Der lange Weg der Emanzipation
Kein Handschlag vom Imam, kein Respekt vor Frauen in Uniform, dafür freche Sprüche von Macho-Schülern. Deutsche Frauen – Politikerinnen, Polizistinnen, Lehrerinnen – haben es nicht leicht mit dem Islam. Der Eindruck jedenfalls entsteht, verfolgt man das aktuelle "Islam-Bashing" in manchen Medien. Angesichts steigender Flüchtlingszahlen fühlt sich die eine oder andere dazu berufen, ihrer gewachsenen Sorge vor Islamisierung oder ihrer Verärgerung über frauenverachtende Muslime öffentlich Ausdruck zu verleihen.
Eine dieser Frauen schreibt ein Buch und lässt die Welt an ihren auf Streife gesammelten Erfahrungen mit "straffälligen Personen mit Migrationshintergrund, vor allem jungen Männern aus muslimisch geprägten Ländern" teilhaben. Deutschland im Blaulicht – Notruf einer Polizistin, lautet so ein Buchtitel, der die angestauten Vorurteile einer Bochumer Streifenpolizistin (Tania Kambouri) birgt. Eine andere Frau zieht aus ihrer Schmähung durch den Imam, der ihr die Hand verweigerte, gleich politische Konsequenzen: "Deshalb müssen Burka und Niqab verboten werden", forderte CDU-Frau Julia Klöckner in der aktuellen Cicero-Ausgabe, aus der sicheren rheinland-pfälzischen Opposition ihrer wertkonservativen Partei heraus. Ein Verbot für Frauen, um den Imam zu erziehen?
Woher kommt die Wut der Frauen?
Klar ist für die Politikerin wie für die Streifenpolizistin, dass "patriarchale Macht und die Lust an der Unterdrückung" aus "archaischen Kreisen muslimisch geprägter Migranten" kommen, wie in Kambouris Buch zu lesen ist. In den 1990er Jahren hätte man hier wohl einfach "von Ausländern" gesprochen.
Woher kommt diese Wut der Frauen? Und trifft sie überhaupt die Richtigen oder den richtigen Sachverhalt? Das heißt, lassen sich eine Religion wie der Islam und eine gesellschaftliche Gruppe wie Muslime auf ein Weltbild reduzieren, das sie kollektiv als frauenfeindlich brandmarkt und einer offenen, emanzipierten und toleranten "deutschen Gesellschaft" als das Andere gegenüber stellt? Offensichtlich schon. Doch muss man dabei sowohl historische als auch soziale Faktoren ausblenden und sich auf diese Weise ganz gezielt die eigene vereinfachende und fälschliche Sicht der Dinge bewahren.
Zum Beispiel die Tatsache, dass über einen langen Zeitraum hinweg nur ganz bestimmte Gruppen nach Deutschland eingewandert sind. Religiös waren diese Einwanderer ziemlich heterogen, in der regel aber nicht, was ihre soziale Herkunft und die Umstände anbelangt, wie sie nach Deutschland kamen.
Wirft man nämlich einen Blick auf die jüngere Geschichte der Migration, bekommt man den Eindruck, dass der deutschen Einwanderungspolitik seit den 1960er Jahren selbst ein ziemlich konservatives Rollenverständnis zugrunde lag. Beispielsweise wurden bei der "Gastarbeiter"-Anwerbung ausschließlich männliche Landarbeiter für Fabriken gewonnen, die später ihre Frauen und Kinder nach Deutschland holen durften.
Diese Arbeiter kamen überwiegend aus ruralen Regionen der Türkei, Italiens oder Portugals und nicht etwa aus kosmopolitischen, modernen Großstädten, in denen hochgebildete Menschen zu Hause waren. Diese wären ohnehin wohl viel teurer und überqualifiziert gewesen.
Damals mag man sich darüber keine großen Gedanken gemacht haben, aus heutiger Perspektive aber sollte man sich schon fragen, ob das traditionelle Familienmuster von Arbeitsmigranten und ihren Nachfahren vielleicht eher ein Schlaglicht auf die gegenwärtige Integrationsproblematik wirft – und daher nicht nur für Muslime oder Türken gilt, sondern genauso für Italiener oder Christen jener Zeit. Die soziale Herkunft – Stadt oder Land, gebildet oder ungebildet – spielt also eine viel größere Rolle hinsichtlich der Beurteilung patriarchaler Strukturen.
