Ein Modernist verteidigt die Theokratie
Von Zeit zu Zeit bricht der marokkanische Denker Abdallah Laroui gerne einmal sein Schweigen und wirft einen Stein in den stillen See des arabischen Geisteslebens. Was er dann sagt, bewirkt oft überwiegend Verwunderung – denn echte Debatten haben es in der arabischen Welt schwer.
In einem Interview mit der marokkanischen Zeitung "Al-Masaa" verteidigte Laroui kürzlich die Theokratie mit dem Argument, die Versuche, ein demokratisches System zu verankern, seien in der arabischen Welt gescheitert. Laroui führt in dem Interview an, eine Koexistenz zwischen einem religiösen Staat und einem zivilen Staat sei möglich.
Laroui wird wie folgt zitiert: "Die aktuelle arabische und internationale Situation bringt es mit sich, dass wir uns einer heiklen Frage stellen müssen, die noch vor kurzer Zeit überspitzt gewirkt hätte, nämlich der nach Demokratie und Theokratie oder, islamisch formuliert: der Frage nach einem gerechten Scharia-Staat".
Vereinbarkeit von Demokratie und Theokratie
Die Frage nach der Vereinbarkeit von zwei so widersprüchlichen Konzepten wie Demokratie und Theokratie beantwortet er selbst wie folgt: "Politikwissenschaftler befassen sich zumindest indirekt damit, die Analysten aber lieber gar nicht, weil sie sie für unvereinbar mit den Erkenntnissen moderner Wissenschaft halten. Aber heute stellt sich heraus, dass eine solche Koexistenz möglich ist. Diese neue Problematik ergibt sich aus dem Scheitern des Kommunismus und der kapitalistischen Globalisierung".
Es ist nicht das erste Mal, dass Laroui, der Verfechter von Modernität und Säkularismus, eine solche Vereinbarkeit von Zivilstaatlichkeit in Form von Demokratie und religiöser Herrschaft in Gestalt von Theokratie hochhält. Er hat diesen Gedanken in Bezug auf Marokko schon im Jahr 2012 im Gespräch mit der marokkanischen Zeitschrift "Zaman" dargelegt.
Damals sprach er von seiner Vorstellung von einer "echten konstitutionellen Monarchie, die Modernität schützt und konservativen Kräften entgegentritt" und in der der König in seiner Eigenschaft als "Herrscher über die Gläubigen", wie die marokkanische Verfassung sie vorsieht, der Sachwalter religiöser Angelegenheiten sei. Für den Autor des Buches Die zeitgenössische arabische Ideologie (1970) ist "allein der König in der Lage, religiöse Fragen zu regeln".
Die Ursache für diesen gewandelten Standpunkt von Laroui, der stets ein Verfechter von Modernität und Rationalismus war, ist darin zu suchen, dass der Begriff der Demokratie, wie er selbst ihn definiert: "Herrschaft des Volkes durch das Volk und für das Volk", Bedingungen voraussetzt, die in der Realität "entweder gegeben sind oder nicht", oder, wie Laroui ausführt, "die möglicherweise einmal da sind, aber dann wieder nicht, so dass die Demokratie sich in destruktive Demagogie verwandelt, worauf viele große Theoretiker hingewiesen haben. Wer sagt, der einzige und ewige Souverän sei das Volk, der darf sich nicht wundern, dass daraus Populismus entsteht, wenn die Mehrheit sich passiv verhält und sich Bittstellerei angewöhnt hat". Deshalb, so Laroui, bestehe das Patentrezept darin, dass Demokratie und Theokratie zusammenkämen.
Fehlende Debatte zu den großen Fragen
Dass ein bekanntermaßen rationalistischer und kritischer arabischer Denker die Theokratie verteidigt, hat gleichwohl nur wenig Beachtung gefunden. Das ist ein Beleg dafür, dass eine Debatte zu grundlegenden Fragen in Gesellschaften, deren Eliten entfremdet sind und wo das Denken im Formellen und Verdinglichten erstarrt ist, nicht stattfindet.
Die Theokratie als Herrschaftsform legitimiert sich bekanntlich über religiöse Texte und fand in Europa mit der Aufklärung ihr Ende. Entsprechend negativ besetzt war sie dort bei den großen Vordenkern der Aufklärung.
Zudem gab es den Begriff des "gerechten Scharia-Staates" in der islamischen Geschichte nie. Die Legitimität des traditionellen islamischen Staates war immer davon abhängig, in welchem Maße dieser das religiöse Gesetz anwandte. Und da es um diese Anwendung zwischen Anhängern und Kritikern immer große Debatten und Streit gab, blieb auch die Legitimität des Staates umstritten.
Religionsstaat und Gerechtigkeit zu einem Wortpaar zu vereinen, gehörte lediglich zu den utopischen Träumen islamischer Denker, die für die Idee von einem "gerechten Tyrannen" eintraten und sagten: "Möge al-Hajjaj regieren, während wir Omar preisen" (in Bezug auf die Gewaltherrschaft des al-Hajjaj und die als gerecht geltende Regentschaft des Kalifen Omar). Doch damit legitimierten sie nur die Tyrannei eines al-Hajjaj, ohne die Gerechtigkeit eines Omar zu erlangen.
Rückkehr des Sakralen als Antwort auf die Arabellion?
Was also bringt einen modernen Denker wie Laroui dazu, sich solch veralteter Konzepte zu bedienen, um aktuelle Fragen nach der richtigen Regierungsform zu beantworten? Ist es mit der Rückkehr des Sakralen in das politische Leben zu erklären, die die arabische Welt im Gefolge der Umwälzungen des Arabischen Frühlings heute auf so heftige Weise erlebt und deren Auswirkungen weltweit zu spüren sind?
Die Antwort auf solche Fragen kennt wohl nur Laroui selbst. Doch was dem Leser klar sein sollte, ist, dass das geistige Projekt des altehrwürdigen Denkers Laroui in jeder Hinsicht ein reformerisches ist. Es ist eine Kritik an veralteter Bildung und selektivem Denken und eine Verteidigung des liberalen Säkularismus als Weg zur Moderne. Dafür war der Reformer Laroui jedoch auch immer bereit, Zugeständnisse zu machen, und auch in oben genanntem Interview gesteht er: "Die Ehrlichkeit gebietet mir meist, den Entscheidungsträgern zuzustimmen, auch wenn ich weiß, dass man von jemandem wie mir erwartet, dagegen zu sein."
Zudem räumt Laroui in dem Interview ein, dass "veraltete Vorstellungen in uns den Keim der Verzagtheit und eine destruktive Neigung angelegt haben", und es scheint, dass ein Stück dieser Verzagtheit auch auf den Theoretiker der arabischen Moderne selbst übergegangen ist. Gleichwohl beschließt er das Gespräch mit ein wenig Optimismus, indem er – ein wenig im Widerspruch dazu, alte Konzepte anzuwenden – sagt: "Unser Komplex besteht darin, dass wir mehr memorieren als nachdenken und uns somit mehr mit der Vergangenheit beschäftigen als mit der Gegenwart und der Zukunft. Ein Optimist könnte behaupten, dass das, was heute mit so schrecklicher Gewalt zerstört wird, uns zumindest von den Fesseln einer glanzlosen Vergangenheit befreit."
Paradoxerweise ist dies aber genau jene Vergangenheit, die Laroui nun ins Feld führt, um Probleme der Gegenwart und der Zukunft zu lösen.
Ali Anouzla
© Qantara.de 2015
Aus dem Arabischen von Günther Orth