"Es ist nie nur schwarz oder weiß"
Herr Gil-Schuster, in Ihren Interviews stellen Sie Fragen, die Ihnen Menschen aus aller Welt mailen. Wie lautete die erste Frage?
Corey Gil-Schuster: Es gab da eine Gruppe von etwa 30 Menschen, die glaubten, alles zu wissen. Irgendjemand äußerte etwas zur Ein-Staaten-Lösung, und ich sagte, großartig, kann ich daraus eine Frage machen? Als erstes fragte ich Nachbarn in Tel Aviv wie den Obstverkäufer und andere. Ich hatte null Erfahrung, wie man solche Interviews bearbeitet, aber als ich sie zu einem digitalen Film zusammengestellt hatte, erkannte ich, wie wirkungsvoll solche Fragen sind, um eine Konfliktsituation zu verstehen.
Danach gingen Sie in die Westbank oder nach Ost-Jerusalem, um Palästinenser das Gleiche zu fragen?
Gil-Schuster: Es hat ein paar Monate gedauert. Zuvor war ich nur als Tourist in den palästinensischen Gebieten gewesen. Dann habe ich ein paar Palästinenser gefragt, ob ich mein Projekt in ihren Dörfern ausprobieren darf. Die ersten Videos von dort waren schlecht übersetzt – von Freunden, die aushalfen. Danach habe ich dann professionelle Übersetzer angeheuert.
Einige Ihrer Fragen wirken ziemlich provokativ. Stellen Sie sich und das Projekt zuerst vor? Wie verhindern Sie wütende Reaktionen?
Gil-Schuster: Ich gebe nicht zu viele Vorinformationen. Ich sage nur, hallo, ich habe ein Projekt auf YouTube und möchte dafür ein paar Fragen stellen, die aus dem Ausland kommen. Würden Sie darauf vor der Kamera antworten? Es ist sehr wichtig, dass die Interviewten wissen, die Sache ist für die Öffentlichkeit bestimmt.
Israelis haben damit meist kein Problem, eher sorgen sie sich um ihr Aussehen und die Frisur. Palästinenser sind oft besorgt, ob eine öffentliche Äußerung für sie gefährlich sein könnte. Deshalb achte ich sehr auf ihre Sicherheit. Das ist alles.
"Manche Fragen sind richtig schrecklich"
Klingt einfach, gibt es da kein Misstrauen?
Gil-Schuster: Ich glaube, die Menschen erwarten triviale Fragen, nichts über Politik. Man sieht es an ihren Augen, wenn ich meine Fragen dann stelle. Einige davon sind richtig schrecklich.
Bitte ein Beispiel.
Gil-Schuster: Meine schlimmste Frage richtete sich an israelische Juden: "Warum behandelt ihr die Palästinenser eigentlich so, wie die Nazis einst die Juden?" Es hat mir wirklich weh getan, das zu fragen. Aber ich habe es getan und dazu gesagt, es sei nicht meine eigene Frage, aber ich würde sie trotzdem stellen. Manchmal schauten die Interviewten dann schockiert. Dennoch finde ich es wichtig für sie zu verstehen, dass Menschen außerhalb Israels Fragen haben, die sie vielleicht für nicht legitim halten. Wenn sie auf eine Frage nicht antworten wollen, ist das auch okay.
Sie haben inzwischen mehr als tausend solcher Videos gemacht. Gibt es überhaupt noch neue Aspekte?
Gil-Schuster: Oh ja, und es macht immer noch Spaß. Ich lerne die ganze Zeit hinzu. Es hat zwei, drei Jahre gedauert, bis ich erkannt habe, dass Palästinenser unter Besatzung etwas anderes verstehen als ein Kanadier in Tel Aviv. Für viele von ihnen sind die Städte Jaffa oder Haifa im israelischen Kernland ebenfalls besetzt. Menschen haben oft ihre eigenen Slogans. Ein wesentliches Ziel bei der Konfliktlösung ist, zu verstehen, was die andere Seite sagt, was sie mit ihren Slogans meint. Denn die Dinge sind nie nur schwarz oder weiß.
Wie zufällig wählen Sie Ihre Gesprächspartner aus? Mir fiel auf, dass viele befragte Israelis zu Hause saßen, während Sie Palästinenser meist auf der Straße interviewten. Die Israelis müssen gewusst haben, dass Sie kommen, oder?
Gil-Schuster: Ich habe eine Regel: Wenn ich Angehörige von einem Freund besuche, stelle ich ihnen gewöhnlich eine Frage, aber keine, auf die ich deren Antwort schon weiß. Bei Palästinensern sind das Private und das Öffentliche stärker getrennt. Man lädt niemand ein, den man nicht kennt. Aber wenn möglich, besuche ich sie auch Zuhause.
Ohne Maske in Bethlehem und Hebron
Wie ist Ihr Projekt in diesen Corona-Zeiten gelaufen? Konnten Sie in 2020 rausgehen, um Fragen zu stellen?
Gil-Schuster: Wenn die Corona-Kurve niedrig war, habe ich weiter Interviews geführt. Nicht nur in Tel Aviv, auch in Bethlehem und Hebron, wo die meisten nicht mal eine Gesichtsmaske trugen, das hat mich ganz schön nervös gemacht. Daher bin ich im Freien geblieben und nicht in Büros oder Wohnungen gegangen.
Wenn man sich Ihre Videos anschaut, scheint es zwei Arten von Fragen zu geben. Entweder beziehen sie sich auf den Konflikt, warum Israelis Palästinenser hassen oder umgekehrt. Oder sie reflektieren die Neugier auf die andere Seite, auf ihre Religion und ihre Art zu leben.
