Die radelnden Ladies von Gaza
Raghad steht starr und nervös auf dem Sportplatz von Al Yarmouk im Gaza-Streifen und betrachtet das rote Fahrrad. Ihre mit einem Henna-Schmetterling tätowierte Hand fährt über die Griffe, dann über den Korb an der Vorderseite. Andere Frauen stehen um sie herum und ermutigen sie, sich auf den Sattel zu schwingen. Raghad beginnt, ein wenig auf dem Gras zu hüpfen, bevor sie die Nerven verliert. "Was, wenn ich falle?", fragt sie.
Raghad ist 35 Jahre alt. Die Frau, die sie fragt, ist Rania Shaik. Rania hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Frauen von Gaza das Fahrradfahren beizubringen - und sei es nur in der relativen Privatheit eines Spielplatzes.
Als Rania zwölf Jahre alt war, kaufte sich ihr Bruder ein Fahrrad. Sie erinnert sich noch, wie aufgeregt sie war, weil sie dachte, dass sie auch damit fahren könnte. "Mein Vater sagte mir: 'Du bist jetzt eine junge Frau, und es ist nicht angebracht, dass du auf der Straße Fahrrad fährst. Was würden die Leute sagen?'"
Sie schaute sich um und sah in ihrer Nachbarschaft keine älteren Mädchen, die Fahrrad fuhren. Sie saß am Fenster und sah zu, wie ihr Bruder draußen mit seinen Freunden um die Wette fuhr.
Abschätzige Blicke
Solche sozialen Verbote üben großen Druck auf Frauen und Mädchen in Gaza aus. Es gibt viele Berufe, die sie nicht ausüben können, weil es "Männerberufe" sind. Viele Frauen dürfen nicht alleine ausgehen oder ihre eigenen Entscheidungen treffen. "Selbst wenn ich mit meinem Mann ausgehe und mit meinen Kindern spiele oder laut lache, werfen uns die Leute abschätzige Blicke zu", erzählt Rania.
Zum Glück hatte Rania ein starkes Vorbild in ihrer Mutter Sahar, einer Schneiderin, die hart arbeitete, um ihre Kinder durchzubringen. Sahar hat sich nie den von der Gesellschaft geforderten Stereotypen unterworfen. "Sie malte, reparierte zuhause die Elektrik und machte Klempnerarbeiten. Sie war wirklich ein Beispiel an Entschlossenheit", sagt Rania.
Wenn ihr Bruder nicht zu Hause war, versuchte Rania, auf dem Balkon mit seinem Fahrrad zu üben. Im Fernsehen sah sie Mädchen und Frauen in anderen Ländern, die sich in der Öffentlichkeit auf Fahrrädern fortbewegten. Sie schwor sich, dass sie eines Tages auch Fahrradfahren würde.
Heute wohnt Rania in einer gemütlichen Wohnung im fünften Stock in der Nasser-Straße. Es gibt nicht viele Möbel, und alles ist fein säuberlich zwischen den weißen und rosa Wänden untergebracht. Sie ist seit 11 Jahren mit einem Mann verheiratet, der fast immer ein Lächeln im Gesicht hat. "Er ist mein Fels", sagt Rania und schaut ihren Mann liebevoll an. "Er hat mir geholfen, jedes Hindernis zu überwinden und jede Herausforderung zu bewältigen.“
Das Leben feiern
Herausforderungen gab es in der Tat einige. Rahaf, die erste ihrer drei Töchter, erkrankte im Alter von drei Jahren an Leukämie. Rania musste ihr eigenes Leben auf Eis legen und dafür sorgen, dass Rahaf eine Behandlung erhielt.
Ihre Tochter hat nicht nur überlebt, sondern ist heute eine gesunde, starke und glückliche Zehnjährige, die einmal Innenarchitektin werden möchte. "Sie denkt sich immer neue Designs aus", sagt Rania. Ihre zweite Tochter, Hala, möchte Kinderärztin werden, um andere kranke Kinder zu retten.
Nachdem Rahaf außer Lebensgefahr war, beschloss ihre Mutter zu studieren. Ihr Mann nahm neben seiner Tätigkeit als Verwaltungsangestellter einen weiteren Job in einem Supermarkt an, damit das Geld reichte. Seine einzige Bedingung war, dass sie eine sehr gute Note erreichen sollte. Das tat sie.
Nach dem Abschluss der Grundausbildung versuchte sie, einen Job zu finden, aber das Leben in Gaza, wo die Arbeitslosenquote bei insgesamt 49 Prozent beträgt - unter jungen Frauensogar bei 92 Prozent liegt - machte das schwierig.
Rania wusste auch, dass es für sie fast unmöglich sein würde, ganztags zu arbeiten, da sie ja ihre Kinder betreuen musste. Daher nahm sie im Oktober 2020 an einem Programm einer Hilfsorganisation teil, die sich für die Stärkung von Frauen einsetzt, und absolvierte einen Kurs für Gründerinnen.
Jede Menge Hindernisse
Sie schrieb einen Business-Plan, erhielt eine Auszeichnung und Startkapital. Der Plan belebte ihren Traum vom Fahrradfahren wieder, aber jetzt wollte sie einen Raum schaffen, in dem alle Frauen Fahrradfahren können.
Doch es erwies sich als schwierig, gute Fahrräder zu finden, die auch noch erschwinglich waren. Sie wollte im April 2021 starten, aber Gaza wurde abgeriegelt, so dass nur wenige Produkte importiert werden konnten.
