasst zudem unterschiedlichste Gruppen wie Tourist:innen, Schutzsuchende, also Menschen mit Fluchtgeschichte und Menschen, die bereits seit Jahren hier leben und arbeiten, aber keinen deutschen Pass haben. Diese Menschen haben oft wenig bis gar nichts gemeinsam.
Viel entscheidender als der Pass sind die konkreten Lebensumstände und Erfahrungen von Menschen. Eine pauschale Gefahr durch „kriminelle Ausländer“ oder „steigende Ausländerkriminalität“ gibt es also nicht, da die Staatsangehörigkeit selbst keine Aussagekraft für die Frage hat, ob jemand straffällig wird.
Die Historie der Forderung aus migrationspolitischer Sicht
Der Entzug der Staatsbürgerschaft als politische Maßnahme ist nicht neu, auch nicht im Kontext der Bundesrepublik Deutschland. Die Maßnahme wurde in Deutschland und anderen europäischen Ländern wie Großbritannien im Kampf gegen den islamistischen Terror eingesetzt.
In Deutschland kann die Staatsbürgerschaft nach aktueller Rechtslage entzogen werden, wenn sich jemand diese „rechtswidrig erschlichen“ hat. Das ist der Fall, wenn eine Person sich im Rahmen der Einbürgerung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennt, später aber zum Beispiel für eine ausländische Terrororganisation oder Militär kämpft.
In Deutschland wurde ab 2019 der Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft in einigen wenigen Fällen durchgeführt. Bei den betroffenen Personen handelte es sich um Kämpfer und Angehörige des sogenannten „Islamischen Staates“.
![In der "Initiative 19.Februar" sind Fotos aller Opfer von Hanau an der Wand angebracht. Foto: Lisa Hänsel/ DW Am 19. Februar 2020 ermordet ein Rechtsterrorist im hessischen Hanau neun Menschen: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.](/sites/default/files/styles/uv_image_16_9/public/import/2021-02/97612-hanua_opfer_19_terror.jpg?itok=xzvD_bRd)
Der Hass und seine Wegbereiter
Das Attentat von Hanau hat gezeigt, wie gefährlich rassistische Verschwörungsfantasien sind. Doch sie werden noch immer unterschätzt. Ein Kommentar von Daniel Bax
Seitdem wurde immer wieder versucht, die Möglichkeiten der Ausbürgerung auf andere Gruppen auszuweiten. So forderten 2023 die Innenminister der unionsgeführten Länder, Straftaten aus dem Bereich der sogenannten „Clankriminalität“ in den Katalog aufzunehmen. In der öffentlichen Debatte wird diese oft mit organisierter Kriminalität gleichgesetzt. Doch in den Lagebildern der Bundesländer zu „Clankriminalität“ werden selbst Ordnungswidrigkeiten erfasst.
Das Aufsummieren jedes abweichenden Verhaltens und die Kategorisierung nach ethnischer Zugehörigkeit werden von wissenschaftlicher und juristischer Seite kritisiert. Trotz der weit gefassten Definition machen erfasste Tatbestände aus der Kategorie „Clankriminalität“ nur 0,1 bis 0,76 Prozent aus.
Nun wird die Forderung leicht verändert von Friedrich Merz im Wahlkampf erhoben. Die RTL-Moderatorin Pinal Atalay stellte ihm die Frage, wen er mit dem Begriff „kriminelle Ausländer“ meine.
Er präzisierte daraufhin seine Forderung, die Staatsbürgerschaft zu entziehen, wenn „schwere Straftaten“ begangen würden, wie dies bei antisemitischen Ausschreitungen auf „Palästinenserprotesten“ in Berlin geschehe. Ob seine Vorschläge rechtssicher sind, interessiert Friedrich Merz offenbar wenig, denn die juristische Umsetzbarkeit ist weiterhin umstritten.
![Symbolbild Doppelpass; Foto: picture-alliance/dpa Eine junge Studentin hält ihren deutschen und türkischen Pass hoch.](/sites/default/files/styles/uv_image_16_9/public/import/2013-11/50805-pass1.jpg?itok=qeFK232Q)
Warum der Wahlzwang der Integration schadet
Der Kampf gegen die doppelte Staatsbürgerschaft ist ein Anrennen gegen die deutsche Realität. Gewiss: Wer neu eingebürgert wird, muss sich entscheiden - aber doch nicht dafür, ob er sich nun ein wenig mehr türkisch oder ein wenig mehr deutsch fühlt. Heribert Prantl kommentiert.
Wichtiger ist ihm, seine Forderung nach dem Entzug der Staatsbürgerschaft als Maßnahme gegen den Antisemitismus in Deutschland darzustellen. Dabei sind die verfassungsrechtlichen Hürden für den Entzug von Staatsbürgerschaften in der Bundesrepublik gerade wegen der Erfahrungen im NS-Regime so hoch.
Damals wurde Jüdinnen und Juden und Regimegegner*innen systematisch die Staatsbürgerschaft entzogen. Die Ausbürgerung von Deutschen mit ausländischen Wurzeln nun als Schutzmaßnahme gegen Antisemitismus anzupreisen, wirkt geschichtsvergessen.
Friedrich Merz, unfreiwilliger Wahlkämpfer der AfD
Unter Menschen, die von den populistischen Zuschreibungen betroffen sind, schüren Töne wie von Friedrich Merz Angst und Unsicherheit. Das immer stärkere migrationsfeindliche und antimuslimische Klima wird aktuell durch populistische Debatten um die Anschläge von Solingen und Magdeburg, oder das Attentat in Aschaffenburg weiter verschärft. Die Botschaft lautet: Selbst wenn ihr hier lebt und arbeitet, deutsche Staatsbürger*innen geworden seit oder von Geburt an wart – ihr seid kein Teil der deutschen Gesellschaft.
Die Migrationsforscherin Naika Foroutan warnte bereits 2018, dass die Frage der Migration zur Zerreißprobe für demokratische Gesellschaften geworden ist. Das Narrativ der „kriminellen Ausländer“ ist eine beliebte wie gefährliche Strategie von Politiker:innen, um sich selbst als Retter oder Wiederhersteller von Recht und Ordnung zu inszenieren und profilieren. In diesem Fall dient der „kriminelle Doppelstaatler“ als rassistische Chiffre. Friedrich Merz macht damit Kriminalität zu einer Gefahr von außen, einem nicht-deutschen, sondern einem durch Zuwanderung entstandenen Phänomen.
In den „Remigrationsplänen” der Neuen Rechten wird ebenfalls die Ausbürgerung von deutschen Staatsbürger:innen mit Migrationsgeschichte erörtert, um sie im nächsten Schritt zu deportieren. Sie sprechen von der angeblichen „Zersetzung“ oder dem „Zerfall des homogenen deutschen Volkskörpers“ durch „kriminelle oder parasitäre Ausländer“. Auch wenn Friedrich Merz dies vermutlich nicht beabsichtigt, könnte die Umsetzung seiner aktuell geforderten Maßnahme zur Rechtsgrundlage für rechtsextreme Fantasien werden.
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