Gil-Schuster: Die meisten Fragen, die ich bekomme, drehen sich um Religion. Das hatte ich zunächst nicht erwartet. Etwa, was Juden über Jesus denken oder über Mohammed. Ich versuche, diese Fragen mit dem Konflikt zu verbinden und so beide Seiten menschlicher zu machen.
Kommen die meisten Fragen aus dem Ausland?
Gil-Schuster: Die meisten Fragen kommen aus Westeuropa und Nordamerika, einige aus Südamerika und manche aus der muslimischen Welt. Nur ganz wenige Fragen kommen von Israelis oder Palästinensern selbst.
Sie haken in den Interviews ja auch nach. Diese Fragen sind Ihre eigenen, oder?
Gil-Schuster: Ja, ich versuche dabei, mich in eine Person hinein zu versetzen, die nicht hier, sondern in Deutschland, Indien oder den USA lebt. Wenn Interviewte etwa sagen, "wir geben niemals unser Land auf", dann frage ich: Was wäre, wenn sie eine Million Dollar bekämen oder wenn Ihre Enkel in Frieden mit einem Staat Palästina im Westjordanland leben könnten. Es geht mir darum zu sehen, ob sie dann von ihrer Position abrücken, zumindest ein bisschen.
Gespräche mit Radikalen auf beiden Seiten
Gehen Sie auch in palästinensische Flüchtlingslager oder radikalisierte Westbank-Siedlungen wie Itamar?
Gil-Schuster: Ja, ich gehe nach Itamar und ich gehe auch in Flüchtlingslager. Nicht so oft wie ich möchte, da meine Übersetzer eher davor zurückschrecken, sie halten die Lager für gesetzlose Orte. Wir versuchen daher, die Menschen nahe am Eingang zu befragen. Gaza ist der einzige Ort, an den ich nicht darf. Aber ich habe kein Problem damit, überall hinzugehen.
Hoffen Sie nach all den Antworten, die Sie bekommen haben, noch, dass der Konflikt lösbar ist? Dass die Menschen zu Frieden bereit wären, falls die Politiker vorangehen?
Gil-Schuster: Falls die Politiker vorangehen – genau da liegt das Problem. Man braucht Führungspersönlichkeiten mit einer Vision. Und derzeit haben wir auf keiner Seite solche Anführer. Aktuell sehe ich keine Lösung, aber ich persönlich würde jede akzeptieren, wenn eine Mehrheit auf beiden Seiten dafür ist. Ich halte die Zwei-Staaten-Lösung für die beste, weil sie jeder versteht. Obwohl nach meiner Ansicht eine Konföderation noch eine bessere Lösung sein könnte.
Laut Meinungsumfragen halten die meisten Palästinenser die Zwei-Staaten-Lösung angesichts der Siedlungsexpansion für nicht länger praktikabel oder realistisch. Wie haben Sie den Meinungswechsel über die Jahre beobachtet?
Gil-Schuster: Es gab einmal eine Mehrheit für zwei Staaten auf beiden Seiten, aber das ist vorbei. Die Frage ist aber, wie jede Seite das jeweils versteht. Ein Beispiel: Wenn Palästinenser sich für das Ein-Staaten-Modell aussprechen, sage ich, dann könnten Juden aus Frankreich oder den USA kommen und in Hebron einkaufen gehen, weil die Stadt ihnen heilig ist. Als Antwort bekomme ich dann zu hören: "Nein, das ist unmöglich, ein Staat bedeutet, der ist für uns. Palästina ist Palästina, wenn Juden unter uns leben wollen, okay."
Das ist eine Mainstream-Meinung, ähnlich auch auf israelischer Seite.
Wenn Israelis sagen, "alles gehört uns", frage ich, ob sie den Palästinensern Bürgerrechte geben würden, und sie antworten "vielleicht". Aber wenn ich sage, Palästinenser könnten dann in Tel Aviv einkaufen gehen, sagen sie: "nein, nein, unmöglich." Die Menschen verstehen nicht einmal genau, was sie unterstützen, vor allem das habe ich gelernt.
Wir sehen also ein ähnliches Muster auf beiden Seiten. Wo liegen dann die Unterschiede zwischen Israelis und Palästinensern bei den Antworten auf Ihre Fragen?
Gil-Schuster: Israelis gehen davon aus, immer die Macht zu haben und die Kontrolle behalten zu müssen. Wenn Palästinenser antworten, dann überlegen sie eher, welche Antwort ihre Familie richtig fände und welche sozial akzeptabel wäre. Im Video geben sie sich hart. Sie wissen, dass sie keine Macht haben. Alles, was sie haben, ist ihr Ego, um zu sagen, das Land ist meins. Sonst würden sie ihre Identität verlieren.
Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?
Gil-Schuster: Ich hoffe, im Frühjahr in die Vereinigten Arabischen Emirate reisen zu können, um dort Fragen zu stellen. Weil es nicht nur um den israelisch-palästinensischen Konflikt geht, sondern um einen Nahost-Frieden. Ich würde gerne Marokko besuchen und wenn möglich auch den Libanon, denn ich glaube, wir haben eine Menge gemeinsam.
© Qantara.de 2021
Corey Gil-Schuster ist Direktor des International Program in Conflict Resolution and Mediation an der Tel Aviv University.
Wer Corey Gil-Schuster eine Frage für seine Interviews stellen will, kann ihm eine E-Mail schicken: askisraelis@gmail.com oder askpalestinians@gmail.com