Wo fängt Antisemitismus an?
Fragt man Amos Goldberg, warum die viel zitierte "Arbeitsdefinition von Antisemitismus" der International Holocaust Remembrance Alliance, kurz IHRA, nicht ausreiche, um Judenhass zu bekämpfen, dann wird der Professor für Jüdische Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem emotional: "Sie ist zu einem Werkzeug geworden, um jegliche Form von wesentlicher Kritik an israelischer Politik mundtot zu machen und das Recht auf freie Meinungsäußerung einzuschränken", sagt er im Interview. Die IHRA ist eine zwischenstaatliche Einrichtung, der 34 Länder angehören, darunter auch Deutschland. Dabei gehe es weniger um die Definition selbst als um die Beispiele, die dieser angefügt seien.
Also haben Goldberg und einige Mitstreiter vor einigen Wochen eine neue Definition formuliert, die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (kurz: JDA). "Im Wissen um die Verfolgung von Jüd:innen im Laufe der Geschichte und die universellen Lehren aus dem Holocaust und angesichts des besorgniserregenden Wiedererstarkens von Antisemitismus durch Gruppierungen, die Hass und Gewalt in Politik, Gesellschaft und im Internet mobilisieren", so heißt es gleich zu Beginn, solle die JDA "eine anwendbare, prägnante und historisch fundierte Kerndefinition von Antisemitismus" sein, "mit einer Reihe von Leitlinien für die Benutzung". Denn die Gefahr des Antisemitismus, das zu betonen ist Goldberg wichtig, sei real.
Zugleich ist die JDA eindeutig in Abgrenzung zur IHRA-Definition formuliert. Sie will nicht nur dabei helfen, Antisemitismus in seiner aktuellen Form frühzeitig zu erkennen und zu bekämpfen, sondern auch definieren, wann dieser Vorwurf zu weit geht.
Das ist einer der Gründe, warum wiederum Jonathan Rynhold von der Bar Ilan Universität in der Nähe von Tel Aviv die neue Definition ablehnt. "Die JDA ist ein Schritt rückwärts", sagt er im Gespräch, "sie erklärt lieber, was kein Antisemitismus ist, anstatt Menschen dabei zu helfen zu verstehen, was Antisemitismus heute ist. Damit öffnet sie einer neuen Form von Antisemitismus das Tor, denn dieser konzentriert sich nun einmal eher auf Israel als auf Juden per se." Seiner Auffassung nach ist die Tatsache, dass sich von elf Beispielen, die die IHRA-Definition anführt, insgesamt sieben auf Israel beziehen, nur folgerichtig.
Wann ist Kritik an Israel Antisemitismus?
So heißt es in der IHRA-Definition unter anderem, antisemitisch sei, "das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen." Außerdem sei "die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird," antisemitisch.
Holocaustforscher Goldberg dagegen kritisiert die IHRA-Definition – und führt unter anderem das Beispiel der gerade vergangenen Eskalation zwischen Israel und Palästinensern an, die in eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Israel und der Hamas mündete. "Alles begann im palästinensischen Viertel Sheikh Jarrah in Jerusalem. Palästinensische Familien werden aufgrund eines Gesetzes aus ihren Häusern geworfen, das es jüdischen Familien erlaubt, ihren Besitz vor 1948 zurückzufordern, während es genau denselben Sachverhalt für Araber ausschließt", erklärt Goldberg und fragt: "Ist es antisemitisch, solch ein Rechtssystem Apartheid zu nennen? Es als rassistisch zu bezeichnen? Dagegen in harschen Worten zu protestieren? Oder ist dies die ungemütliche Wahrheit, gegen die zu demonstrieren nur legitim oder sogar eine Pflicht ist?"
Israelische Menschenrechtsorganisationen wie die NGO B'Tselem würden auf der Basis solcher IHRA-Beispiele von rechten Thinktanks wie NGO Monitor als antisemitisch gebrandmarkt, weil sie den Begriff "Apartheidregime" für Israel verwenden.
"Wir sollten unterscheiden zwischen harschen Worten gegenüber jüdischen Individuen und Gemeinden, die eine verletzliche Minderheit darstellen, und harschen Worten gegen staatliche Gewalt, die von einer nuklearen Supermacht und einem illegitimen Besatzer ausgeübt wird." Israel, so Goldberg, müsse ebenso wie jeder andere mächtige Staat der Welt für Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.
"Man darf über jedes Land sagen, dass es rassistisch ist – außer über Israel. Das ist ein doppelter Standard! Kein anderes Land der Welt wird von einer derartigen Firewall beschützt, die jegliche substanzielle Kritik verhindert, wie Israel."
"Natürlich kann man die israelische Politik kritisieren, ohne dabei antisemitisch zu sein", entgegnet Rynhold. "Aber wenn man sagt, dass es nur eine nationale Bewegung auf der Welt gibt, die illegitim und rassistisch ist – nämlich den Zionismus – dann dämonisiert man den Staat Israel."