Das Heimchen am Herd
Frauen für die schwere Fließband- und Akkordarbeit in der Industrie anzuwerben, wäre damals für die Bundesrepublik unvorstellbar gewesen. Und das ist es bis heute, wie das Beispiel von Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion zeigt. Aufgrund des Arbeitskräftemangels durch die Kriegswirren des 20. Jahrhunderts und aus ideologischen Gründen nahmen sie etwa in der UdSSR die klassischen Männerberufe wahr: als Straßen-, Schienen- und Eisenbahnbauerinnen, in der Schwerindustrie, im Maschinenbau oder als Bus- und Traktorfahrerinnen.
Nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft kamen viele von ihnen auf der Suche nach Arbeit in die Bundesrepublik. Und was mussten sie dort vernehmen? Dass ihre Berufe in Deutschland traditionell ausschließlich Männern vorbehalten seien und deshalb keine Frauen eingestellt werden könnten. Auch noch in den späten 1990er Jahren galt hierzulande der Mann als Ernährer der Familie. Die Studie "Russlanddeutsche in der Bundesrepublik Deutschland" (2014) von Petra Ferdinand-Sorb zeigt beispielsweise auf, wie Frauen in die Rolle der Hausfrau und Vollzeitmutter gedrängt wurden.
Wenn also heute russlanddeutschen Männern vorgeworfen wird, sie würden ein traditionell patriarchales, "archaisches" Familienbild vertreten, was in manchen Fällen sicherlich nicht unbegründet ist, muss man sich dann nicht aber auch fragen, ob solche Strukturen nicht stillschweigend in Kauf genommen wurden, weil sie dem damaligen gesellschaftlichen Bild und der deutschen Arbeitsmarktpolitik entsprachen? Über russlanddeutsche Machos wird hierzulande jedoch wenig öffentlich gesprochen. Ob das daran liegt, dass sie nicht ins kulturelle und religiöse Raster und damit in die gegenwärtige Islamdebatte passen?
Religiöse Vielfalt
Frauen werden nicht "vom Islam" unterdrückt, sondern in erster Linie von Männern. Oder von anderen Frauen. "Den Islam" gibt es ohnehin nicht, wie immer wieder versucht wird zu differenzieren, sobald sich die Debatte festgefahren hat. Vielmehr haben die Menschen, die pauschal als Muslime bezeichnet werden, die unterschiedlichsten sozialen, politischen und religiösen Hintergründe: Aus der Türkei, Bosnien, Albanien, Kosovo, Iran, Marokko, Afghanistan, Libanon, Pakistan, Syrien, Deutschland kommen sie, ihre Vorfahren waren Sunniten, Aleviten, Schiiten, Alawiten, Ahmadiyya-Anhänger, Sufis, Ismailiten, Zaiditen, Ibaditen – von extrem fromm bis extrem säkular reicht das Spektrum ihrer Überzeugungen.
Sie spiegeln die Vielfalt wider, mit der in Deutschland Kultur und Religion gelebt und praktiziert werden. Diese Einsicht ist eigentlich recht simpel. Auch lässt sich umgekehrt das frauenverachtende Verhalten von manch säkularem Bauarbeiter oder Vorstandsvorsitzenden, nachweisbar deutsch in der 20. Generation, schlecht auf den Islam zurückführen.
Der Debatte würde ein etwas differenzierteres Bild von Islam, Migranten und nicht zuletzt Deutschen und ihren "Grundwerten" gut tun. Denn es scheint schon einiges durcheinander zu gehen, wenn sich Frauen gegen Männer zur Wehr setzen, indem sie Verbote für andere Frauen fordern. Wie etwa ein Burka-Verbot einen Imam dazu bewegen könnte, einer CDU-Politikerin beim nächsten Besuch die Hand zu schütteln, lassen viele islamkritische Publikationen offen.
Dass ausgerechnet Frauen mit sehr konservativen Einstellungen sich der Emanzipation von Musliminnen verschreiben, etwa die ehemalige deutsche Weinkönigin Julia Klöckner, stimmt zusätzlich nachdenklich. Setzt die CDU nicht selbst auf ein ziemlich archaisches Rollenverständnis, etwa wenn es um die sogenannte "Herdprämie" geht? Oder würde man in diesem Zusammenhang lediglich von "Wertkonservatismus" sprechen, einfach aufgrund des "christlichen Kontexts"?
Vielleicht begründet der Imam sein Handeln sogar selbst mit dem Islam. Das tun islamische Feministinnen aber auch. Oder politische Aktivisten, wie etwa Farid Esack, der sich einst gegen die Apartheid einsetzte. Der islamische Theologe aus Südafrika sagte während seines jüngsten Vortrags in Berlin: "Vielleicht gibt es ja so viele 'Islame', wie es Muslime gibt."
Susanne Kaiser
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