Am Ende kaufte sie zehn Räder, einige gebraucht, andere neu. "Jeden Tag lerne ich etwas Neues darüber, wie ein gutes Rad aussieht“, sagt sie. „Aber dann ging mir das Geld aus.“
Eines Tages kamen ihre Mutter und ihre Schwester vorbei. "Jede gab mir etwas Geld, das sie gespart hatte, damit ich kaufen konnte, was noch fehlt", erinnert sie sich. "das war nicht nur Hilfe unter Schwestern und die Unterstützung einer Mutter. Es war gelebte Frauensolidarität.“
Im April, einen Tag bevor das Projekt anlaufen sollte, geriet Rania in Panik. Neben ihrem Mann sitzend, fragte sie: "Was ist, wenn ich versage?" Er lächelte sie an und sagte: "Und was ist, wenn du Erfolg hast?"
Die Gemeinde hatte bereits zugesagt, ihr den Sportplatz zur Verfügung zu stellen. Ihre letzte große Sorge war, ob genügend Frauen mitmachen würden und ob es ihnen gefallen würde.
Denn im Jahr 2016 hatte bereits eine Gruppe von vier Frauen in Gaza-Stadt begonnen, in der Öffentlichkeit Fahrrad zu fahren. Obwohl sie von einigen gefeiert wurden, beschimpften andere sie auf der Straße, und obwohl sie eine Zeit lang weitermachten, folgten keine weiteren Frauen ihrem Beispiel.
"Glück in mein Leben gebracht“
Als Rania das Projekt in den sozialen Medien ankündigte, waren die Frauen interessiert. Einige sagten, sie hätten nicht geglaubt, dass überhaupt ein solcher Ort zum Fahrradfahren für Frauen existiere, andere sagten, sie seien begeistert, aber das bedeute nicht, dass sie kommen würden.
Wie sich herausstellte, war der Sportplatz gleich am ersten Tag voll. Frauen aller Altersgruppen und von überall her kamen, um auf Ranias Fahrrädern zu fahren. Sie verlangte einen Dollar für 30 Minuten und 1,50 Dollar für eine ganze Stunde. Bis jetzt hat sie über 200 Frauen das Radfahren beigebracht.
Junge Mädchen kamen in Gruppen und wollten um die Wette fahren, wie ihr Bruder damals mit seinen Freunden: "Ich sah sie an und erinnerte mich an mich selbst, als ich in ihrem Alter war. Ich war froh, dass ich ihnen einen Freiraum zum Spielen bieten konnte – anders als bei mir selbst, die ich diesen Freiraum nicht hatte."
Es kamen auch Frauen in ihren Fünfzigern. Eine von ihnen erzählte Rania, dass ihr Vater ihr vor 40 Jahren, als die Häuser in Gaza noch größer waren und mehr Platz um sich herum hatten, das Radfahren beigebracht hatte. Sie fragte sich, ob sie sich nach all den Jahren noch daran erinnern könne. Und siehe da: Zu ihrer Überraschung bewahrheitete sich das alte Sprichwort, dass man das Fahrradfahren nie vergisst.
Eine junge Frau dankte Rania dafür, dass sie "Glück in mein Leben gebracht hat". Und viele Frauen erzählten von ihren Träumen, ein eigenes Unternehmen aufzubauen: "Eine Frau, die gerne Schlittschuh läuft, erzählte mir, meine Erfahrung hätte sie ermutigt, daran zu glauben, dass sie eines Tages ihr eigenes Projekt für Frauen im Schlittschuhlaufen haben könnte. Vor kurzem hat sie sich mir angeschlossen und unterrichtet jetzt Mädchen im Schlittschuhlaufen."
Rania möchte weiter expandieren. Sie plant, noch mehr Fahrräder zu kaufen.
Auf dem Sportplatz schaut Raghad ihre Trainerin Rania an und wartet auf eine Antwort auf ihre Frage: "Was ist, wenn ich falle?" Rania erinnert sich an die Worte ihres Mannes und antwortet: "Aber was ist, wenn du es schaffst?"
Zunächst hat Raghad Mühe, auf das Fahrrad aufzusteigen, aber schließlich gelingt es ihr, richtig zu sitzen. Während Rania sie stützt, konzentriert sich Raghad mit großer Ernsthaftigkeit auf das Fahrradfahren, so als stünde sie vor einer schweren Prüfung.
Ihre zittrigen Beine beginnen zu strampeln. Das Fahrrad schwankt wild nach rechts und links. Nach ein paar Metern bleibt sie stehen. Aber sie gibt die Hoffnung nicht auf.
Sie fährt zurück, und nach mehreren Versuchen - und viel Ermutigung durch die Umstehenden - macht sie mehr Boden gut. Auf ein zunächst breites Grinsen folgt ein Kichern. Sie sieht Rania an und sagt: "Oh Gott! Ich habe es geschafft. Ich habe es geschafft!"
Raghad wird später sagen, dass die Frauen angesichts der vielen Schwierigkeiten, mit denen sie im Alltag zu kämpfen haben, einen Ort wie diesen brauchen, um Stress abzubauen. "Wenn man Glück hat und Geld hat, kann man in ein Restaurant gehen. Wenn du willst, kannst du ans Meer gehen. Frauen wollen Räume, in denen sie sich wohlfühlen, wo sie frei und aktiv sein können.“
In diesem Moment sieht sie Rania jedoch nur mit einem strahlenden Lächeln an. "Wir haben es geschafft", sagt Rania. "Die Frauen von Gaza haben es geschafft."
Ziad Ali
© ifa | Institut für Auslandsbeziehungen
Dieser Artikel ist zunächst in der gedruckten Ausgabe der Frankfurter Rundschau erschienen.