Nach Einschätzung von Rynhold hat die vergangene Eskalation zwischen Israel und der Hamas Antisemiten dazu ermutigt, auf die Straßen zu gehen und unter dem Vorwand des Krieges beispielsweise in vorwiegend jüdischen Vierteln von London zu demonstrieren.
"Ich würde diese Demonstrationen nicht als 'pro-palästinensisch' bezeichnen", sagt er. "Ich nenne sie antizionistisch und antijüdisch. Wenn es darum geht, dass Muslime andere Muslime töten so wie in Syrien, dann gehen diese Menschen nicht auf die Straße. Sie werden wütend, wenn es um Juden und Israel geht."
Auch in Deutschland hat die Eskalation der Gewalt im Nahost-Konflikt antiisraelische Demonstrationen in der Nähe jüdischer Einrichtungen ausgelöst. Agenturberichten zufolge wurden etwa in Münster und Gelsenkirchen israelische Flaggen verbrannt und antisemitische Parolen gerufen.
Die IHRA-Definition ist bereits international anerkannt und wird unter anderem vom US-Außenministerium regelmäßig zu politischen Entscheidungen herangezogen. Die linke jüdische Lobbyorganisation J-Street hingegen hat nun die JDA angenommen, ebenso einige US-amerikanische Universitäten. Die Initiatoren der JDA hoffen, dass sie eine differenziertere Alternative bietet, um Antisemitismus zu bekämpfen.
Wer steht hinter der Jerusalemer Erklärung?
Rund 300 international renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Holocaustforschung, Judaistik und Antisemitismusforschung haben die neue JDA inzwischen unterschrieben. Neben etlichen namhaften Professoren von israelischen Universitäten wie der Soziologin Eva Illouz stehen auch die Namen deutscher Akademiker wie der Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann oder des Antisemitismusforschers Wolfgang Benz.
Viele von ihnen hatten bereits zuvor öffentlich beklagt, dass eine akademische und intellektuelle Auseinandersetzung über den israelisch-palästinensischen Konflikt nicht mehr möglich sei. Kritisiert hatten sie unter anderem politische Entscheidungen wie den Beschluss des Deutschen Bundestags vom Mai 2019 zur sogenannten BDS-Bewegung (kurz für "Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen").
Seit diesem Beschluss dürfen keine Organisationen in Deutschland mehr unterstützt werden, "die das Existenzrecht Israels infrage stellen". "Projekte, die zum Boykott aufrufen oder die BDS-Bewegung unterstützen", dürfen "nicht finanziell gefördert werden". In der Folge dieses Beschlusses gerieten Veranstaltungen wie die staatliche finanzierte Ruhrtriennale unter Beschuss, bei der 2020 der kamerunische Historiker Achille Mbembe die Eröffnungsrede halten sollte. Er gilt als Unterstützer der BDS-Bewegung. Wegen der Covid-19-Pandemie musste die Ruhrtriennale schließlich ausfallen.
In der Jerusalemer Erklärung heißt es ausdrücklich, man habe ganz unterschiedliche Meinungen zur BDS-Bewegung, viele der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner lehnten diese ab. Sie jedoch per se als antisemitisch zu deklarieren, sei falsch.
Kampf gegen alle Formen von Rassismus
Der Politikwissenschaftler Rynhold verweist darauf, dass auch die IHRA die BDS-Bewegung an keiner Stelle als antisemitisch definiere. Schaue man sich jedoch jene an, die im Zentrum der Bewegung stünden, so zeige sich deutlich, dass sie antisemitische Stereotype wie das vom "blutrünstigen Juden" bedienen würden.
Und nicht jeder, der selbst glaube, kein Antisemit zu sein, sei tatsächlich keiner. "Fragt man einen Polizisten, der ausschließlich schwarze Kriminelle verhaftet, nach seinen Motiven, so mag er antworten, er sei kein Rassist. De facto ist sein Handeln aber rassistisch."
Goldberg hingegen meint, die von ihm kritisierte IHRA-Definition lenke vom eigentlichen Problem des Antisemitismus ab. Er leugne nicht, dass es auch Antisemitismus bei der Linken gebe und Kritik an Israel teilweise antisemitisch sein könne. "Es gibt viele palästinensische Organisationen, die alles tun, um das zu vermeiden. Wir sollten ihre Bemühungen fördern", meint er. Die weitaus größere Gefahr für jüdische Institutionen, Gemeinden und Individuen, für jüdisches Leben, gehe von der radikalen Rechten aus.
"Antisemitismus hat spezifische Charakteristika, aber ihn zu überwinden ist dennoch ein Teil des größeren Kampfes gegen Intoleranz, Rassismus und Islamophobie", meint Goldberg.
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