Die Macht der Begriffe
Wo Apartheid draufsteht, da muss Antisemitismus drin sein. So zumindest sehen es Kritiker eines Berichts, den Amnesty International vor wenigen Tagen vorgelegt hat. In dem 278 Seiten starken Text dokumentiert Amnesty die systematische Diskriminierung, denen die palästinensische Bevölkerung ausgesetzt ist. Das Verdikt von Amnesty: Israel mache sich der Apartheid schuldig.
Die israelische Regierung wies den Bericht als antisemitisch zurück. Und auch das Auswärtige Amt (AA) macht sich den Bericht nicht zu eigen. Zwar argumentiert man in Berlin nicht, dass der Bericht per se antisemitisch sei. Aber "Begriffe wie Apartheid ebenso wie eine einseitige Fokussierung auf Israel” lehne man ab, so der Sprecher des AA, Christofer Burger.
Das Amt bringt den Bericht in einen Zusammenhang mit dem wachsenden Antisemitismus in Europa. Wer sich für Menschenrechte einsetzt, so Burger, trüge Verantwortung dafür, diesem Antisemitismus "nicht unfreiwillig Vorschub zu leisten“. Die Deutsch-Israelische Gesellschaft ging wie üblich zwei Schritte weiter und forderte Amnesty zur Rückgabe des Friedensnobelpreises auf.
Die Entgegnung auf den Apartheid-Vorwurf mit dem Antisemitismusvorwurf führt dazu, dass es um die Sache selbst gar nicht mehr geht. Wer bereits weiß, dass das A-Wort antisemitisch ist, der muss sich gar nicht erst mit der ganz realen Leidsituation palästinensischer Menschen befassen. Sinnfällig wird das zum Beispiel in den Tweets der Amadeu-Antonio-Stiftung, die den Bericht von Amnesty als antisemitische Attacke gegen Israel wertet und die Zustände, die der Bericht beschreibt, mit keinem Wort erwähnt.
Genauso offensichtlich wird das in den Kolumnen von Sascha Lobo, für den Amnesty International nun eine "antisemitische Organisation“ ist - ohne dass er auch nur einen Satz aus dem Bericht zitiert.
"Apartheid ist dazu da, um überwunden zu werden“
Was für die eine Seite gilt, gilt aber genauso für die andere. Wer Israel mit dem Bannwort "Apartheid“ belegt, verschließt sich der lebhaften, komplexen israelischen Zivilgesellschaft. Mit Menschen, die Apartheid betreiben, redet man nicht. Man muss also schon recht weit links im israelischen Spektrum stehen, um den Bericht zu unterschreiben - gerade auch, weil Amnesty die Unterscheidung zwischen den besetzten Gebieten und Israel in seinen Grenzen von 1948 aufhebt.
Wer Israel der Apartheid bezichtigt, provoziert nicht nur – er macht aus dem Staat einen Paria. Apartheid ist dazu da, um überwunden zu werden, wie die Nahostkorrespondentin der ZEIT, Leah Frehse, denn auch treffend feststellt.
Dass auch Israelis, die die Besatzungspolitik ablehnen, aber auf ihren Staat nicht verzichten wollen, den Bericht von Amnesty International ablehnen, ist demnach nicht überraschend. Denn wer würde schon wissentlich in einem Apartheidstaat leben und von ihm profitieren wollen?
Der Streit um die Namen, die man den Fakten gibt, ersetzt die Diskussion der Fakten selbst – gerade in Deutschland. Dabei ist auch der Bericht von Amnesty vor allem eine Beschreibung bekannter Zustände: verschiedene Rechtssysteme für Israelis und unter Besatzung lebender Palästinenser, militärische Gewalt, die Abriegelung des Gazastreifens.
Dass kritischen Beobachtern für eine solche politische Struktur das Schlagwort Apartheid einfällt, sollte nicht unbedingt überraschen. Ob das gerechtfertigt ist oder nicht, ist eine eigentlich eine müßige Frage, die von der wichtigeren Frage ablenkt: Wie könnte man die Lage vor Ort konkret verbessern? Denn dass diese Lage untragbar ist, darauf sollten sich auch die deutschen Kritiker von Amnesty einigen können.
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Daniel Marwecki ist Politikwissenschaftler und Historiker. Aktuell arbeitet er an der University of Hong Kong. Er hat an der SOAS University of London promoviert und zuvor in Jerusalem gearbeitet. Sein Buch “Germany and Israel. White Washing and State Building“ über die Geschichte der deutsch-israelischen Beziehungen ist 2020 bei Hurst Publishers erschienen.